Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Bomben vom Bewährungshelfer

Hintergrund: Der Krieg der NATO gegen Libyen hat eine zehnjährige Normalisierung der Beziehungen zwischen dem Westen und Tripolis ohne erkennbare Gründe zerstört

Von Knut Mellenthin *

Ist Friedensnobelpreisträger Barack Obama fast so schlimm wie George W. Bush? Oder ist er genauso übel? Die Antwort wird immer deutlicher und eindeutiger: Der amtierende Präsident der USA ist, was die Aggressivität seiner Außenpolitik angeht, noch brutaler als sein Vorgänger.

Erstens: Falls die amerikanischen Streitkräfte– derzeit sind es immer noch 50000 Soldaten– wirklich zum Jahresende aus dem Irak abgezogen werden, hätte Obama lediglich ein Abkommen buchstabengetreu eingehalten, das von der Bush-Administration in den letzten Monaten ihrer Amtszeit ausgehandelt und unterzeichnet wurde. Indessen setzen die Leute des Präsidenten, allen voran sein Verteidigungsminister Robert Gates, alles daran, um die Regierung in Bagdad zu einer längeren, praktisch zeitlich unbegrenzten Duldung amerikanischer Truppen und Militärstützpunkte zu erpressen.

Zweitens: Die Erzwingung eines Sieges über die afghanischen Aufständischen hatte der jetzige US-Präsident schon im Wahlkampf so offen und lautstark zu seinem zentralen Anliegen erklärt, daß die amerikanischen Mainstreammedien seit seinem Amtsantritt im Januar 2009 durchweg von »Obama’s war« sprechen. Im Vergleich zu seinem Vorgänger hat er die Zahl der dort stationierten US-Soldaten verdoppelt. Er wird sie in absehbarer Zeit schon deshalb nicht abziehen, weil er Afghanistan als Hinterland für seine aggressiven Pläne gegen Pakistan und den Iran benötigt. Das eine grenzt im Osten, das andere im Westen an das Land am Hindukusch. Da Obama – wie übrigens auch die deutsche Bundesregierung – ausschließlich mit Taliban sprechen will, die zuvor ihre militärische und politische Kapitulation erklärt haben, kann auch die angebliche Tötung bin Ladens kein besseres Klima für Verhandlungen schaffen.

»Keine ewigen Feinde«

Drittens: Obama hat die Beziehungen der USA zu Pakistan, das unter Bush noch als »strategischer Verbündeter« galt und mit Resten von Rücksicht behandelt wurde, drastisch verschlechtert. Heftige Vorwürfe an die pakistanische Adresse, mit den afghanischen Aufständischen und Al-Qaida zusammenzuarbeiten, sind an der Tagesordnung. In kaum einem anderen Land der Welt ist die amerikanische Politik bei der Bevölkerung so verhaßt wie in Pakistan. In noch nicht einmal zweieinhalb Jahren hat Obama mehr als dreimal so viele Drohnenangriffe gegen pakistanische »Ziele« fliegen lassen wie Bush in den gesamten acht Jahren seiner Amtszeit. Die überwiegende Mehrheit der Opfer sind einfache Stammeskrieger und ihre Familienangehörigen: Frauen, Kinder und Alte. Die pakistanische Souveränität wird permanent mißachtet, ohne daß darüber überhaupt noch gesprochen wird. Daß der US-Präsident dort einen unerklärten Krieg führen läßt, war für den Kongreß bis heute kein Diskussionsthema.

Viertens: George W. Bush hatte das äußerst angespannte Verhältnis zu Libyen seit 2001 auf den für beide Seiten schwierigen Weg einer schrittweisen Normalisierung gebracht. Ergebnisse waren unter anderem die Wiederaufnahme der 1981 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen, die Streichung Libyens von der Liste der terrorunterstützenden Staaten und schließlich der Austausch von Botschaftern. Als erster Außenminister der USA seit 1953 flog Condoleezza Rice im September 2008 in die libysche Hauptstadt und schreckte sogar vor einem über zwei Stunden langen Treffen mit Muammar Al-Ghaddafi nicht zurück. Sie sprach von einem »historischen Moment«, mit dem sie selbst niemals gerechnet habe, von einer »neuen Phase« in den Beziehungen und lobte »die von Libyen getroffene Entscheidung, auf Massenvernichtungswaffen zu verzichten und dem Terrorismus abzuschwören«.

Obama brauchte nicht viel länger als zwei Jahre, um ohne einen auch nur halbwegs plausiblen Grund diese Entwicklung von einem Tag auf den anderen abzuwürgen und militärische Mittel gegen Libyen in einem Ausmaß einzusetzen, wie es nicht einmal Ronald Reagan auf dem Tiefpunkt der Beziehungen in den 1980er Jahren getan hatte.

Aber die Konsequenzen von Obamas Schritt sind noch weitreichender: Die politische und wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Normalisierung zwischen den USA und Libyen war in den vergangenen zehn Jahren regelmäßig als Beispiel dafür gepriesen worden, daß auch sogenannte Schurkenstaaten in Gnaden wieder aufgenommen werden können, sobald sie bereit sind, ihre Politik zu ändern. Die USA habe »keinerlei ewige Feinde«, beteuerte Rice bei ihrem Besuch in Tripolis. Libyen sei »ein wichtiges Modell, wenn Nationen rund um die Welt darauf drängen, daß die Regimes des Iran und Nordkoreas ihr Verhalten ändern«, hatte die Außenministerin schon bei der Aufnahme voller diplomatischer Beziehungen im Mai 2006 gesagt.

Nach Obamas Verrat aus heiterem Himmel dürfte es künftig nahezu unmöglich sein, diese Verlockungen noch irgendjemandem zu verkaufen, der bei Verstand ist. Das gilt übrigens auch für die afghanischen Aufständischen.

Konflikte und Provokationen

Der 1951 gegründete Staat Libyen war unter seinem ersten und einzigen König Idris ein zuverlässiger Bestandteil des von den USA dominierten globalen Netzwerks gewesen. An der 1959 beginnenden Ausbeutung der libyschen Erdölvorkommen hatten amerikanische Konzerne einen großen Anteil. Die Situation veränderte sich jedoch radikal, nachdem junge Offiziere unter Führung Ghaddafis am 1. September 1969 den König in einem unblutigen Staatsstreich stürzten. Die neuen Machthaber kündigten den USA ihren Luftwaffenstützpunkt Wheelus bei Tripolis, verstaatlichten die Ressourcen des Landes und näherten sich außenpolitisch der Sowjetunion an. 1972 berief Washington seinen Botschafter ab und holte 1979 das gesamte diplomatische Personal nach Hause, nachdem das Gebäude der US-Vertretung im Verlauf einer heftigen Demonstration in Brand gesetzt worden war. Im selben Jahr wurde Libyen auf die gerade eben eingeführte Liste der »staatlichen Unterstützer des Terrorismus« gesetzt, zusammen mit Irak, Südjemen und Syrien. Im Mai 1981 schloß die US-Regierung die libysche Botschaft in Washington, was praktisch das Ende der diplomatischen Beziehungen für die nächsten 25 Jahre markierte.

Am 20. Januar 1981 war Ronald Reagan Herr des Weißen Hauses geworden. Er steigerte die unter seinem Vorgänger Jimmy Carter begonnene militärische und finanzielle Unterstützung der afghanischen Mudschahedin massiv, führte einen unerklärten Krieg gegen das von den Sandinisten regierte Nicaragua und leitete eine neue Runde des atomaren Wett- und Totrüstens gegen die Sowjetunion ein, das deren Zusammenbruch beschleunigte. Zu seinen Maßnahmen gehörten neben wirtschaftlichen Sanktionen auch militärische Aktionen und Provokationen gegen Libyen.

Im August 1981 schossen amerikanische Kampfflugzeuge zwei libysche Düsenjäger ab, von denen sie angeblich über internationalen Gewässern im Mittelmeer angegriffen worden waren. Dem Zwischenfall lag Ghaddafis Anspruch zugrunde, die gesamte Bucht zwischen Misurata und Bengasi, die Große Syrte, als libysches Hoheitsgebiet zu behandeln. Im Dezember 1981 ließ die Reagan-Administration alle US-Bürger aus Libyen zurückholen und verbot alle Reisen in das nordafrikanische Land. Im folgenden Jahr untersagte Washington die Einfuhr von libyschem Öl in die USA und erließ weitgehende Kontrollen und Einschränkungen für Exporte nach Libyen. 1984 und 1985 wurden diese Sanktionen immer mehr ausgedehnt, bis zum Verbot des Bankverkehrs.

Zwischen Januar und Ende März 1986 hielt die US-Marine provokative »Übungen« in der Großen Syrte, nahe der Küste, ab, in deren Verlauf zwei libysche Kriegsschiffe versenkt wurden. Diese militärische »Stärkedemonstration« sollte auch eine Vergeltung für mehrere Anschläge darstellen, die angeblich von Ghaddafi unterstützt, wenn nicht gar in Auftrag gegeben worden waren. Dazu gehörten zwei genau zeitgleiche Terrorangriffe der dubiosen Abu-Nidal-Gruppe auf den Flughäfen von Rom und Wien, die am 27. Dezember 1985 stattgefunden hatten. Ziel der Anschläge, bei denen insgesamt 21 Menschen getötet und über 100 verletzt wurden, waren in erster Linie Fluggäste der israelischen Gesellschaft El Al. Beide Flughäfen spielten eine zentrale Rolle beim Transport von jüdischen Emigranten aus der Sowjetunion nach Israel.

Die Aktionen von Abu Nidal hatten durchweg einen nicht nur menschenverachtenden und sinnlosen, sondern auch politisch provokatorischen Charakter. Ein wesentlicher Zweck war offensichtlich, der PLO zu schaden, die sich zu dieser Zeit um die Anbahnung politischer Verhandlungen mit den USA und auf diesem Wege letztlich auch mit Israel bemühte. Mehrere palästinensische Politiker wurden von Abu Nidals Leuten ermordet. Daß Ghaddafi mehrere Jahre lang mit dieser Bande kooperierte und ihr Unterschlupf bot, ist nicht zu bezweifeln. Wie weit libysche Stellen aber tatsächlich in die Verbrechen der Nidal-Gruppe verwickelt waren, ist ungewiß.

Das gilt auch für den Bombenanschlag auf die von US-Soldaten besuchte Diskothek La Belle in Berlin in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1986. Drei Menschen, darunter zwei Amerikaner, wurden dabei getötet. Reagan erklärte sofort Ghaddafi zum Schuldigen und ließ am 15. April Ziele in Tripolis und Bengasi bombardieren. Bei einem Angriff auf eine Residenz des libyschen Revolutionsführers, die offenbar auf seine Ermordung abzielte, kam seine Adoptivtochter ums Leben. Insgesamt wurden etwa 60 Libyer getötet.

Die Spannungen zwischen den USA und Libyen erreichten ihren Höhepunkt am 21. Dezember 1988 mit dem durch eine Bombe ausgelösten Absturz eines Passagierflugzeugs über dem schottischen Ort Lockerbie. Alle 243 Fluggäste, überwiegend US-Amerikaner, alle 16 Besatzungsmitglieder und darüber hinaus elf Bewohner des Ortes wurden getötet.

Der Lockerbie-Anschlag wurde, ebenso wie die Sprengung einer französischen Verkehrsmaschine in der Luft am 19. September 1989, sofort Ghaddafi und dem libyschen Geheimdienst angelastet, obwohl die Beweislage für diese Behauptungen dünn war. Nachdem Libyen der mehrfach wiederholten Forderung des UN-Sicherheitsrats nach Auslieferung der Beschuldigten, Mitwirkung an den Ermittlungen und Entschädigungszahlungen nicht nachgekommen war, verhängte das Gremium am 11. November 1993 mit der Resolution 883 sehr weit gehende Sanktionen gegen das Land. Dazu gehörten das Einfrieren libyscher Guthaben im Ausland sowie Exportverbote für Maschinen und Ersatzteile zur Erdölförderung. Es wurden jedoch trotz der Schwere der Vorwürfe damals keine militärischen Zwangsmaßnahmen genehmigt, und auch die US-Regierung unternahm keine weiteren Aktionen.

Kehrtwende Ghaddafis

Shakehands mit dem späteren Feind: US-Präsident Barack Shakehands mit dem späteren Feind: US-Präsident Barack Obama und Muammar Al-Ghaddafi beim G-8-Gipfel in Aquila, Italien (9. Juli 2009) Unter dem Druck der Sanktionen und der internationalen Isolierung leitete Ghaddafi 1998 eine Kehrtwende ein und ließ im April des folgenden Jahres die beiden wegen des Lockerbie-Anschlags beschuldigten Libyer, Abdel Basset Al-Megrahi und Lamin Khalifa Fhima, an das in den Niederlanden tagende schottische Gericht ausliefern. Später stimmte Libyen auch der Zahlung von Entschädigungen in Millionenhöhe an die Familien der Opfer zu, übernahm die gesamte politische Verantwortung für die Anschläge und versprach, die Unterstützung des Terrorismus einzustellen. Daraufhin setzte der UN-Sicherheitsrat am 12. September 2003 alle von ihm verhängten Sanktionen außer Kraft.

Die USA und Frankreich enthielten sich in der Abstimmung, weil sie mit dem Ergebnis der Entschädigungsverhandlungen noch nicht zufrieden waren, blockierten aber die Resolution auch nicht durch Einsatz ihres Vetorechts. Förmlich endete dieser Streit für die US-Regierung erst mit der Unterzeichnung des allumfassenden Libya Claims Settlement Agreements am 14. August 2008, in den letzten Monaten der Amtszeit von Präsident Bush. Libyen stimmte damit einer abschließenden Zahlung von 1,5 Milliarden Dollar zu, während die USA 300 Millionen Dollar für die libyschen Opfer der amerikanischen Bombenangriffe im Jahre 1986 zur Verfügung stellten. Gleichzeitig wurden alle gegenseitigen persönlichen und staatlichen Ansprüche für erledigt erklärt.

Im Januar 2009 wurden erstmals seit 1973 wieder Botschafter ausgetauscht. Gene A. Cretz war von Bush bereits im Juli 2008 für diesen Posten nominiert worden. Indessen hatten beide Staaten schon seit Februar 2004 mit der Einrichtung von offiziellen Interessenvertretungen wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen. Seit dem 31. Mai hatten diese Büros den Status von Botschaften. Am 20. September 2004 hatte Bush alle Libyen betreffenden Strafvorschriften aus dem 1996 verabschiedeten Iran-Libya Sanctions Act außer Kraft gesetzt. Damit war ein großer Teil der wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen gegen Libyen, insbesondere auch die Beschlagnahme libyscher Guthaben in den USA, aufgehoben. Am 30. Juni 2006 strich das US-Außenministerium Libyen von der Liste der den Terrorismus unterstützenden Staaten.

Der Verlauf des Lockerbie-Prozesses hatte auf die volle Normalisierung der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Libyen keinen erkennbaren Einfluß mehr. Am 31. Januar 2001 war Al-Megrahi, ein Geheimdienstoffizier, zu lebenslanger Haft verurteilt, sein Mitangeklagter Fhima hingegen freigesprochen worden. Die Widersprüche, Fehler und Rechtsverstöße des Verfahrens gegen Megrahi, bis hin zum Kauf falscher Zeugen durch US-Dienststellen, waren jedoch offensichtlich. Im Juni 2007 gab das oberste schottische Revisionsgericht der Forderung Megrahis nach einem neuen Prozeß statt.

Die Wiederaufnahme des Verfahrens, die zu einem politischen Fiasko zu werden drohte, wurde jedoch von den zuständigen schottischen Stellen mehrfach verzögert. Schließlich wurde der Libyer am 20. August 2009 auf dem Gnadenweg aus der Haft entlassen, da er im fortgeschrittenen Stadium an Prostatakrebs litt und nur noch eine prognostizierte Lebenszeit von etwa drei Monaten hatte. Im Gegenzug mußte Megrahi jedoch seine Berufung gegen das Urteil zurücknehmen. Daß die britische Regierung sich damals hinter den Kulissen intensiv für seine Freilassung einsetzte, wie inzwischen durch Wikileaks-Dokumente belegt ist, lag wahrscheinlich nicht nur an der Lockung mit Erdöl- und Erdgasgeschäften, sondern auch am Wunsch, einen internationalen Justizskandal zu vermeiden. Megrahi hat seither längere Zeit auf der Intensivstation verbracht, lag im vorigen Jahr sogar schon im Koma, ist aber immer noch am Leben.

Annäherung und Zusammenarbeit

Die Annäherung zwischen Washington und Tripolis hatte, lange bevor sie öffentlich deutlich wurde, einen starken Schub durch den 11. September 2001 und seine Folgen erhalten. Kurz darauf, am 3. Oktober, war der damalige Chef des libyschen Auslandsgeheimdienstes, Musa Kusa, zu umfangreichen Gesprächen mit dem amerikanischen Staatssekretär für Nahost-Angelegenheiten im Außenministerium, William Burns, nach London geflogen. Mit dabei waren hochrangige Mitglieder der CIA und des britischen MI6. Kusa übergab bei dieser Gelegenheit eine Liste mit Namen von Exil-Libyern, die verdächtig seien, Verbindungen zu bin Laden zu unterhalten. Unter anderem handelte es sich dabei um angebliche Mitglieder der Islamischen Kampfgruppe (LIFG), die für Terroraktionen in Libyen verantwortlich gemacht wurde. Bald darauf setzten die USA die LIFG auf ihre Liste terroristischer Organisationen – hauptsächlich wohl, um dem Verdacht zu begegnen, sie würden mit dieser Gruppe gegen Ghaddafi kooperieren.

Die amerikanisch-libysche Zusammenarbeit im »Krieg gegen den Terror« entwickelte sich in der folgenden Zeit zügig und wurde von Washington immer wieder als einer der Pfeiler der Normalisierung gelobt. Anscheinend hat der libysche Geheimdienst dabei sein gesamtes Wissen und seine internationalen Verbindungen zur Verfügung gestellt. Inzwischen wird Musa Kusa, der im März 2011 mit Ghaddafi brach, in manchen Veröffentlichungen als »Doppelagent« der CIA und des MI6 bezeichnet, und es wird sogar definitiv behauptet, er sei schon bei dem Londoner Treffen im Oktober 2001 »angeworben« worden. Dafür gibt es aber naturgemäß weder Beweise noch konkrete Anhaltspunkte, auch wenn ein solcher Verdacht im Rückblick naheliegt.

Wahr ist allemal, daß die Normalisierung und Intensivierung der Beziehungen den US-Stellen großartige Möglichkeiten boten, tiefe Einblicke in die libysche Führung zu gewinnen und zu einzelnen Persönlichkeiten wie dem heutigen Chef der Rebellengegenregierung, Mahmud Jibril, enge Kontakte aufzubauen. Jibril, der zudem in den USA studiert hatte, leitete bis zu seiner Abkehr von Ghaddafi die zentralen Arbeitsgruppen für Wirtschaftsreformen und Privatisierung.

Auch mit Geheimdienstchef Musa Kusa hielten die Amerikaner weiter enge Verbindung. Er spielte eine maßgebliche Rolle in den monatelangen Verhandlungen, die schließlich dazu führten, daß Ghaddafi am 19. Dezember 2003 eine nur scheinbar überraschende und sensationelle Erklärung abgab: Libyen verzichtete damit auf alle Versuche, nukleare, chemische oder biologische Waffen zu entwickeln. Zugleich stimmte es dem Abtransport aller in diesem Zusammenhang in Frage kommenden Stoffe und Geräte teils in die USA, teils nach Rußland zu – Rohuran, schwach angereichertes Uran, hoch angereichertes Uran, Senfgas, ein paar Zentrifugen für die Urananreicherung. Internationale Inspektoren erhielten praktisch unbeschränkten Zugang zu allen libyschen Anlagen. Am 12. September 2008 teilte der damalige Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Mohamed El-Baradei, mit, daß die Untersuchungen abgeschlossen seien, daß Libyen keine atomare Bedrohung darstelle und daß künftige Tätigkeiten seiner Behörde im Lande lediglich »Routine« sein würden.

Tatsächlich hatte Libyen, wenn man die Berichte der IAEA liest, nie etwas betrieben, was den Namen Nuklearwaffenprogramm verdiente, auch wenn Ghaddafi im Juli 2009 prahlerisch behauptete, sein Land habe ganz kurz vor dem Bau einer eigenen Atombombe gestanden. Tatsächlich besaß Libyen dafür weder Anlagen noch technisches Know-how. Auch auf dem Gebiet der Chemiewaffen war der entscheidende Schritt, Senfgas in Munitionskörper abzufüllen, nicht gelungen.

Aus den mittlerweile veröffentlichten WikiLeaks-Dokumenten, die bis zum Februar 2010 reichen, ist eindeutig zu erkennen, daß die Normalisierung und Intensivierung der amerikanisch-libyschen Beziehungen von beiden Seiten als im wesentlichen zufriedenstellend und erfolgversprechend betrachtet wurde. Auch über die »Menschenrechtssituation« in Libyen, die zentrale Propagandanummer für den jetzt geführten Krieg der NATO, wurde sachlich und unpolemisch diskutiert.

Bedrohliches Signal

Zwar ärgerte man sich auf amerikanischer Seite über den libyschen »Ressourcen-Nationalismus«, das heißt über eine gesteigerte Neigung, der Ausbeutung der eigenen Rohstoffe durch ausländische Unternehmen Grenzen zu setzen. Auf der libyschen Seite herrschte das Gefühl, für den Wandel in der eigenen Außenpolitik und für erbrachte Vorleistungen nicht hinreichend »belohnt« worden zu sein. Konkret ging es dabei neben Libyens Interesse an westlichen Waffen auch um Ghaddafis immer wieder vertrösteten Wunsch nach einem offiziellen Gespräch mit dem von ihm verehrten Obama.

Rationale Gründe für die Ersetzung friedlicher Beziehungen durch Krieg sind aus dem bisher bekannt Gewordenen nicht zu erkennen. Die von Obama damit in Kauf genommene oder vielleicht sogar bewußt angestrebte Zerstörung eines vermeintlichen internationalen Modells für die Lösung von Konflikten setzt auch für den Iran und Nordkorea äußerst bedrohliche Signale.

* Aus: junge Welt, 6. Mai 2011


Zurück zur Libyen-Seite

Zur USA-Seite

Zurück zur Homepage