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Schüsse der Verzweiflung

Liberias Armee feuert auf Slum-Bewohner, deren Viertel wegen Ebola-Epidemie unter Quarantäne steht. WHO berät über Medikamente. Welthungerhilfe spricht von humanitärer Krise

Von Christian Selz *

Die Szenarien gleichen einem Zombiefilm. Doch das Chaos und die Verzweiflung, die die Ebola-Epidemie in Westafrika verursacht haben, ist real. Am Dienstag verhängte Liberias Präsidentin Ellen Johnson Sirleaf eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die täglich von 21 Uhr abends bis 6 Uhr morgens gilt. Alle Veranstaltungszentren müssen der Verfügung nach geschlossen werden. Am schlimmsten betroffen sind die Bewohner des Slums West Point im Zentrum der Hauptstadt Monrovia, das Sirleaf vollständig zur Quarantäne-Zone erklärte. Den Bewohnern ist damit der Weg zur Arbeit versperrt, die Nahrungsmittelpreise stiegen nach der Erklärung der Präsidentin sprunghaft. Bei Protesten gegen die Isolierung des Viertels, in dem verschiedenen Schätzungen zufolge zwischen 50000 und 100000 Menschen leben, feuerten Soldaten mit scharfer Munition. Mindestens vier Bewohner des Slums wurden Augenzeugenberichten zufolge verletzt. Begründet hat Sirleaf die Maßnahmen nicht etwa mit eigenen Versäumnissen bei der Bekämpfung der seit Monaten grassierenden Epidemie, sondern mit »kontinuierlichem Leugnen, kulturellen Begräbnispraktiken, Geringschätzung der Ratschläge des Gesundheitspersonals und Mißachtung der Warnungen der Regierung« seitens der Bevölkerung.

Die Lage scheint hoffnungslos. Gerade einmal 0,014 Ärzte pro 1000 Einwohner standen in Liberia nach Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor Ausbruch der Epidemie zur Verfügung. Bei gut vier Millionen Einwohnern entspricht das weniger als 60 Medizinern. Verschärfend kommt hinzu, daß das Virus auch unter dem Gesundheitspersonal bereits etliche Todesopfer gefordert hat und vielerorts Ärzte und Pfleger aus Furcht vor einer Ansteckung nicht mehr zur Arbeit kommen. Erprobte Medikamente gegen das Ebola-Virus, das immerhin seit 1976 bekannt ist, gibt es nicht. Die dahingehende Forschung erschien den Pharmakonzernen offensichtlich zu wenig profitabel. Von dem von der WHO trotz fehlender Tests abgesegneten Antikörperserum Zmapp gibt es einem Zeit-online-Bericht zufolge »vielleicht etwas mehr als ein Dutzend Dosen«. Bei »bis zu 30000 Menschen«, die dem Epidemiologen Oliver Brady von der britischen Universität Oxford zufolge bereits eine »Behandlung oder Prophylaxe benötigt hätten«, wird die Dimension des Problems deutlich, vor dem die WHO steht. Denn eine Massenproduktion eines Medikaments ist noch lange nicht in Sicht. Derzeit beraten die Experten lediglich, welches Mittel dafür infrage kommen könnte. Selbst wenn sie sich einigen, ist lediglich der Profit des dann auserwählten Pharmakonzerns sicher, aber nicht die Wirksamkeit der Arznei gegen die in bis zu 90 Prozent der Fälle tödlich verlaufende Krankheit. Brady bezeichnet seine Schätzung der Patientenzahlen derweil in einem Aufsatz für das britische Fachjournal Nature als »konservatives Szenario«.

»Ich kann mir vorstellen, daß es mehr Fälle sind«, sagt auch die Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Liberia, Asja Hanano, zu den kursierenden Zahlen der WHO, denen zufolge sich bis zum Mittwoch 2473 Menschen mit dem Virus infiziert hatten. 1350 davon sind bereits gestorben. »Es werden mehr Epidemiologen und mehr Mediziner gebraucht, die dort das Personal ausbilden«, so Hanano. Die Folgen der Epidemie, die Liberia sowie die Nachbarländer Sierra Leone und Guinea bisher am härtesten getroffen hat, sind dramatisch. Aufgrund der Abriegelung etlicher Ortschaften ist auch der Handel nahezu zum Erliegen gekommen. Märkte sind geschlossen und dort, wo es noch Lebensmittel gibt, steigen die Preise rasant. »Wir gehen davon aus, daß die ökonomische Entwicklung um Jahre zurückgeworfen wird«, schätzt Hanano ein. Vielerorts haben die Menschen aus Angst vor dem Virus gar die Arbeit auf den Feldern eingestellt, Ernteausfälle drohen. »Es ist nicht nur eine Gesundheitskrise«, konstatiert Hanano am Donnerstag vor Journalisten in Berlin, »es entwickelt sich in eine humanitäre Krise. Wir befürchten, daß es auf eine Hungersnot hinauslaufen könnte.«

Zur Frage nach der vielzitierten »Verantwortung Deutschlands«, an die unter anderem der Schirmherr der Welthungerhilfe, Bundespräsident Joachim Gauck, in den vergangenen Monaten häufig appelliert hatte, fällt die Antwort Hananos dagegen knapp aus. Ja, die liberianische Regierung habe gesagt, daß sie überfordert sei und Hilfe brauche. Und ja, die UN tue, was sie könne. Die WHO hat 100 Millionen US-Dollar zur Bekämpfung der Epidemie zur Verfügung gestellt, die Weltbank weitere 200 Millionen. Ob Deutschland mehr tun könne, will Hanano nicht bewerten. 100000 Euro habe ihre Organisation, deren rund 150 Millionen Euro schweres Jahresbudget dem eigenen Jahresbericht zufolge zu knapp drei Vierteln aus »öffentlichen Zuwendungen« besteht, für die Bekämpfung der Ebola-Epidemie zusätzlich vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bekommen, betont sie. Weitergehende Forderungen an die Bundesregierung habe die Welthungerhilfe derzeit nicht.

* Aus: junge Welt, Freitag 22. August 2014


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