Das Tal der Flüchtlinge
Versorgung nur mit dem Allernötigsten: Im Osten Libanons leben Hunderttausende Syrer unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen
Von Thomas Eipeldauer, Beirut *
Eineinhalb Stunden dauert die Autofahrt von Beirut in die im Osten des Libanons gelegene Kleinstadt Zahle. Man überquert das Libanongebirge und überblickt von ihm aus die schneebedeckte Bekaa-Ebene, die auf der gegenüberliegenden Seite an einem zweiten Gebirgszug, dem Antilibanon, ihr Ende findet. Hier, im wichtigsten Agrargebiet des Landes, leben etwa 400.000 der über 1,3 Millionen im Libanon registrierten syrischen Flüchtlinge. Es sind hunderte Camps, in denen sie untergebracht sind, kleinere mit fünf, vielleicht zehn Zelten, größere, in denen hundert, vielleicht noch mehr provisorische Behausungen zusammengefasst sind.
In Ghazze, zehn Minuten von Zahle entfernt, sind es etwa 700 Menschen, die hier vor jenem Krieg Schutz suchen, der seit vier Jahren mit unglaublicher Brutalität und unter Beteiligung ausländischer Mächte und Milizen in ihrer Heimat Syrien wütet. Müll stapelt sich rund um die Zeltdörfer, die im Schlamm versinken, weil der Schnee zu schmelzen beginnt. »Überall dringt Wasser ein. Alles ist nass. Es kommt von oben und von unten«, beschweren sich Frauen, als mein Kollege und ich das Camp betreten, weil sie uns für Mitarbeiter der zahlreichen Hilfsorganisationen halten, die hier tätig sind. Diese, koordiniert vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, versorgen die hier Lebenden mit dem Allernötigsten. Eine E-Card, vor einiger Zeit noch mit 30, nunmehr mit 19 US-Dollar pro Person und Monat aufgeladen, dient zum Einkauf von Nahrungsmitteln, Winterpakete mit Kleidung werden für die Kinder verteilt, Latrinen gebaut, die Wasserversorgung sichergestellt.
Was man in der Bekaa-Ebene beobachten kann, ist nichts weniger als eine der schlimmsten humanitären Katastrophen unserer Zeit. Das auch deshalb, weil die Menschen hier – überwiegend Alte, Frauen und Kinder – keine realistische Perspektive auf Verbesserung ihrer Situation haben. Fast alle, die man fragt, sehnen sich nach ihrer Heimat. »Es war perfekt in Syrien. Wir hatten alles. Wir konnten von unserer Arbeit leben, die Gesundheitsversorgung war gratis, Bildung auch«, erzählt ein älterer Mann aus Homs.
Aber sie wissen auch, dass die Rückkehr – zumindest kurz- oder mittelfristig – nicht möglich sein wird, denn dazu bräuchte es Frieden in Syrien, und der ist nicht in Sicht. In das sich immer rigoroser abschottende Europa können sie nicht, dazu fehlen die Mittel, und auch dort ist die Zukunft ungewiss. Und im Libanon führt die Regierung zwar derzeit keine Abschiebungen durch, sie macht aber sehr deutlich, dass sie nicht will, dass die Geflohenen sich einrichten und bleiben. Der libanesische Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, in dem Milizen palästinensischer Flüchtlinge gekämpft haben, ist als nationales Trauma in Erinnerung.
Die schiere Anzahl der aus Syrien Vertriebenen strapaziert zudem nicht nur die Kapazitäten der lokalen Verwaltungen, deren Ressourcen schon vor der Krise in manchen Regionen kaum für die lokale Bevölkerung reichten, sondern auch die Budgets der diversen Hilfsorganisationen. Nach vier Jahren Krieg geht die Spendenbereitschaft zurück, nachhaltige Lösungen sind nicht in Sicht – und möglicherweise auch politisch nicht gewollt.
Und so leben hier Abertausende monate- und jahrelang unter Bedingungen, von denen man sich kaum vorstellen kann, unter ihnen auch nur eine Woche ausharren zu können. Die Gesundheitsversorgung ist auf das Notwendigste beschränkt, im Winter plagen Schneestürme und die extreme Kälte, im Sommer kommt es zu Engpässen in der Wasserversorgung. Das ganze Jahr über bleibt ein Leben ohne jede Privatsphäre. Einige Kinder, die man sieht, sind in einem Alter, das darauf schließen lässt, dass sie hier geboren wurden. Andere wiederum sind gezeichnet von den Wunden, die der Krieg in Syrien geschlagen hat. Eine ganze Generation wächst in der Unsicherheit und Trostlosigkeit der Lager auf.
* Aus: junge Welt, Freitag, 27. Februar 2015
Schuldknechtschaft und Ausbeutung
Die Ausbeutungsverhältnisse, die aus der prekären Situation resultieren, in der sich die Vertriebenen aus Syrien befinden, werden international wenig beachtet. Das größere der zahlreichen Camps nahe Ghazze ist auf dem Grundstück eines privaten Landbesitzers errichtet. 30 US-Dollar monatlich und pro Zelt müssen die Familien dem Grundeigentümer bezahlen, um hier unterkommen zu können. Wenn der »Landlord« Bedarf hat, beschäftigt er sie in seinem landwirtschaftlichen Betrieb. Zwischen vier und 15 US-Dollar pro Tag bekommen sie dort, gebraucht werden sie vor allem im Sommer. Ganze Familien verdienen sich so ihren Lebensunterhalt, auch die Kinder müssen arbeiten. Oft sind sie zusätzlich gezwungen, sich Geld zu leihen, um über die Runden zu kommen, die Schulden, die so entstehen, zwingen sie wiederum zur Arbeit für Niedriglöhne. Es ist ein Kreislauf, der in die Schuldknechtschaft führt.
Einem Bericht von UNHCR zufolge, der auf einer Befragung von 1.750 Flüchtlingshaushalten aufbaut, bezahlen 82 Prozent der Geflüchteten für ihre Unterkunft. 77 Prozent mussten sich für Nahrung, Medizin oder Obdach Geld ausleihen. Einer weiteren UNHCR-Studie zufolge übersteigen die Schulden von 70 Prozent der in der Bekaa-Ebene Untergebrachten 200 US-Dollar, 35 Prozent haben sogar mehr als 600 US-Dollar Außenstände. Die Beträge mögen gering erscheinen, für die Familien in der Bekaa-Ebene sind sie es nicht. Und sie zwingen sie zu unterbezahlter Arbeit, wo immer sich die Gelegenheit ergibt.
Im Moment arbeiten viele Flüchtlinge im Baugewerbe und in der Landwirtschaft, doch ihre Löhne sind extrem niedrig, und sie verfügen über keinerlei Rechte. Das Überangebot an Arbeitskraft drückt die Löhne, soweit das überhaupt noch möglich ist. (te)
»Wir wollten unser Land nicht verlassen«
Das Leben in den Refugee-Camps des Libanon ist beschwerlich. Viele wollen zurück nach Syrien. Ein Gespräch mit Manahil Saleh **
Manahil Saleh und ihre Familie mussten im Zuge des Bürgerkriegs in Syrien ihr Land verlassen. Sie lebt heute in einem der größeren Flüchtlingslager in der libanesischen Bekaa-Ebene.
Aus welcher Region in Syrien sind Sie geflohen, und seit wann halten Sie sich hier in diesem Camp auf?
Ich komme aus einem Dorf in der Nähe von Homs. Zuerst sind wir innerhalb Syriens von da nach dort gezogen, je nachdem, wo es noch sicher war. Als die Krise schlimmer und schlimmer wurde, haben wir uns entschieden, in den Libanon zu gehen. Wir hatten kein Geld, also mussten wir uns bei Verwandten Geld leihen, um fliehen zu können. Jetzt bin ich mit meiner Familie seit einem Jahr und acht Monaten in diesem Camp.
Wie war Ihr Leben in Syrien vor dem Krieg?
Wir hatten eine Heimat dort und etwas Land. Wir haben das Land bebaut, wir hatten Olivenbäume und frisches Gemüse im Sommer und auch für den Winter. Mein Mann hat gearbeitet, er hat nicht viel bekommen, aber es war mehr als genug für uns, weil das Leben in Syrien billiger war. Es war auch alles da für uns, medizinische Versorgung, Schulbildung für die Kinder. Wir waren sehr glücklich in Syrien. Wir dachten nie daran, unser Land zu verlassen.
Wie bewältigen Sie hier im Flüchtlingslager Ihren Alltag?
Im Sommer haben mein Mann und ich in der Landwirtschaft gearbeitet, damit wir an ein wenig Geld kommen. Im Winter müssen wir Schulden machen. Wir haben bei einem Verwandten Geld aufgenommen, 1.300 US-Dollar schon. Jetzt warten wir auf den Sommer, um wieder arbeiten und unsere Schulden zurückzahlen zu können.
Für Arztbesuche bekommen wir Unterstützung vom UNHCR, aber das reicht nicht. Ich habe ein Kind, das lungenkrank ist und regelmäßig zum Arzt muss, das müssen wir aus der eigenen Tasche bezahlen. Die Luft im Zelt und die Hygieneprobleme im Camp sind auch nicht gut für es.
Im Winter sind wir auf Unterstützung durch Hilfsorganisationen angewiesen, um Öl für den Ofen kaufen zu können. Essen bekommen wir durch die E-Card für Ernährung, aber nicht mehr soviel wie früher. Außerdem erhalten wir Essenspakete und Hygieneartikel. Während der Schneestürme waren auch Organisationen da, um zu helfen, aber es reicht nicht. Wir brauchen mehr Unterstützung im Winter, vor allem bessere und neue Plastikplanen.
Wie sind die Arbeitsbedingungen für Sie in der Landwirtschaft? Welche Löhne werden bezahlt?
Für acht Stunden Arbeit bekomme ich als Frau 6.000 Libanesische Pfund – umgerechnet vier US-Dollar. Mein Mann hat zwischen 20.000 und 25.000 – 13 bis 16 US-Dollar – verdient, aber er hat in einem anderen Bereich gearbeitet, beim Verladen.
Wo sehen Sie mittelfristig Ihre Perspektive? Wollen Sie im Libanon bleiben oder weiter in ein anderes Land, um dort um Asyl zu ersuchen? Oder denken Sie über eine Rückkehr in ihre Heimat nach?
Wenn die Sicherheitslage in Syrien sich verbessern würde, würden wir sofort wieder zurückgehen. Denn unsere wirtschaftliche Situation war viel besser dort, mit wenig Geld konnten wir ein Auskommen finden. Im Libanon ist das nicht so. Ich arbeite, mein Mann arbeitet, meine Tochter arbeitet auch, und dennoch reicht es nicht zum Leben. Es ist sehr teuer hier. In Syrien habe ich nicht gearbeitet, ich bin bei den Kindern geblieben, nur mein Mann hat gearbeitet.
Aber im Moment ist es nicht möglich, nach Syrien zurückzugehen. Es sieht sehr schlecht aus dort. Als ich gehen wollte, um nach Familienangehörigen zu sehen, die im Land geblieben sind, haben sie mir gesagt, ich solle nicht kommen, es sei zu gefährlich. Sie leben in Hama und können derzeit die Gegend nicht verlassen.
Interview: Thomas Eipeldauer
** Aus: junge Welt, Freitag, 27. Februar 2015
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