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Daesch rekrutiert

Not leidende syrische Flüchtlinge im Libanon sind leichte Beute für die Anwerber des "Islamischen Staates"

Von Karin Leukefeld, Beirut *

Es ist ein milder, frühlingshafter Ostermontag in Beirut. Viele Menschen haben frei. Die Cafés selbst abseits der Al-Hamra-Straße sind gut besucht.

»Ich heiße Maryam, bin zwölf Jahre alt und komme aus Jarmuk in Damaskus. Wir sind drei Geschwister und haben kein richtiges Zuhause. Unser Vater ist nierenkrank und hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wir haben Hunger und uns ist kalt. Wir brauchen warme Kleidung. Bitte helfen Sie uns.« Schweigend hält das Mädchen die Pappe mit dem gut lesbaren auf Englisch verfassten Text vor sich.

Sie trägt eine Mütze, eine kurze Jacke und ist schmal. »Sie könnte leicht missbraucht werden, wenn sie abends hier durch die Cafés läuft«, sagt Sawzan J. und ermahnt das Mädchen, bedeckendere Kleidung zu tragen. »Aber wenn sie nichts zum Anziehen hat«, sagt Sawzans Begleiterin und zeigt auf den Satz: »Wir brauchen warme Kleidung«.

Sie glaube nicht, dass das Geschriebene die wahre Geschichte des Mädchens sei, meint Sawzan. »Jarmuk ist in den Schlagzeilen, das nutzen sie aus.« Dann drückt sie dem Mädchen einige Geldscheine in die Hand, das sofort genauso still und unauffällig verschwindet, wie es aufgetaucht war.

Über eine Millionen syrische Flüchtlinge versorgt das UN-Hilfswerk UNHCR im Libanon. Etwa 25 Prozent sind Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre. Um die Versorgung der Menschen auch 2015 sicherstellen zu können, hat das UNHCR von der »internationalen Gemeinschaft« rund zwei Milliarden US-Dollar, rund 1,8 Milliarden Euro, erbeten.

Lediglich zehn Prozent, knapp 187 Millionen US-Dollar, hat die Organisation bisher erhalten. Das zweite Jahr in Folge sind die Hilfsmaßnahmen für syrische Flüchtlinge unterfinanziert. Die Menschen bleiben sich selbst überlassen. Kinder gehen nicht mehr zur Schule, sie müssen Arbeit suchen oder betteln. Soziale Spannungen sind die Folge.

Durch die Fluchtbewegung aus Syrien ist die Einwohnerzahl Libanons innerhalb kurzer Zeit um 25 Prozent angestiegen. Arbeit, Wasser und Gesundheitsversorgung reichen nicht für alle. Ende 2014 wurden für Syrer die Grenzen geschlossen.

Khalid, ein Taxifahrer, begrüßt die verschärften Vorschriften. Syrer brauchen nun ein Visum, erhalten es aber nur, wenn sie den Grenzbeamten einen Wohnsitz und eine Arbeitsstelle oder einen festen Termin vorweisen können. Um bleiben zu können, brauchen die Syrer im Libanon nun einen Bürgen sowie eine Aufenthalts- bzw. Arbeitserlaubnis.

Die Maßnahmen seien gut, sagt Khalid: »Aber sie kommen viel zu spät.« Wiederholt hat die Armee seit Anfang des Jahres Verdächtige festgenommen, die Verbindungen zu extremistischen Gruppen haben sollen.

Tatsächlich haben die Anwerber bewaffneter Kampfgruppen in Syrien und im Irak unter jungen Flüchtlingen oft ein leichtes Spiel. Sollte »Daesch« kommen und seinem Sohn 300 US-Dollar anbieten, damit er bei ihnen kämpfe, würde der das tun, befürchtet ein syrischer Familienvater, der von internationaler Hilfe noch nichts gesehen hat. »Daesch« ist die arabische Abkürzung der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat«, die – wie der Al-Qaida-Ableger in Syrien, die Al-Nusra-Front – offenbar über mehr Geld verfügt als die UN-Hilfsorganisationen, die nicht in Lage sind, für das Überleben der syrischen Flüchtlingen zu sorgen.

Wie Armut und Perspektivlosigkeit junger Männer gezielt ausgenutzt werden, zeigen Meldungen aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Ain Al-Hilwah, das im Süden des Libanon, vor den Toren der Stadt Sidon liegt. 1948 war das Lager entstanden; heute ist es mit mehr als 54.000 palästinensischen Flüchtlingen das größte derartige Lager im Land. Die Lebensbedingungen sind schlecht, viele Kinder verlassen die Schule, um mit Gelegenheitsarbeiten Geld zum Unterhalt der Familien zu verdienen.

Der Krieg in Syrien habe aus dem Lager einen »sicheren Hafen für Dschihadisten« gemacht, berichten libanesische Medien seit Monaten. Die schwarze Fahne von »Daesch« flattere im Taware-Viertel, einem Teil des Lagers. Manche der jungen Männer pendelten zwischen dem Kriegsgebiet in Syrien und Ain Al-Hilwah, wo sie sich – ausgestattet mit gefälschten Papieren – von den Kämpfen oder auch von Verletzungen erholten, heißt es in einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP von Anfang April. Die libanesischen Sicherheitskräfte gehen davon aus, dass allein aus Ain Al-Hilweh 46 Männer in den Reihen der Al-Nusra-Front oder von »Daesch« kämpfen.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. April 2015


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