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Nervosität in Beirut

Der Libanon fürchtet aufgrund seiner horrenden Verbindlichkeiten, in den Strudel der Schuldenkrise zu geraten

Von Raoul Rigault *

Als »Schweiz des Mittleren Ostens« galt der Libanon bis zum Beginn des 15 Jahre dauernden Bürgerkrieges im April 1975. Diese Rolle als prosperierende Drehscheibe für Handel und Finanz würde man in Beirut gern wieder spielen. Tatsächlich gab es in den vergangenen Jahren beachtliche Fortschritte auf diesem Weg. Mitten in der Weltwirtschaftskrise verzeichnete das kleine Land 2008 und 2009 laut Weltbank-Schätzungen ein Wachstum von 9,3 bzw. 8,0 Prozent. Doch plötzlich herrscht Zukunftsangst an der Levante, doch nicht wegen der auf sechs Prozent gesunkenen Wachstumsprognosen für die kommenden beiden Jahre. Die besorgten Blicke richten sich vielmehr Richtung Ägäis, denn Libanon zählt selbst zu den am höchsten verschuldeten Staaten der Welt.

»Kann der Libanon die griechische Wirtschaftskrise überstehen?«, fragte sich die englischsprachige libanesische Tageszeitung The Daily Star am 12. Mai. Auch der ehemalige Finanzminister George Corm erinnert daran, daß »Griechenlands Gesamtverschuldung 113 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) beträgt, die des Libanon aber 148 Prozent.« Die jüngsten Turbulenzen sollten ein »Weckruf« sein. »Wir können nicht nur auf Überweisungen aus dem Ausland bauen, sondern müssen handeln, um eine große Krise in der Zukunft zu vermeiden«, warnte der 69jährige linksliberale Professor.

Analysten von Barclay's Capital gehen sogar von einem Schuldenberg aus, der 154 Prozent des BIP entspricht. Das wäre zwar weniger als die 180 Prozent im Kriegsjahr 2006, doch das Haushaltsdefizit ähnelt damit dem der Euro-Problemfälle Portugal, Irland, Spanien und Griechenland - und es steigt weiter. Nach Angaben der Weltbank wird es sich 2010 von 9,1 auf 10,7 Prozent erhöhen. Mit einem Zahlungsbilanzdefizit von 18,5 Prozent des BIP im Jahr 2009 und einem gigantischen Außenhandelsdefizit ist das nicht die einzige strukturelle Schwäche. Von Januar bis September 2009 standen Warenexporten von 2,45 Milliarden US-Dollar Einfuhren im Wert von zwölf Milliarden gegenüber. Grund ist die extreme Unterentwicklung der Industrie und des übrigen verarbeitenden Gewerbes. So waren Edelsteine und Juwelen mit 708 Millionen Dollar wichtigstes Ausfuhrgut. Maschinen und Anlagen (462 Millionen) sowie Agrarprodukte (323 Millionen) folgten mit erheblichem Abstand.

Angesichts solcher Rahmendaten mag es verwundern, daß die Rating­agentur Fitch den Libanon Ende März von B- auf B heraufstufte. Diese positive Tendenz sorgte für eine Atempause auf den Finanzmärkten. Gründe für das noch relativ gute Standing sind neben dem beachtlichen Wirtschaftswachstum die Verteilung der Staatsanleihen, der stete Devisenstrom durch rasant steigende Touristenzahlen, Überweisungen aus dem Ausland, ein vorsichtiges Agieren der Banken und die gut gefüllte »Schatztruhe« des nur 4,8 Millionen Einwohner zählenden Landes.

Dem Finanzministerium zufolge waren im letzten Quartal 2009 Handelsbanken mit einem Anteil von 64 Prozent die wichtigsten Zeichner von Schatzbriefen, gefolgt von öffentlichen Institutionen mit 21 Prozent. Laut der regionalen Investmentbank EFG-Hermes wird die öffentliche Auslandsverschuldung bis Ende dieses Jahres auf 64 und bis Ende 2011 auf 60 Prozent des BIP sinken, während die Inlandsverschuldung bis 2011 auf 91 Prozent steigen könnte. Mit einem Wachstum des Tourismus um 38,9 Prozent war der Zedernstaat nach Angaben der UNO weltweit Spitzenreiter. Statt 1,33 Millionen Besucher 2008 kamen 1,85 Millionen.

Auch aufgrund der Überweisungen der 400000 Arbeitsmigranten am Golf wuchsen die Devisenreserven binnen Jahresfrist von 17 auf 26 Milliarden Dollar. Das entspricht 75 Prozent des BIP. Auf 28,1 Prozent des BIP belaufen sich die Goldreserven, denn die kleine Republik besitzt nicht nur die größte Menge des begehrten Edelmetalls in Arabien, sondern rangiert mit einem Marktwert von 9,2 Milliarden Dollar international knapp hinter Großbritannien an 15.Stelle. Es sagt allerdings einiges über die realen Abhängigkeitsverhältnisse aus, daß nur die Hälfte dieses Goldes in den Bunkern der Zentralbank lagert. Der Rest ruht im US-amerikanischen Fort Knox.

Auch währungspolitisch ist es um die Eigenständigkeit denkbar schlecht bestellt. Knapp zwei Drittel des gesamten Geldverkehrs wurde im vergangenen Jahr in »Greenbacks« abgewickelt. Zwar wird das, angesichts des aktuellen Wertverlustes des Euro, 40 Prozent der Importe billiger machen und damit das enorme Handelsbilanzdefizit etwas reduzieren, doch umso heftiger werden mittelfristig die Folgen einer US-Schuldenkrise zu spüren sein. Und für die Finanzplatzambitionen ist das geringe Prestige des Libanesischen Pfundes mit Sicherheit kein Vorteil. Dennoch vertrauen vorerst viele Mitglieder der arabischen Oberschicht Instituten wie Byblos oder der Audi-Bank einen Teil ihres Reichtums an. So erhöhten sich die Einlagen der libanesischen Banken Ende März 2010 im Vergleich zum Vorjahr um ein Fünftel auf 120 Milliarden Dollar - umgerechnet mehr als das Dreifache der Jahreswirtschaftsleistung.

Dennoch warnt Nassib Ghobril, Chefvolkswirt der Byblos-Gruppe, vor übertriebenem Optimismus. Die Regierung solle angesichts möglicher Auswirkungen der Euro-Krise Reformen beschleunigen und sich nicht nur auf den Zufluß von Kapital verlassen, wird der Ökonom von mehreren Medien zitiert. Solche Ratschläge verhallen in der Regierung des Multimilliardärs Saad Hariri nicht ungehört. Diskutiert wird aktuell die Beteiligung von Privatunternehmen beim Ausbau der Stromversorgung oder der Telekommunikation sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von zehn auf bis zu 15 Prozent. Für diesen Fall hat der Gewerkschaftsbund CGTL bereits mit Massenprotesten gedroht.

* Aus: junge Welt, 25. Mai 2010


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