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"Sie leben in Zelten, zwischen Häusern oder auf dem Feld"

Die Hilfsorganisation medico international hat sich ein Bild von der Lage syrischer Flüchtlinge im Libanon gemacht. Gespräch mit Wilhelm Hensen


Wilhelm Hensen ist Nothilfe-Koordinator von medico international. Er war von Montag bis Freitag vergangener Woche im Libanon, um sich ein Bild von der Lage der syrischen Flüchtlinge dort zu machen.


Sie waren in der vergangenen Woche in der Bekaa-Ebene im Libanon, wo viele syrische Flüchtlinge unter extremen Umständen leben. Wie ist deren Lebenssituation?

Momentan sind 800000 registrierte Flüchtlinge im Libanon. Angesichts von 4,3 Millionen Einwohnern ist das eine sehr große Zahl. Inoffiziell wird sogar davon ausgegangen, daß sich bis zu einer Million syrischer Flüchtlinge dort aufhalten.

Die Bekaa-Ebene ist aufgrund der Nähe zu Syrien eines der Hauptballungsgebiete. Es gibt dort keine großen Flüchtlingslager, wie man sie aus Film und Fernsehen kennt – alles ist improvisiert. Die Menschen kommen dort an und versuchen zunächst, eine Wohnung oder ein Zimmer zu mieten. Weil es so viele sind, ist das meist nicht mehr möglich: Viele leben mittlerweile in Rohbauten oder Garagen. Wer auch da nicht mehr unterkommt oder die ständig steigenden Mietkosten für eine Wohnung nicht zahlen kann, lebt in Zelten zwischen den Häusern oder auf Feldern. Ihre Versorgung wird immer schlechter, sie haben oft weder Strom-, noch Wasser- oder Gasanschluß.

Wie lange müssen diese Flüchtlinge so ausharren?

Es war mein dritter Besuch in der Bekaa-Ebene. Vor einem Jahr sah es dort ähnlich aus, viele Menschen verbringen dort schon den zweiten Winter. Ihre Lage verschlimmert sich: So mancher, der sich vor einem Jahr noch eine Wohnung mieten konnte, hat jetzt kein Geld mehr für die Miete.

Schwappt der Konflikt von ­Syrien aus auch auf diese Gegend über? Verschiedene Fraktionen aus dem Libanon greifen in den Syrien-Konflikt ein, unter anderem die Hisbollah – die syrische Opposition mußte deswegen einige empfindliche Niederlagen einstecken. In Beirut und Tripoli kam es zu Bombenanschlägen und Attentaten.

Die Bekaa-Ebene grenzt an Syrien, deshalb besteht die Gefahr, daß es auch dort zu Spannungen zwischen den Kriegsparteien kommt. Es gibt Hinweise, daß die syrische Opposition aus dieser Region Nachschub an Waffen und Kämpfern bekommt, deshalb könnten auch hier Kämpfe stattfinden. Die syrische Luftwaffe hat das Grenzgebiet bereits bombardiert. Auch zwischen den Flüchtlingen, die dort untergekommen sind, und die verschiedenen Fraktionen angehören, kommt es zu Auseinandersetzungen.

Welche Fluchtgründe gibt es?

Viele sind vor den Kämpfen geflohen, andere vor dem syrischen Geheimdienst. Das Leben als Flüchtling zehrt an den Kräften, es ist schwer zu verkraften, wenn man nicht weiß, wie das Leben weitergehen soll. In Syrien ist der Krieg derart eskaliert, daß das gesamte gesellschaftliche Gefüge aus den Fugen gerät.

Welche sozialmedizinischen Projekte unterstützt medico international?

In der Bekaa-Ebene arbeiten wir mit unserer lokalen libanesischen Partnerorganisation AMEL zusammen, einer der wenigen großen Nichtregierungsorganisationen, die nach wie vor säkulär sind. Die AMEL-Klinik hat vergangenes Jahr monatlich etwa 100 Patienten betreut – jetzt sind es 1000. Die meisten anderen Kliniken sind privat und behandeln nur gegen Bezahlung.

Umso wichtiger ist für die Flüchtlinge die kostenlose Gesundheitsversorgung, die AMEL anbietet. Die wenigen Mittel, die sie besitzen, müssen sie für andere lebenswichtige Dinge ausgeben.

Warum ist es so wichtig, daß es neben den islamischen Hilfswerken auch eine säkulare Alternative gibt?

Gerade bei religiös aufgeladenen Konflikten muß jeder versorgt werden – egal, ob er für oder gegen das Regime ist, ob er zu dieser religiösen Fraktion oder zu einer anderen gehört. Wichtig ist, zu signalisieren: Es ist möglich, auch bei unterschiedlicher religiöser oder politischer Gesinnung ohne Waffengewalt miteinander auszukommen.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, Freitag, 1. November 2013


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