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Provozierter Krieg gegen Libanon?

Die Angriffspläne lagen jedenfalls längst in israelischen Schubladen

Von Jürgen Cain Külbel *

Der Krieg im Nahen Osten verdeutlicht, dass die Kriege des 21. Jahrhunderts offenbar völlig enthemmt geführt werden: Durch Raketenangriffe auf Produktionsstätten, Schulen, Krankenhäuser, Ambulanzen, Flüchtlingskonvois, Wohnviertel, Straßen und Brücken wird die Bevölkerung eines ganzen Landes kollektiv bestraft und gequält.

Nachdem Israels Verteidigungsminister Amir Peretz am 12. Juli den Schlachtruf erhoben hatte, seine Luftwaffe soll »die Lokalitäten der Hisbollah und die zivile Infrastruktur Libanons zerstören«, blieb Libanons Premier Fuad Siniora wenige Tage später nur die bittere Erkenntnis, dass zwar nicht die Hisbollah, wohl aber sein Land »in Stücke geschlagen« werde.

Israel nahm die Entführung der Soldaten Ehud Goldwasser und Eldad Regev durch die schiitische Hisbollah-Miliz am frühen Morgen des 12. Juli zum Anlass, den Krieg vom Zaun zu brechen. Was war geschehen?

An jenem Mittwoch, exakt 9.05 Uhr, verkündete die Hisbollah über ihren Fernsehsender »Al Manar«, ihre Soldaten hätten »eine israelische Patrouille nahe der Grenze angegriffen und zwei Soldaten gefangen genommen«. Hassan Sayyed Nasrallah, Chef der Miliz, sagte: »Die Hisbollah hat die Operation beinahe fünf Monate lang geplant«, denn – so merkte Philip Abi Akl im konservativen libanesischen »Daily Star« an – sie wollte »durch die Gefangennahme ein Versprechen gegenüber dem libanesischen Volk erfüllen. Das wird helfen, (im Austausch) libanesische Gefangene frei zu bekommen.«

Dr. Mazin Qumsiyeh, ehemaliger Dozent an der Duke und der Yale University, präzisierte: »Die Hisbollah ist eine landeseigene libanesische Widerstandsstreitmacht, die nach der israelischen Invasion Libanons gegründet wurde.« Es sei wichtig, sich daran zu erinnern, dass Zehntausende Libanesen und Palästinenser (Flüchtlinge von 1948) von den israelischen Besatzungstruppen allein 1982 in Libanon umgebracht wurden. Die Hisbollah genieße Unterstützung in allen Teilen der libanesischen Gesellschaft (inklusive der christlichen Bevölkerung), weil sie der brutalen Besatzung widerstanden habe. Und nach wie vor besetze Israel illegal das Westjordanland, die Sheba-Farmen und den Golan. »Ebenso sperrt sich Israel immer noch gegen internationales Recht, indem es palästinensischen Flüchtlingen verbietet, zu ihren Häusern und Ländereien zurückzukehren. Wichtiger noch: Die israelische Armee hält noch immer viele Libanesen und fast 10 000 palästinensische politische Gefangene fest.«

Die Hisbollah selbst machte keine Angaben über den Ort der Festnahme. AFP berichtete jedoch am Tage der Entführung: »Nach Angaben der libanesischen Polizei wurden die zwei israelischen Soldaten auf libanesischem Territorium gefangen genommen, im Gebiet von Aïta Al-Chaab, nahe der Grenze zu Israel, wohin eine israelische Einheit am frühen Morgen durchgedrungen war.« Das französische Voltaire-Network wusste: »Israels hat vorsätzlich ein Kommando in das libanesische Hinterland bei Aïta Al-Chaab geschickt. Dort wurde es von der Hisbollah angegriffen. Israel hat (danach) vorgetäuscht, dass es überfallen wurde, und griff Libanon an«. Die italienische Zeitung »La Repubblica« zitierte Quellen in der Hisbollah, dass die Gefangennahme in der Zone von Aïta Al-Chaab vor sich ging, »nicht weit entfernt von der Ortschaft Zarit«, also in Libanon.

Die Franzosen rügten zudem, dass »auf Antrag von Oberst Sima Vaknin-Gil, Chef der israelischen Militärzensur, die westliche Presse akzeptierte, eine abgestumpfte Version der Ereignisse« anzunehmen. Auf Befehl der Militärzensur verzichteten Presseagenturen und Medien der in Israel akkreditierten Journalisten darauf, ihre Leser über den Ort der Gefangennahme zu informieren.« Der für Voltaire arbeitenden Schweizer Journalistin Silvia Cattori wurde in Israel die Akkreditierung entzogen, weil sie sich der Vorgabe verweigerte.

Nach Aussagen des israelischen Premiers Ehud Olmert wurden die Soldaten auf israelischem Territorium entführt. »Die Ereignisse an diesem Morgen sind keine Terrorattacke, sondern die Aktion eines souveränen Staates, der Israel ohne Grund angegriffen hat. Libanon wird den Preis dafür zahlen«, schimpfte Olmert im Beisein von Japans Premier Junichiro Koizumi auf einer Pressekonferenz und kündigte »sehr schmerzvolle und weit reichende« Gegenschläge an. Verteidigungsminister Amir Peretz und der Geheimdienst hatten offenbar bereits alles vorbereitet. Die schnelle Mobilisierung der Truppen und die Ausweitung der Operation sind Belege dafür, dass Israel schon vor den Entführungen einen Plan in der Schublade hatte: Die zielgerichteten Bombardierungen beweisen, wie detailliert der Auslandsgeheimdienst samt Kollaborateuren Libanon ausgekundschaftet hatte: Die Israelis besitzen genaue Zieldaten von jeder Seifenfabrik, jeder Schule. Peretz wusste, dass er sein Versprechen, »Libanon 50 Jahre zurückzubomben«, sehr leicht würde einlösen können.

Am Sonntag berichtete die Zeitung »As Safir«, der libanesische Geheimdienst habe »ein Mitglied des israelischen Geheimdienstes verhaftet, das Aussagen über ein Netzwerk, bestehend aus wichtigen israelischen Zellen in Beirut und in Südlibanon«, gemacht habe. »Empfangsgeräte und Ausrüstungen wurden bei dem Israeli entdeckt, der bestätigt hat, verschiedene Gebäude in Beirut damit markiert zu haben, um den israelischen Kampfjägern zu helfen, punkgenau zu treffen. Der inhaftierte Spion war Schlüsselmitglied eines breit gefächerten israelischen Geheimdienstnetzwerks in Beirut.«

Kaum anzunehmen, dass USA-Präsident George Bush im Frühjahr eine seiner »gottgefälligen« Vorahnungen hatte, als die libanesische Zeitung »Ad Diyar« den Texaner mit den Worten zitierte: »Der libanesische Sommer wird heiß werden.« Olmerts Kriegsvorbereitungen waren offenbar längst im Gange und der Führer in Washington hatte ihm sein Okay gegeben.

* Aus: Neues Deutschland, 26. Juli 2006


Das Arsenal der Hisbollah Rätselraten um Hightech-Waffen

Israelische und amerikanische Experten sind sich einig, daß Hisbollah auch nach den israelischen Bombardements der letzten zwölf Tage über etwa zehntausend relativ einfache und zielungenaue Katjuscha-Werferraketen (vom Typ »Stalinorgel«) mit wenigen Kilometern Reichweite verfügt. Außerdem soll Hisbollah noch Hunderte der bis zu 100 Kilometer weit fliegenden Fajr-3- und Fajr-5-Raketen iranischer Bauart in ihrem Arsenal haben. Letztere werden von einer mobilen Plattform aus abgeschossen. Mit iranischen Raad-2- und Raad-3-Raketen, die bis zu 250 Kilometer Reichweite haben, griff Hisbollah nach eigenen Angaben die nordisraelische Hafenstadt Haifa an, nachdem die Israelis Beirut bombardiert hatten. Dabei erwiesen sich die um Haifa stationierten Batterien des amerikanischen Patriot-Systems, das angeblich angreifende ballistische Raketen abschießen kann, als nutzlos. Spekuliert wird, daß Hisbollah auch die iranische Zelzal-2-Rakete mit einer Reichweite von 400 Kilometern besitzt, die alle Ziele in Israel erreichen könnte. Weil die meisten Raketen mobil sind, sollen laut Quellen im Pentagon erst 1000 Hisbollah-Raketen verschossen oder zerstört worden sein.

Die Antwort der Hisbollah auf die israelische Aggression, die sich auf militärische Hochtechnologie stützt, hat Militärexperten verblüfft. »Hier herrscht die einhellige Meinung, daß sie (Hisbollah) mehr können als das libanesische Militär«, zitiert die Los Angeles Times z. B. einen hochrangigen US-Offizier. So wurde eine hochmoderne israelische Korvette der Saar-5-Klasse, die zu Beginn der Aggression libanesische Dörfer beschoß, von einem Hightech-Marschflugkörper des Typs C-802 iranischer Bauart getroffen und schwer beschädigt. Die ursprünglich chinesische Entwicklung namens Ying-Ji-802 wird bei der NATO unter der Bezeichnung »Saccade« geführt, fliegt knapp unter Schallgeschwindigkeit und trägt einen 165-Kilo-Sprengkopf.

Die von Hisbollah abgefeuerten Hightech-Waffen können nur nach eingehendem Training und Probeschüssen richtig bedient werden. Deshalb unterstellen die Israelis, daß iranische Spezialisten an der Seite der Hisbollah kämpfen, während amerikanische Quellen noch betonen, daß es dafür keinerlei Beweise gebe. Genausogut könnten Hisbollah-Angehörige in den letzten sechs Jahren im Iran an den neuen Waffen ausgebildet worden sein.
(rwr)

Aus: junge Welt, 24. Juli 2006




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