Waffenruhe im Libanon: Ruhe vor dem nächsten Sturm?
Von Margret Johannsen *
Im Folgenden dokumentieren wir eine aktuelle Analyse des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH) zum Nahost-Konflikt. Das Papier ist in der Reihe "Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik" im August 2006 erschienen und kann als pdf-Datei im Original hier herunter geladen werden: www.ifsh.de.
Seit 14. August 2006, 7:00 Uhr Ortszeit herrscht zwischen
Israel und dem Libanon eine von den Vereinten
Nationen vermittelte Waffenruhe. Während libanesische
Truppen im Südlibanon zwischen dem Litani und
der israelisch-libanesischen Grenze stationiert werden,
zieht Israel parallel dazu Truppenteile aus dem Nachbarland
ab. Internationale Truppen unter UNO-Mandat
sollen die Einstellung der Feindseligkeiten überwachen
und die libanesische Armee dabei unterstützen, die Autorität
der libanesischen Regierung auf das gesamte
libanesische Hoheitsgebiet auszuweiten. Vereinzelt
wird die Waffenruhe gebrochen. Im Gazastreifen gehen
die Operationen der israelischen Streitkräfte unvermindert
weiter.
Die Waffenruhe im Libanon war aus humanitären Gründen
zwingend erforderlich. Eine gute Nachricht wäre es,
wenn dem Schweigen der Waffen das Bemühen folgte,
an die Wurzeln des Nahost-Konflikts zu gehen. Eine
schlechte Nachricht wäre es, wenn die Erleichterung über
das Ende der Kampfhandlungen im Libanon dazu führte,
dass die internationale Diplomatie sich auf die Verwaltung
der Streitfragen zwischen Israel und seinen arabischen
Nachbarn beschränkt. Dieser Fehler ist schon in
der Vergangenheit zu oft gemacht worden.
Der jüngste Gewalteruption an zwei Fronten ist ein
Paradebeispiel für die Vielschichtigkeit des Nahost-
Konflikts, der im Grunde genommen ein ganzes Bündel
von Streitfragen darstellt, die alle direkt oder indirekt
miteinander zusammenhängen und sich auf verschiedenen
Schauplätzen an mitunter nichtigen Anlässen entzünden.
Dieses Bündel lässt sich in seine einzelnen
Bestandteile zerlegen. Das darf aber nicht zu dem Irrtum
verleiten, dass die Elemente des Konfliktes getrennt
voneinander und nacheinander bearbeitet werden
könnten. Wenn die Geschichte des Nahost-Konflikts
eines lehrt, dann dies: Es gibt keine Lösungen, ohne
dem Zentrum der Streitfragen zu Leibe zu rücken, allen
voran dem israelisch-palästinensischen Kernkonflikt im
Nahen Osten. Sonst wird sich dessen immenses Gewaltpotenzial
immer wieder Bahn brechen – mit fatalen
Konsequenzen nicht nur für Sicherheit und Frieden in
der gesamten Region, sondern auch für die Beziehungen
zwischen dem Westen, seinen muslimischen Einwanderern
und den islamisch geprägten Ländern. Wie
die im August 2006 in England und Deutschland vereitelten
Attentatspläne einmal wieder in Erinnerung riefen,
ist es längst eine Welt.
Der israelisch-arabische Konflikt ist nicht der einzige in
dieser Region. Aber die grenzüberschreitende Mobilisierungskraft
insbesondere des Palästina-Konflikts macht
ihn zum Energiespender für andere regionale Gewaltkonflikte.
Er liefert den Stoff für Hassprediger weit
über seine eigenen Schauplätze hinaus, weil sich in ihm
die Ohnmachtserfahrungen von Generationen wie in
einem Brennglas bündeln und die andauernde Besatzung
palästinensischen Territoriums diese Erfahrungen
unablässig aktualisiert. In seine Lösung endlich energisch
und mit langem Atem zu investieren gebietet sich
im eigenen Interesse Europas.
Im Folgenden werden zunächst die bilateralen Streitfragen
des Nahost-Konflikts beleuchtet. Dem folgt eine
Auseinandersetzung mit den Defiziten im Konfliktmanagement,
vor allem in den letzten sechs Jahren, in
denen nicht verhandelt wurde. Abschließend werden die
wesentlichen Elemente einer politischen Lösung zur
Diskussion gestellt. Dabei wird auch die Rolle der internationalen
Gemeinschaft, namentlich der USA und
der EU, kritisch beleuchtet. Sie haben mehr oder weniger
untätig zugesehen, wie sich nach fünf großen israelisch-
arabischen Kriegen der sechste Krieg zusammenbraute.
Ihr politisches Gewicht wird benötigt, damit es
nicht zum siebten kommt.
Die Streitfragen
Israelisch-libanesische Streitfragen
Formell sind der Libanon und Israel Feindstaaten. Ihre
Beziehungen sind seit Beendigung des ersten Nahost-
Krieges durch den Waffenstillstand von 1949 geregelt.
Danach dürfen beide Staaten im Grenzgebiet nur wenige
Truppen mit leichter Bewaffnung stationieren. Die
israelisch-libanesische Grenze ist die von 1923 zwischen
dem französischen und dem britischen Mandatsgebiet,
auf die sich die europäischen Kolonialstaaten
verständigten, als sie nach dem Ersten Weltkrieg die
Erbmasse des Osmanischen Reiches unter sich aufteilten.
Nach dem ersten Nahost-Krieg, als 100.000 palästinensische
Flüchtlinge im Libanon Zuflucht fanden,
herrschte an dieser Grenze knapp zwei Jahrzehnte lang
relative Ruhe.
Nach dem Sechstage-Krieg 1967 und der Vertreibung
der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) aus
Jordanien in den Libanon war es damit vorbei. Die PLO
begann Guerillakämpfer aus den palästinensischen
Flüchtlingslagern im Libanon zu rekrutieren, die vom
Grenzgebiet aus Sabotageakte und blutige Anschläge in
Israel verübten. Die israelische Seite reagierte mit
Kommandounternehmen, gelegentlichen Bombardierungen
und einer großangelegten Intervention, der „Operation
Litani“ (1978). 1982 vertrieb die israelische
Armee in der „Operation Frieden für Galiläa“ die PLO
und hielt danach den Süden des Landes bis 2000 besetzt.
Die libanesische Hisbollah (Partei Gottes) wuchs
in dieser Zeit unter syrischer Patronage und mit überwiegend
iranischen Waffen ausgerüstet zu einem neuen
militärischen Gegner auf, der die Besatzungsmacht
sowie die von ihr unterhaltene Südlibanesische Armee
bekämpfte und auch den Norden Israels unsicher machte.
Gleichzeitig wurde aus der Guerillaorganisation im
Laufe der Jahre eine politische Partei, die sich mit einem
gut funktionierenden sozialen Netz die Loyalität
der unterprivilegierten schiitischen Bevölkerung des
Südens sicherte, 1992 erstmals an Wahlen teilnahm und
seit 2005 an der Regierung beteiligt ist.
Israel verlangt von der libanesischen Regierung, dafür
Sorge zu tragen, dass vom Südlibanon aus nicht länger
Angriffe auf Israel erfolgen. Es habe seine Truppen im
Mai 2000 aus dem Libanon zurückgezogen und biete
seither keinen Anlass mehr zu Angriffen auf sein Territorium.
Die israelische Regierung sieht sich in ihrer
Auffassung durch die UNO bestätigt, die festgestellt
hat, dass Israel sich von libanesischem Territorium vollständig
zurückgezogen und damit die Resolution 425
(1978) des UN-Sicherheitsrates, die Israel bereits anlässlich
der „Operation Litani“ zum Abzug seiner Truppen
aus dem Libanon aufforderte, erfüllt habe.
Der Libanon hält dagegen, dass Israel weiterhin libanesisches
Territorium besetzt halte, weil es ein 25 Quadratkilometer
großes Gebiet am Fuße des Berges Hermon
im Golan nicht geräumt habe. Israel hatte diese so genannten
Schebaa-Farmen 1967 bei der Eroberung der
Golan-Höhen im Sechstage-Krieg ebenfalls besetzt und
betrachtet sie als syrisches Territorium. Die libanesische
Regierung wirft der UNO vor, falsche Karten benutzt
zu haben; die UNO spricht von „Unklarheiten“. Syrien bestätigt die libanesische Auffassung, dass dieses
Gebiet libanesisch sei, hat seinen Verzicht aber bisher
nicht völkerrechtlich verbindlich erklärt. Die libanesische
Regierung verlangt darüber hinaus von Israel, die
seit 2000 andauernden vielfachen Verletzungen des
libanesischen Luftraums durch israelische Kampfflugzeuge
einzustellen und ihr eine Karte mit den Minenfeldern
auszuhändigen, die Israel im Lande hinterlassen
hat. Und schließlich fordert der Libanon die Freilassung
aller libanesischen Gefangenen aus israelischer Haft.
Aus diesen ungelösten Streitfragen leitet die Hisbollah
ihren Sonderstatus als Widerstandsorganisation des
Libanon gegen Israel ab und nimmt weiterhin das Recht
für sich in Anspruch, Waffen zu tragen. Unter Missachtung
der
Resolution 1559 (2004) des UN-Sicherheitsrates,
die neben dem Rückzug aller ausländischen
Truppen aus dem Libanon auch die Entwaffnung und
Auflösung aller im Libanon aktiven Milizen verlangt,
präsentierte sich die Hisbollah als nationale Abschreckungsmacht
gegen Israel. Außerdem begründete sie
ihre militärischen Aktionen gegen Israel, wie das den
letzten Krieg auslösende Kommandounternehmen gegen
eine israelische Grenzpatrouille, mit der Solidarität,
die sie den bedrängten Palästinensern schulde.
Israel verlangt seit seinem Abzug von der libanesischen
Regierung die Entwaffnung der Hisbollah. Die Auflösung
und Entwaffnung aller Milizen war bereits 1989
im Frieden von Taif unter den Parteien des libanesischen
Bürgerkrieges einschließlich der Hisbollah vereinbart
worden, mit der Resolution 1559 stellte sich
auch der UN-Sicherheitsrat hinter diese Forderung. Der
libanesischen Regierung, in der seit Juni 2005 auch die
Hisbollah vertreten ist, gelang die Aushandlung der
Entwaffnungsmodalitäten und die Stationierung regulärer
libanesischer Truppen südlich des Litani aber nicht.
Im seit März 2006 geführten „Nationalen Dialog“ einigte
man sich bisher darauf, die bewaffnete Präsenz palästinensischer
Milizen außerhalb der Flüchtlingslager
zu beenden. Die Frage der Entwaffnung der Hisbollah-
Miliz wurde bisher vor allem im Kontext von Überlegungen
diskutiert, sie den regulären Streitkräften anzugliedern.
Israelisch-syrische Streitfragen
Auch Syrien und Israel sind formell Feindstaaten, deren
Territorien voneinander lediglich durch Waffenstillstandslinien
abgegrenzt sind. Überdies hat der dritte
Nahost-Krieg 1967 einen bis heute ungelösten Territorialkonflikt
hinterlassen. Israel eroberte die syrischen
Golan-Höhen und annektierte sie 1981. Heute leben auf
dem Höhenzug 17.000 israelische Siedler. Völkerrechtlich
handelt es sich um besetztes Gebiet. Unter Berufung
auf
Resolution 242 (1967) des UN-Sicherheitsrates
verlangt Syrien von Israel die vollständige Rückgabe
der Golan-Höhen als Voraussetzung für eine Beendigung
des formellen Kriegszustandes.
Mit dem Golan verbinden sich militärische und wasserpolitische
Sicherheitsinteressen. Durch die Besetzung
des Höhenzugs ist der Abstand zwischen Stellungen der
israelischen Armee und der syrischen Hauptstadt auf 35
km geschrumpft. Damaskus liegt seither in Reichweite
israelischer Artillerie-Geschütze. Israel betrachtet den
Golan als eine Pufferzone, die das Vorrücken gepanzerter
Verbände auf das israelische Kernland erschwert.
Die Kontrolle der Berghöhen bietet Sicherheit gegen
Beschuss der im nördlichen Galiläa gelegenen Ortschaften.
Die unmittelbar an der Grenze zum Libanon auf
dem Berg Hermon installierte Frühwarnstation erlaubt
es, einen großen Teil Syriens sowie den Süden des Libanon
und die Bekaa-Ebene auszuspähen.
Wie die irakischen Raketenangriffe auf Israel während
des Golfkrieges 1991 demonstrierten, nimmt die militärische
Bedeutung der Höhenzüge ab. Anders verhält es
sich mit ihrer wasserpolitischen Bedeutung. Im Lichte
des wachsenden Bedarfs an Wasser in allen Anrainerstaaten
des Jordanbeckens geht es im Streit um den
Golan auch, vielleicht sogar vordringlich, um die Kontrolle
über die dortigen Wasservorkommen. Die andauernde
Besetzung und völkerrechtswidrige Annexion des
Golan steht in der syrischen Interpretation außerdem in
der Tradition kriegerischer Landnahme durch Israel, die
bei nicht vollständig festgelegten völkerrechtlichen
Grenzen auf die Schaffung vollendeter Tatsachen auf
gewaltsamem Wege zielt.
Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Bedeutung
der unterschiedlichen Interpretation dessen, was ein
„vollständiger Rückzug“ Israels vom Golan wäre. Syrien
fordert Israels Rückzug auf dessen De-facto-
Besitzstand am Vorabend des Krieges von 1967. Syrien
hätte dann wieder Zugang zum See Genezareth und
zum Oberlauf des Jordan. Vorteilhafter für Israel wäre
ein Rückzug nur zur „internationalen Grenze“, das heißt
zu der zwischen Frankreich und Großbritannien vereinbarten
Grenze zwischen den Mandatsgebieten, die einige
Meter östlich des Sees Genezareth verläuft. Es geht
bei dieser Differenz also nicht um einige Quadratkilometer
mehr oder weniger. Für Syrien geht es um die
vollständige Beendigung der Besatzung durch Wiederherstellung
des Status quo am 4. Juni 1967, für Israel
geht es um die Kontrolle wichtiger Wasserressourcen.
Der Versuch Syriens, die Golan-Höhen zurückzuerobern,
scheiterte 1973. Auf dem Golan wurde eine von
UN-Beobachtern kontrollierte Pufferzone eingerichtet.
Seither ist die syrisch-israelische Grenze die ruhigste im
ganzen Nahen Osten. Der Schauplatz, auf dem der syrisch-
israelische Territorialkonflikt seither ausgetragen
wird, ist der benachbarte Libanon. Syrien unterstützte
die libanesische Hisbollah. Mit der schiitischen Miliz
ist das säkulare Regime in Damaskus nicht ideologisch
alliiert. Aber Syrien konnte Israel mit Hilfe der militärischen
Nadelstiche der Hisbollah einen Preis für die
andauernde Okkupation des Golan abverlangen, bei
begrenztem eigenem militärischen Risiko.
Erst mit der Madrider Nahostkonferenz 1991 wurde der
Golan zum Verhandlungsgegenstand. 1995 führten die
Militärs beider Seiten im Vorgriff auf eine Einigung
über Umfang und Fristen eines israelischen Rückzugs
Gespräche über Sicherheitsarrangements. 1999 erklärte
sich Syrien bereit, einer Reihe von Sicherheitsmaßnahmen
wie der Installation einer von amerikanischen und
französischen Truppen bemannten Frühwarnstation auf
syrischem Territorium sowie der Einrichtung einer gemeinsamen
Wasserbehörde zuzustimmen. Doch die
Verhandlungen scheiterten, weil Syrien auf einem vollständigen
israelischen Rückzug vom Golan bestand, der
israelische Ministerpräsident Ehud Barak dieser Forderung
aber nicht zuzustimmen wagte, weil es dafür laut
Meinungsumfragen keine Mehrheit in der Bevölkerung
gab und er ein Auseinanderbrechen seiner Koalition
befürchtete. Schließlich scheiterten die Verhandlungen
2000 an der Frage der Rückgabe von weniger als zwanzig
Quadratkilometer Land am nordöstlichen Uferstreifen
des Sees Genezareth. Lösungen, bei denen beide
Seiten ihre Interessen wahren, wären möglich. Voraussetzung
dafür ist allerdings, dass die Kontrahenten das
in der Region verbreitete Nullsummendenken, nach
dem der Vorteil des einen der Nachteil des anderen ist,
ablegen.
Israelisch-palästinensische Streitfragen
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist der
Kernkonflikt
des Nahen Ostens. Er begann im späten 19.
Jahrhundert als Konkurrenz zwischen palästinensischen
Arabern und zionistischen Juden um das Land zwischen
dem Jordanfluss und der östlichen Mittelmeerküste,
weitete sich nach der Proklamation des Staates Israel
1948 zum arabisch-israelischen Konflikt aus und führte
1967 zur Eroberung und Besetzung des Westjordanlandes
und des Gazastreifens durch das siegreiche Israel,
gegen die sich die Palästinenser 1987 in der ersten Intifada
erhoben. Der Konflikt manifestiert sich seit sechs
Jahren als Kräftemessen, bei dem weder die palästinensischen
Guerillaorganisationen noch die militärische
Supermacht des Nahen Ostens Zivilisten schonen, ohne
dass ein „Sieg“ der einen oder anderen Seite möglich
erscheint.
Im Kern geht es heute in diesem Konflikt um den Anspruch
der Palästinenser auf nationale Selbstbestimmung
in einem eigenen souveränen und entwicklungsfähigen
Staat auf arabisch/palästinensischem Territorium,
das Israel 1967 im Krieg eroberte, seither besetzt
hält und mit einem Netz von Siedlungen und Siedlerstraßen
überzog. Das Recht auf einen eigenen Staat
wird den Palästinensern nicht mehr ernstlich bestritten.
Zwar gibt es in Israel auch heute noch politische Strömungen,
die den Palästinensern Jordanien als Heimatstaat
anbieten. Aber in ihrer Mehrheit glaubt sowohl die
politische Klasse in Israel als auch die Bevölkerung,
dass ein Staat Palästina westlich des Jordan unumgänglich
ist, wenn es eine Chance auf Beendigung des Jahrhundertkonflikts
geben soll. Auch die Staatengemeinschaft
unterstützt grundsätzlich das Konzept zweier
Staaten auf dem Territorium des ehemaligen britischen
Mandatsgebietes – Palästina und Israel, beide in sicheren
Grenzen.
Territorium: Strittig ist allerdings die endgültige Gestalt
des palästinensischen Staates und damit naturgemäß
auch die Ausdehnung des Staates Israel bzw. die Frage,
über welches Territorium Israel legitime Kontrolle ausüben
soll. Die PLO, die für die Palästinenser in der
Vergangenheit die Verhandlungen mit Israel führte,
verlangt für den Staat Palästina das Westjordanland und
den Gazastreifen in den bis 1967 de facto geltenden
Grenzen. Bisher üben die Palästinenser lediglich eine
begrenzte Selbstverwaltung im Gazastreifen und in
Teilen des Westjordanlandes gemäß den Oslo-
Abkommen aus. Im Gazastreifen und auf 17,1 Prozent
des Westjordanlandes besitzt die palästinensische Autonomiebehörde
die Verwaltungshoheit und die Zuständigkeit
für Sicherheitsfragen. Außerdem ist sie auf weiteren
23,9 Prozent des Westjordanlandes für zivile Angelegenheiten
zuständig, während das israelische Militär
hier in letzter Instanz die Entscheidungskompetenz
in Sicherheitsfragen hat. Damit unterstehen der Autonomiebehörde
zwar 98 Prozent der palästinensischen
Bevölkerung. Aber in territorialer Hinsicht verblieben
59 Prozent des Westjordanlandes unter ausschließlicher
israelischer Kontrolle. Den Gazastreifen kontrolliert
Israel seit der 2005 erfolgten Auflösung der Siedlungen
und Militäreinrichtungen nunmehr von außen an den
Landgrenzen, im Luftraum und in den Küstengewässern.
Dies ist die Situation auf dem Papier. Die Wirklichkeit
aber ist nicht mit Prozentangaben zu erfassen,
sondern durch verschiedene Formen der Gewalt und
Gegengewalt geprägt.
Gewaltkontrolle: Die Krise, in der sich der Friedensprozess
seit der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Itzhak Rabin im November 1995 befand, führte
nach fünf Jahren schleppender Verhandlungen in die
Al-Aqsa-Intifada. Dieser zweite Aufstand der Palästinenser
gegen die Besatzung wurzelt in ihrer Enttäuschung
über den wirtschaftlichen Niedergang in den
Palästinensergebieten und die mageren Ergebnisse des
Friedensprozesses, der seit dem Abbruch der Camp
David-Verhandlungen im Juli 2000 für gescheitert galt. Israel verlangt von der Autonomiebehörde, dass sie, wie
es heißt, die „Infrastruktur des Terrors“ zerschlägt. Da
die Autonomiebehörde zur Entwaffnung der Milizen
nicht willens oder in der Lage war, griff Israel zur
Selbsthilfe. Die militärischen Operationen zur Niederschlagung
des Aufstandes führten dazu, dass die Institutionen
der Autonomiebehörde einschließlich derer des
Sicherheitssektors weitgehend zerstört wurden. Im Gazastreifen
breitete sich nach dessen einseitig, d.h. ohne
vertragliche Übereinkunft zwischen den Konfliktparteien
erfolgten Räumung im August 2005 Anarchie aus.
Der Regierungswechsel in den Palästinensergebieten im
März 2006 führte nicht zur Wiederherstellung der Ordnung,
unter anderem weil Israel, die USA und die Europäische
Union die neue von der Islamischen Widerstandsbewegung
Hamas geführte Regierung boykottierten
und ihr den Geldhahn zudrehten. Sie konnte die
Angestellten der Autonomiebehörde, auch die von der
Fatah dominierten Sicherheitskräfte, nicht bezahlen und
zeigte sich außerstande, den irregulär Bewaffneten Einhalt
zu gebieten.
Nicht länger hinnehmen will Israel vor allem den Beschuss
mit Qassam-Raketen aus dem Gazastreifen, den
die Milizen mit der anhaltenden Besetzung des Westjordanlandes
begründen. Seit palästinensische
Extremisten am 25. Juni 2006 bei einem Überfall auf
einen Militärposten einen israelischen Soldaten in ihre
Gewalt brachten, ist die Lage weiter eskaliert. Im Gazastreifen
nahm Israel die Provokation zum Anlass, die
„Operation Sommerregen“ zu starten, an der neben der
Luftwaffe auch 3.000 Mann der Bodentruppen beteiligt
waren, und bombardierte unter anderem den Amtssitz
des Ministerpräsidenten. Im Westjordanland verhafteten
israelische Soldaten Dutzende von Abgeordneten, Ministern
und Bürgermeistern der Hamas.
Über der Gewalteskalation im Gazastreifen, bei der
allein im Juli 183 Palästinenser starben, unter ihnen 78
Unbeteiligte, gerieten die anderen Streitfragen zwischen
Israelis und Palästinensern aus dem Blick. Ihr Ziel,
einen eigenen Staat, haben die Palästinenser bisher
nicht erreicht. Neben dem territorialen Streit geht es im
Wesentlichen um folgende Fragen:
Jerusalem: Das 1980 von der Knesset verabschiedete
Jerusalemgesetz erklärt das „vereinte Jerusalem“ (d.h.
West- und Ost-Jerusalem) zur „ewigen und unteilbaren
Hauptstadt“ Israels. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte in
Resolution 478 die mit diesem Gesetz verbundene Annexion
Ost-Jerusalems. Die Palästinenser beanspruchen
das vormals arabische Jerusalem (d.h. Ost-Jerusalem),
nach wie vor die größte und bedeutendste Stadt des
Westjordanlandes, als Hauptstadt ihres künftigen Staates.
Ohne eine Regelung der Jerusalemfrage scheint der
israelisch-palästinensische Gesamtkonflikt unlösbar,
denn keine Seite kann die Bedeutung der Stadt in der
Geschichte, den Erinnerungen und dem Alltag der beiden
Völker ignorieren.
Siedlungen: Zu klären ist weiterhin die Zukunft der
nach Völkerrecht illegalen israelischen Siedlungen in
den besetzten Gebieten. In Ost-Jerusalem leben ca.
200.000, im Westjordanland ca. 250.000 jüdische Siedler,
die Mehrzahl von ihnen in großen Siedlungsblöcken.
Nach den Vorstellungen der israelischen Regierung
sollen nur die kleinen Siedlungen mitten im Westjordanland
aufgelöst werden. Die Palästinenser bestehen
auf einem zusammenhängenden Staatsgebiet. Siedlungsblöcke
wie Maale Adumin östlich von Jerusalem
und Ariel östlich von Tel Aviv, beide tief im Westjordanland
gelegen, wären damit nicht vereinbar.
Flüchtlinge: Eine weitere Hürde liegt im Flüchtlingsproblem.
Von den weltweit neun bis zehn Millionen
Palästinensern sind über zwei Drittel Flüchtlinge, die
meisten Staatenlose. Das UN-Hilfswerk für die Palästinaflüchtlinge
betreut im Nahen Osten 4,3 Millionen
Flüchtlinge, ein Drittel von ihnen lebt in Lagern. Die
Palästinenser bestehen auf dem Rückkehrrecht der
Flüchtlinge. Sie begründen dies mit völkerrechtlichen
Prinzipien und Resolution 1948 der UN-Vollversammlung,
wonach die Flüchtlinge grundsätzlich
die Wahl zwischen Rückkehr, Verbleib im Gastland
oder Ansiedlung in einem Drittstaat haben sowie
Anspruch auf Rückgabe von Eigentum bzw. Entschädigung
für erlittene Verluste durch den Staat, der die
Flüchtlingssituation verursacht hat. Israel lehnt die Übernahme
der Verantwortung für die Flüchtlingssituation
mit dem Argument ab, die Flüchtlinge seien Opfer
arabischer Aggression unmittelbar vor und nach der
Staatsproklamation. Überdies verbiete das Konzept
Israels als jüdischer Staat, eine Rückkehr der überwiegend
muslimischen Palästinenser in relevanten Größenordnungen
(z.B. der rund 650.000 Flüchtlinge in den
jordanischen, libanesischen und syrischen Camps) zuzulassen.
Statt Verhandlungen: Spiel mit dem Feuer
Die Hoffnung, die Konflikte würden sich von alleine
erledigen, hat sich als Spiel mit dem Feuer erwiesen.
Versuche, die eine oder andere Streitfrage isoliert und
ohne Übereinkunft mit dem Kontrahenten erledigen zu
wollen, sind auf allen drei Schauplätzen gescheitert.
Der israelisch-libanesische Schauplatz
Seit dem Rückzug der israelischen Truppen aus dem
Süden des Libanon engagierten sich die Konfliktparteien
in einem Wechselspiel von Grenzverletzungen nach
Art eines tit-for-tat (etwa: wie du mir so ich dir) – die
einen am Boden, die anderen im Luftraum und in den
Küstengewässern. In einer stillschweigenden Übereinkunft
betrachteten die Hisbollah und Israel die umstrittenen
Schebaa-Farmen als einen legitimen Schauplatz
begrenzter Gewaltakte. Diese Art von „Kommunikation“
birgt ein erhebliches Eskalationsrisiko. Wer die
Waffen sprechen lässt anstatt miteinander zu reden,
läuft Gefahr, die „Schmerzgrenze“ des Gegners falsch
einzuschätzen.
Aufschlussreicher im Sinne der Konfliktprävention als
die Schuldfrage ist die Dynamik derartiger Prozesse. Es
gibt in Vergeltungszyklen keine klaren Regeln und
keinen Schiedsrichter. Sie können darum leicht der
Kontrolle entgleiten. Der vorliegende Fall kann das
illustrieren. Das Gewaltniveau war in diesem low intensity
conflict bereits so hoch, dass eine weitere kleine
Drehung an der Schraube der Gewalt zum Auslöser
eines Krieges wurde, an dessen Ende weit mehr als
tausend Tote, eineinhalb Millionen Flüchtlinge und
Schäden in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar standen.
Natürlich liegt hier weder ein Automatismus vor
noch sind die Konfliktparteien in diesen Krieg „hineingeschlittert“.
Doch es ist ebenso wenig plausibel, dass
es die Hisbollah darauf angelegt hat, einen regelrechten
Feldzug Israels gegen den Libanon zu provozieren. Gut
möglich, dass ihr nicht klar war, was für die andere
Seite auf dem Spiel stand.
Für den israelischen Ministerpräsidenten zielte der
Feldzug auf die Absicherung des von ihm getragenen
Projektes der einseitig vorgenommenen „Trennung“
von den Palästinensern vermittels der Wiederherstellung
der israelischen Abschreckung. Die Entführung an
der Grenze zum Gazastreifen, wenig später dann die
Entführung an der Grenze zum Libanon lieferten den
Kritikern dieses Projektes in Israel Munition: Israel
habe nicht Sicherheit erhalten, sondern nur Gewalt geerntet.
Derart bedrängt entschied sich die Regierung,
die Lage zu „bereinigen“ und schlug im Vertrauen auf
die eigene militärische Stärke mit Übermaß zurück.
Dass die Hisbollah diese Reaktion kalkuliert hatte, ist
mehr als zweifelhaft. Sie hatte eine ganz andere Agenda.
Um bei der eigenen Klientel und der „arabischen
Öffentlichkeit“, an deren Adresse die Solidaritätsrhetorik
von Hisbollah-Führer Nasrallah gerichtet war, zu
punkten, hätte ihr ein Gefangenenaustausch wie z.B.
2004 vollauf genügt. Sie hatte seit längerem damit gedroht,
die in Israel einsitzenden libanesischen Häftlinge
zu „befreien“. Es ist anzunehmen, dass die Hisbollah-
Führung sich schlicht verkalkuliert hat.
Der israelisch-syrische Schauplatz
Seit 1990, als Syrien den libanesischen Bürgerkrieg
beenden half, danach seine Soldaten im Lande beließ
und in der libanesischen Politik den Ton angab, sicherten
syrische Truppen den Nachschub aus Iran für die im
Grenzgebiet kämpfende Hisbollah-Miliz. Syrien förderte
die Schiitenmiliz, um von Israel Konzessionen in der
Golan-Frage zu erlangen.
Seit dem Abbruch der Verhandlungen im Jahre 2000
herrscht zwischen Israel und Syrien so etwas wie Funkstille.
Wie bereits die Likud-Regierung unter Benjamin Netanjahu
hielt auch die unter Ariel Scharon eine Beilegung
des Territorialkonflikts mit Syrien nicht für dringlich – im
Gegensatz zu den Regierungen unter der Führung der
Arbeiterpartei in den 1990er Jahren. Die USA investierten
bis 2000 zwar in die Vermittlung einer Verhandlungslösung,
weil Syrien lange Zeit als ein Schlüsselstaat für
Frieden im Nahen Osten galt – z.B. wird Henry Kissinger
die Einschätzung zugeschrieben, dass es ohne Ägypten
keinen Krieg, ohne Syrien keinen Frieden geben könne.
Aber mit seiner distanzlosen Übernahme der israelischen
Position in der Golan-Frage trug das US-Vermittlerteam
unter Präsident Clinton nicht unerheblich zum Scheitern
der Verhandlungen bei. Die Administration George W.
Bushs schließlich sah Syrien nur noch durch die Brille des
Krieges gegen den Terror und setzte auf Isolierung. Solchermaßen
gestärkt konnte es sich auch Scharons Amtsnachfolger
Ehud Olmert von der Kadima-Partei leisten,
syrische Verhandlungsofferten wie zuletzt im April 2006
ohne nähere Prüfung auszuschlagen.
Der israelisch-palästinensische Schauplatz
Nach dem gescheiterten Gipfeltreffen in Camp David
im Juli 2000 unternahmen die Konfliktparteien Ende
Januar 2001 einen letzten Versuch, die schwierigen
Endstatusfragen im Palästina-Konflikt zu lösen. Die
Rahmenbedingungen waren denkbar ungünstig: Die Al-
Aqsa-Intifada war seit drei Monaten im Gange, der
israelische Regierungschef hatte seinen Rücktritt eingereicht
und befand sich im Wahlkampf, die Meinungsforscher
prognostizierten einen Erdrutschsieg für den
Kandidaten der Opposition, und die neue USAdministration
von George W. Bush blieb dem Treffen
fern.
Wie die Beteiligten und der Nahost-Sondergesandte der
Europäischen Union Miguel Moratinos bezeugten, arbeiteten
die Teilnehmer auf der Basis von Vorschlägen
Präsident Clintons für eine Reihe von Streitfragen –
Grenzen/Territorium, Jerusalem und Flüchtlinge –
Lösungswege heraus, die eine Einigung nicht mehr
aussichtslos erscheinen ließen. Am Ende fehlte die Zeit.
Der israelische Regierungschef, der keine parlamentarische
Mehrheit mehr besaß, brach die Gespräche
schließlich ab. Die Neuwahlen gewann Ariel Scharon.
Seither wird nicht mehr verhandelt. Für die israelische
Regierung gibt es „keinen Partner“ auf der anderen
Seite – eine Schuldzuweisung, die einem Mantra gleich
den israelischen Diskurs durchzieht und eine konstruktive
Verarbeitung der Erfahrungen und Ergebnisse des
Friedensprozesses blockiert. Der 1996 zum Präsidenten
gewählte Yassir Arafat war für Scharon kein Partner,
weil er die Intifada „angezettelt“ und den Terror finanziert
habe. Arafats 2005 gewählter Nachfolger Mahmoud
Abbas war für ihn kein Partner, weil er zwar die
Intifada kritisierte, aber zu schwach war, um eine Zerschlagung
der Milizen zu riskieren. Die in den Parlamentswahlen
2006 siegreiche Hamas ist für Olmert kein
Partner, weil sie auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit
besteht bzw. keine „Vorleistungen“ zu erbringen bereit
ist: Sie schwört der Gewalt nicht ab, erkennt Israel nicht
an und lässt sich nicht auf die zwischen Israel und der
PLO getroffenen Vereinbarungen verpflichten. Die am
Vorabend von „Operation Sommerregen“ zwischen
Hamas und Fatah getroffene Vereinbarung über die
Errichtung des palästinensischen Staates auf den 1967
besetzten Gebieten, die sich als Annäherung der Hamas
an die Zwei-Staaten-Lösung werten ließe, wertete der
israelische Regierungschef als irrelevant.
Mit der Begründung, „keinen Partner“ für Verhandlungen
zu haben, entschied Israel sich für eine einseitige
„Trennung“ von den Palästinensern. Im Gazastreifen
wurde sie bereits vollzogen. Israel entledigte sich mit
der Räumung eines Gebietes so groß wie das Land
Bremen auf einen Schlag aus seiner Sicht jeglicher Verantwortung
für 1,4 Millionen Palästinenser unter Beibehaltung
der faktischen Oberhoheit. Im Westjordanland
dient dem Trennungsprojekt der Bau der Sperranlage,
mit Hilfe derer Israel die Annexion der großen
Siedlungsblöcke vorbereitet. In den Augen der Palästinenser
sind Gazastreifen und Westjordanland aber nicht
zwei separate Territorien, sondern untrennbare Teile
ihres künftigen Staates Palästina. Der Gazastreifen ist
nun zwar „befreit“ (wenn auch von der Außenwelt abgeschnürt),
aber das Westjordanland (und mit ihm Jerusalem)
ist es nicht – und in den Augen der Militanten
legitimieren die israelischen Annexionspläne die Fortsetzung
des „Befreiungskampfes“.
Die internationale Gemeinschaft, vertreten durch das
2002 gebildete „Nahost-Quartett“ (EU, Russland, UNO,
USA), sah der Eskalation der Gewalt mehr oder weniger
tatenlos zu. Das Quartett legte mit der
Road Map
zwar einen Stufenplan zur Beilegung des Konflikts vor,
der ausdrücklich die Zwei-Staaten-Lösung, d.h. einen
souveränen Staat Palästina „Seite an Seite“ Israels, als
Ziel nennt. Aber die Road Map enthält weder einen
verbindlichen Zeitrahmen für die Konfliktlösung, noch
sieht sie einen Mechanismus vor, Sabotageversuche zu
vereiteln. Auf die Gewalteskalation nach dem israelischen
Abzug aus dem Gazastreifen wusste das Nahost-
Quartett keine Antwort. Die palästinensischen Wahlen,
von denen eine Erneuerung des politischen Systems
ausgehen sollte, führten nicht zur Einbindung der militanten
Opposition und Durchsetzung des Gewaltmonopols
der Autonomiebehörde, sondern zu einem Machtkampf
zwischen dem Verlierer der Wahl (Fatah) und
dem Wahlsieger (Hamas). Den Milizen war unter diesen
Umständen nicht beizukommen.
In dieser Lage scheint das Nahost-Quartett auf zwei
Wege gesetzt zu haben, den Radikalisierungsprozess
bei den Palästinensern umzukehren. Die gewählte
palästinensische Regierung sollte durch diplomatische
Isolation und finanzielle Strangulierung zur Erfüllung
der drei Forderungen Israels und des Quartetts gezwungen
oder zu Fall gebracht werden und derweil die israelische
Armee die Dezimierung der Milizen betreiben.
Damit nahm das Quartett in Kauf, dass sich die Kontrahenten
immer tiefer in ihren Gewaltzirkeln verstrickten.
Grundrisse einer Konfliktlösung
Die Verantwortung der Staatengemeinschaft
Es fehlt nicht an Vorschlägen für die Regelung der
Streitfragen zwischen Israel, Syrien, dem Libanon und
den Palästinensern, erarbeitet sowohl von Experten der
Streitparteien als auch von Seiten Dritter. Die folgenden
Elemente einer umfassenden Konfliktlösung sind nicht
neu. Gemangelt hat es bisher aber an dem politischen
Mut der Konfliktparteien bzw. ihrer Regierungen, die
gewohnten Frontlinien zu verlassen und dies innenpolitisch
hinreichend zu kommunizieren, sowie an der Bereitschaft
einflussreicher Dritter, sie dazu zu drängen
und dafür auch Druckmittel einzusetzen. Fatal hat sich
insbesondere ausgewirkt, dass das Nahost-Quartett,
namentlich die USA und die EU, darauf verzichtet haben,
auf Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien
zur Beilegung aller ihrer Streitfragen zu bestehen. Vielleicht
war man der Ansicht, dass der low intensity war
an den beiden unruhigen Fronten des Nahost-Konflikts
einen solchen Einsatz politischen Kapitals nicht rechtfertige.
In diesem Fall hat man die Risikobereitschaft
der im Gazastreifen und Südlibanon operierenden Guerillaorganisationen
unterschätzt und Israels Bereitschaft,
mit Augenmaß zu operieren, überschätzt. Das muss
erstaunen. Denn die Spannungen, die sich in derartigen
Grenzscharmützeln aufbauen, haben sich im Nahen
Osten schon wiederholt kriegerisch entladen und es war
nicht das erste Mal, dass der Auslöser angesichts der
vielen Toten und Verletzten sowie des Ausmaßes an
Zerstörungen relativ nichtig erscheint.
Das Nahost-Quartett muss erkennen, dass es, vielleicht
durch den einen oder anderen Regionalstaat (z.B. Saudi-
Arabien, Ägypten und die Türkei) verstärkt, die
Rahmenbedingungen für Verhandlungen positiv beeinflussen
und sich für Verhandlungen mit dem Ziel einer
Beilegung aller Streitfragen im Sinne einer Gesamtlösung
engagieren muss, soll eine erneute militärische
Eskalation der Konflikte ausgeschlossen werden.
Elemente einer Beilegung der israelischlibanesischen
Streitfragen:
Militärische Sicherheit: Libanesische Einheiten, unterstützt
von einer internationalen Truppe mit einem
UNO-Mandat, übernehmen die Kontrolle im Grenzgebiet.
Syrien stellt seine Waffenlieferungen an die Hisbollah
ein. Israel zieht seine Truppen aus dem Südlibanon
ab. Der Libanon nimmt den „Nationalen Dialog“
wieder auf, in dem eine Entscheidung über die Zukunft
der Hisbollah-Miliz zu treffen ist, mit dem Ziel,
Resolution
1559 des UN-Sicherheitsrates zu implementieren,
die eine vollständige Entwaffnung aller Milizen im
Libanon verlangt. Eine mögliche Option für die Entwaffnung
der Hisbollah-Miliz ist ihre Eingliederung in
die reguläre libanesische Armee.
Territoriale Fragen: Israel zieht seine Truppen von den
Schebaa-Farmen ab und übergibt das Gebiet der UNO.
Unter Beteiligung der UNO schließen der Libanon und
Syrien eine völkerrechtlich verbindliche Übereinkunft,
wonach der Libanon die Hoheitsrechte über das Gebiet
der Schebaa-Farmen erhält.
Vertrauensbildende Maßnahmen: Israel und der Libanon
vereinbaren einen Gefangenenaustausch, bei dem
alle Soldaten, irregulären Kämpfer und Zivilisten der
Gegenseite übergeben werden. Israel händigt der libanesischen
Regierung Karten mit den von den israelischen
Truppen im Libanon verlegten Landminen aus
und bietet seine Hilfe bei der Minenräumung an.
Humanitäre und wirtschaftliche Maßnahmen: Mit internationaler
Hilfe beginnt der Wiederaufbau der zerstörten
Wohngebiete und Infrastruktur des Libanon. Die
aus dem Südlibanon Geflohenen kehren so rasch wie
möglich in ihre Wohnorte zurück.
Elemente einer Beilegung der israelisch-syrischen
Streitfragen
Territoriale Fragen: Syrien und Israel nehmen Verhandlungen
über die Golan-Höhen auf. Auf Ersuchen
beider ermittelt die UNO die Frontlinie, die am 4. Juni
1967 das syrisch kontrollierte von dem israelisch kontrollierten
Gebiet trennte. Ziel der Verhandlungen ist
die Implementierung von
Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates,
wonach der territoriale Besitzstand vor
Ausbruch des Sechstage-Krieges wiederherzustellen ist.
Militärische Sicherheit: Syrien willigt in die Beschränkung
seiner Truppenstärke auf dem Golan ein und verzichtet
hier auf die Dislozierung schwerer Waffen. Auf
dem Höhenzug werden für Israelis zugängliche Frühwarneinrichtungen
installiert. Zusätzlich werden internationale
Militärbeobachter stationiert, deren Nationalität
Syrien und Israel je zur Hälfte bestimmen. Syrien
stimmt auch der Entsendung israelischer Militärbeobachter
zu, falls dies von Israel gewünscht wird. Die
USA und die EU bieten beiden Seiten Satellitenaufnahmen
für Verifikationszwecke bzw. zur frühzeitigen
Entdeckung eventueller Kriegsvorbereitungen an.
Wasserrechte: Unabhängig von der Grenzziehung
erhalten beide Seiten Zugang zum östlichen Ufer des
Sees Genezareth; Israel außerdem das Recht auf
ungeschmälerte Wasserversorgung aus dem See.
Syrien verpflichtet sich, alles zu unterlassen, was
den Wasserzufluss zum See beeinträchtigt. Um die
umweltverträgliche Nutzung des östlichen Seeufers
zu gewährleisten, wird dort ein Naturpark mit Nutzungsbeschränkungen
(z.B. für Kraftfahrzeuge oder
Wassersport) errichtet.
Elemente einer Beilegung der israelisch-palästinensischen
Streitfragen
Vertrauensbildende Maßnahmen: Israel und die PLO
vereinbaren einen Gefangenenaustausch. Vordringlich
sind folgende Maßnahmen: Die Palästinenser übergeben
den im Juni 2006 verschleppten israelischen Soldaten
den israelischen Behörden, und Israel entlässt die
Ende Juni 2006 verhafteten Abgeordneten und Minister
von der Hamas sowie alle Frauen und Minderjährigen
aus der Haft. Parallel zu israelisch-palästinensischen
Verhandlungen über ein Endstatusabkommen entlässt
Israel alle politischen Gefangenen aus der Haft, die vor
dem 13. September 1993 gegen Israel gerichtete Straftaten
begingen. Im Endstatusabkommen wird die Übergabe
aller Häftlinge an die palästinensische Regierung
vereinbart.
Militärische Sicherheit: Israel stellt alle militärischen
Operationen im Gazastreifen ein und beendet hier sowie
im Westjordanland die Politik des gezielten Tötens
bekannter oder vermeintlicher Führungspersonen und
Aktivisten. Die palästinensische Regierung löst die
Milizen auf. Ihre Waffen werden konfisziert und ihre
Kämpfer in die palästinensischen Sicherheitskräfte integriert
oder demobilisiert. Der palästinensische Staat
besitzt nur Streitkräfte mit leichter Bewaffnung. Eine
multinationale Truppe wird im Gazastreifen und Westjordanland
stationiert. Sie überwacht die Auflösung und
Entwaffnung der Milizen, sichert die Grenzen und gewährleistet
die territoriale Integrität des Staates. Für
Recht und Ordnung sind palästinensische Sicherheitskräfte
verantwortlich.
Territoriale Fragen: Israel und die um Hamas erweiterte
PLO nehmen Verhandlungen über die Demarkierung
der künftigen Grenze zwischen dem Staat Israel und
dem Staat Palästina auf. Die Grenze orientiert sich an
der Waffenstillstandslinie von 1949, die bis 1967 das
von Israel kontrollierte Territorium von dem jordanisch
kontrollierten Westjordanland bzw. dem ägyptisch verwalteten
Gazastreifen trennte. Grenzkorrekturen sind im
Einvernehmen möglich. In Jerusalem fallen die von
Juden bewohnten Stadtbezirke unter israelische, die von
Palästinensern bewohnten Stadtbezirke unter palästinensische
Souveränität. Zwei Korridore verbinden das
Westjordanland mit dem Gazastreifen.
Israelische Siedler und palästinensische Flüchtlinge:
Die israelischen Siedler außerhalb der staatlichen Grenzen
Israels werden nach Israel umgesiedelt. Jeder palästinensische
Flüchtling hat das Recht auf einen ständigen
Wohnsitz im palästinensischen Staat. Nimmt er es nicht
in Anspruch, kann er sich für einen Wohnsitz im derzeitigen
Aufnahmestaat, in Israel oder einem Drittstaat
entscheiden, ohne dass dies einen Rechtsanspruch konstituiert.
Jedes potenzielle Aufnahmeland, mit Ausnahme
Palästinas, legt fest, wie viele Flüchtlinge es in welchen Zeiträumen aufzunehmen bereit ist, d.h. die permanente
Ansiedlung in Israel wie auch in anderen Aufnahmestaaten
liegt in deren souveräner Entscheidung.
Die Staatengemeinschaft unterstützt diese Form der
„Rückkehr“, indem sie Wohnungsbauprogramme und
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Palästina finanziert.
Die wohlhabenden arabischen Staaten, die früher den
palästinensischen Befreiungskampf subventioniert haben,
fördern die Bereitschaft für die Aufnahme von
Flüchtlingen und die Gewährung voller Bürgerrechte
seitens weniger wohlhabender Staaten wie der Libanon
und Syrien durch großzügige Finanzhilfen.
Patentlösungen gibt es nicht
Das Schwert Alexanders, das man sich mitunter herbeiwünschen
möchte, um den Knoten dieses hochkomplexen
Konfliktes zu durchhauen, ist Geschichte und
ohnehin ein historischer Mythos. Die diplomatische
Kunst muss darin bestehen, den Knoten aufzuknüpfen,
die Teilkonflikte parallel mit gleicher Dringlichkeit zu
bearbeiten und dabei ihren Besonderheiten gerecht zu
werden, ohne eine Gesamtlösung aus dem Auge zu
verlieren.
Weiterführende Literatur-
Muriel Asseburg, Blockierte Selbstbestimmung: Palästinensische
Staats- und Nationenbildung während
der Interimsperiode, Baden-Baden 2002.
-
Helga Baumgarten, Hamas. Der politische Islam in
Palästina, München 2006.
-
International Crisis Group, Middle East Endgame I:
Getting To A Comprehensive Arab-Israeli Peace Settlement,
Middle East Report Nr. 2, 16. Juli 2002.
-
International Crisis Group, Middle East Endgame II:
How A Comprehensive Israeli-Palestinian Peace Settlement
Would Look, Middle East Report Nr. 3, 16.
Juli 2002.
-
International Crisis Group, Middle East Endgame III:
Israel, Syria and Lebanon – How Comprehensive
Peace Settlements Would Look, Middle East Report
Nr. 4, 16. Juli 2002.
-
Margret Johannsen, Israel im Konflikt. Zur Friedensfähigkeit
einer tief gespaltenen Gesellschaft, Hamburger
Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik,
Heft 142, Februar 2006.
-
Margret Johannsen, Lehren aus „Oslo“: Der israelisch-
palästinensische Friedensprozess, in: Corinna
Hauswedell (Hrsg.), Deeskalation von Gewaltkonflikten
seit 1945, Essen 2006, S. 189-207 (i.E.).
-
Margret Johannsen, Der Nahost-Konflikt, Wiesbaden
2006 (i.E.).
-
Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas. Von der osmanischen
Eroberung bis zur Gründung des Staates
Israel, München 2002.
-
Gernot Rotter/Schirin Fathi (Hg.), Nahostlexikon.
Der israelisch-palästinensische Konflikt von A-Z,
Heidelberg 2001.
-
Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und
Araber vor der Staatsgründung Israels, München
2005.
-
Clayton E. Swisher, The Truth about Camp David.
The Untold Story About the Collapse of the Middle
East Peace Process, New York 2004.
-
Bernard Wasserstein, Israel und Palästina. Warum
kämpfen sie und wie können sie aufhören? München
2003.
Quelle: www.ifsh.de
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