Im Museum des Widerstands
Begegnungen mit der Hisbollah im ehemals von Israel besetzten Teil des Libanon
Von Karin Leukefeld *
Das »Widerstandsmuseum«
liegt hoch oben auf einem
Berg über dem Dorf Mleeta
im Herzen des Südlibanon.
Seine in ungewöhnlicher Art präsentierten
Ausstellungsstücke erzählen
vom Krieg: Einzementierte Panzer, von
Tarnnetzen umfangene Panzer, umgekippte
Panzer, verknotete Kanonenrohre,
ausgeschüttete Patronenkisten, Helme,
Stiefel, Gewehre – Waffen, die der
Hisbollah in die Hände gefallen waren.
Genau zehn Jahre, nachdem sich die
israelische Besatzungsarmee quasi über
Nacht aus dem Südlibanon zurückgezogen
hatte, wurde das Museum von
der Hisbollah, der schiitischen »Partei
Gottes«, eröffnet. Das war im Mai 2010.
Zwei weitere Bauphasen sind geplant,
die gesamte Anlage soll 2013 fertiggestellt
sein.
Mleeta war seit der israelischen Invasion
1982 eine zentrale Basis des Widerstands
gegen die israelische Besatzung,
und mit »Widerstand« ist im Libanon
normalerweise die Hisbollah gemeint.
»Sich widersetzen ist eine Waffe«, ist auf
einem der Informationsschilder zu lesen,
die in arabischer und englischer Sprache
entlang des Rundgangs aufgestellt
sind. Der Weg führt unter Tarnnetzen
und Baumkronen, die einen natürlichen
Schutz gegen Flugzeuge bieten, durch
ein dicht bewachsenes, unzugängliches
Gelände am Berghang. Man erfährt, wie
der Nachschub für die Front organisiert
wurde, sieht eine Krankenstation. Speziell
ausgebildete, schwer bewaffnete und
uniformierte Elitekämpfer und Sondereinheiten
eilen durch das Unterholz, so
gut getarnt, daß man die äußerst lebensecht
dargestellten Figuren erst auf den
zweiten Blick richtig wahrnimmt.
Auch ein Hinweis auf die »Märtyrer«
fehlt nicht. Das sind die Kämpfer, die
bereit sind, bei einer »gezielten Aktion«
ihr Leben zu lassen. Diese Einheit aus
»Hunderten ausgebildeten und ausgerüsteten
Freiwilligen« steht unter dem
direkten Kommando der obersten Führung
des Widerstandes, heißt es auf dem
Informationsschild. Schließlich führt der
Weg in ein Tunnelsystem, in dem Aufenthaltsräume,
die Küche, die Kommandozentrale
und die einfachen Kommunikationssysteme
zu sehen sind, die in
den frühen 80er Jahren der Hisbollah bei
ihrem Kampf gegen die hochgerüstete
israelische Armee zur Verfügung standen.
Aus dem Untergrund geht es an »die
Front«, heute eine luftige Plattform, die
den Blick bis an die Küste freigibt.
»Früher war diese Gegend fast täglich
in den Nachrichten«, erinnert sich
Haithem und blickt über die Hügel und
Dörfer seiner südlibanesischen Heimat.
»Ständig gab es hier Gefechte zwischen
den Israelis und dem Widerstand.« In
trauter Einheit flattern über ihm die Fahnen
der Hisbollah und des Libanon im
Wind, wobei die rot-weiße libanesische
Flagge mit der Zeder etwas höher steht
als das gelbe Banner der Hisbollah. Damals
habe er sich nie vorstellen können,
daß die Israelis irgendwann den Libanon
wieder verlassen würden. »Ohne die Hisbollah
hätten wir das nie geschafft«, sagt
er nachdenklich. »Ihnen haben wir alles
zu verdanken was wir heute haben, niemand
kümmerte sich um uns, und die Israelis
waren grausam.« Als junger Mann
fand Haithem Arbeit in den Vereinigten
Arabischen Emiraten, wo er auch seine
Frau kennenlernte. Nach dem Abzug der
Israelis aus seiner Heimat kehrte er in
den Libanon zurück und lebt heute wieder
in seinem Geburtsort bei Tyr. Seine
kleine Tochter gehe zur Schule und – »Inshallah
«, so das Schicksal will – könnten
er und seine Frau vielleicht eines Tages
noch ein zweites Kind haben, wenn es
ihnen wirtschaftlich besser gehe und die
politische Lage sich stabilisiere.
Haithem ist einer von vielen typischen
Anhängern der Hisbollah. Als die erste
israelische Invasion 1978 seine Heimat
überrollte, floh die Familie nach Beirut.
Als Jugendlicher erlebte er den Vormarsch
der israelischen Truppen auf die
Hauptstadt 1982 hautnah mit. Auch wenn
er weder Kämpfer noch Mitglied ist, unterstützt
Haithem die »Partei Gottes« ohne
Wenn und Aber. Das tue er aus freien
Stücken, erklärt er mit Nachdruck. Ihr
Kampf und ihre Politik hätten ihn überzeugt.
Gegner der Organisation werfen
der Hisbollah hingegen vor, sie habe bei
dem Besuch des iranischen Präsidenten
Ahmadinedschad Mitte Oktober ihren
Anhängern Geld gegeben, damit sie als
»Jubelperser« am Straßenrand Fahnen
schwenken und Rosenblätter werfen:
»Alles Geld, was sie haben, kommt aus
dem Iran.«
Haithem weist diese Unterstellung zurück:
»Wir sind doch keine Schafe, die
man vor sich hertreiben kann«, empört
er sich. Manchmal gebe die Hisbollah an
solchen besonderen Tagen Familien, die
wenig Geld hätten, Benzingutscheine,
mehr nicht. »An dem Tag, als Ahmadinedschad
nach Beirut kam, sind meine
Mutter und Schwestern vor Morgengrauen
aufgestanden. Sie haben gebetet und
früh das Haus verlassen, um einen guten
Platz an der Straße zu bekommen, um ihn
zu sehen.« Niemand habe ihnen Geld dafür
angeboten, sie seien aus voller Überzeugung
gegangen.
Gespaltener Libanon
Doch die »Partei Gottes« spaltet die
Gemüter. »Jeder hat hier Angst vor der
Hisbollah, vor den Schiiten. Sie haben
Waffen, und sie leben völlig anders als
wir anderen Libanesen«, sagt beispielsweise
ein junger Druse. »Sie haben kein
Privatleben, alles ist von der Religion
bestimmt.« Ein Libanese mit europäischem
Paß, der lieber ungenannt bleiben
möchte, bezeichnet die Organisation
sogar als »Islamofaschisten«, die »keine
Demokraten« seien, sondern »an ihren
göttlichen Auftrag« glaubten. Der Haß
auf die Hisbollah und ihre Anhänger sei
im Libanon groß, sagt dieser Mann, auch
wenn sich viele angesichts einer militärisch sehr schwachen libanesischen Armee
fragen, wer sie beschützen könne. Er
ist überzeugt, Hisbollah lasse die »schiitische
Bevölkerung gegen die Wand« laufen.
Sie seien Marionetten Teherans und
hätten 2008 ihre Waffen gegen die Bevölkerung
gerichtet, wie »der Iran ihnen
befohlen hat«.
Tatsächlich hat der Iran Anfang der
80er Jahre der Hibsollah beim Aufbau
ihrer militärischen Einheiten mit Ausbildern
und Waffen geholfen. Mit der
Islamischen Revolution 1979 hatte sich
der Iran von der Diktatur des Schahregimes
befreit und wurde zu einem Hoffnungsträger
der traditionell unterprivilegierten
Schiiten in der arabischen Welt.
Erstmals nahmen schiitische Kleriker
die Politik eines muslimischen Landes
in die eigenen Hände. Die von Ayatollah
Khomeini eingeführte »Herrschaft
der Rechtsgelehrten« wurde zwar nicht
von allen schiitischen Klerikern geteilt.
Für viele junge Geistliche jedoch war es
ein Ausbruch aus Jahrhunderten der Unterdrückung
durch die von sunnitischen
Herrschern dominierten Machtgefüge
der Region.
Weil der kleine Staat in der Levante
nördlicher Nachbar Israels ist und damit
– wie die Palästinenser – im Zentrum
des Nahostkonflikts liegt, ist die Hisbollah
auch international umstritten. Die
USA führt sie auf ihrer »Terrorliste« und
hat Konten libanesischer Geschäftsleute
in den USA gesperrt, weil sie angeblich
die Hisbollah und damit »den Terror«
finanzierten. In Europa ist die Meinung
geteilt. Während das EU-Parlament die
Hisbollah realistisch als wichtigen libanesischen
Akteur einstuft, skandinavische
Staaten, Spanien, Frankreich und
Großbritannien auch bilaterale Gespräche
mit Hisbollahvertretern führen, kann
der Rundfunk- und Fernsehsender der
Partei, Al-Manar, in einigen westlichen
Staaten nicht empfangen werden. Als die
israelische Luftwaffe 2006 das deutlich
als Presse erkennbare Gebäude des Senders
in Beirut bombardierte, erhob sich
kaum Protest. Deutschland pflegt Kontakte
mit der Hisbollah fast nur auf Geheimdienstebene
und vermeidet so Kritik
aus den USA und Israel. Mehrmals
hat der Bundesnachrichtendienst (BND)
beim Austausch von Gefangenen zwischen
Israel und der Hisbollah assistiert.
Lange unterdrückt
Ohne die Geschichte der Schiiten im Libanon
ist die Entstehung der Hisbollah
als Befreiungsorganisation nicht zu verstehen.
Seit Jahrhunderten waren Schiiten
die Habenichtse in der Region. Sie
mußten sich als Tagelöhner verdingen,
die ohne die Unterstützung ihrer Moscheen
kaum hätten überleben können.
Die Auswanderung der Schiiten auf der
Suche nach Arbeit geht weit ins 19. Jahrhundert
zurück. Nach der Unabhängigkeit
des Libanon (1943) gewährte man
ihnen nach religiösem Proporz den Posten
des Parlamentssprechers, so ist das
bis heute. Nach der Gründung Israels
1948 flohen Zehntausende Palästinenser
in den Libanon und fanden neben von
der UNO organisierten Zeltlagern auch
in den Elendsquartieren der schiitischen
Bevölkerung um Beirut Zuflucht. Eines
dieser Viertel war Karantina östlich von
Beirut, in dem Hassan Nasrallah, der
heutige Generalsekretär der Hisbollah,
geboren wurde und zur Schule ging.
Schon vor dem israelischen Einmarsch
in den Südlibanon im März 1978 hatte es
mit der Amal-Bewegung eine Organisation
der Schiiten im Libanon gegeben. Mit
ihrer Rolle im libanesischen Bürgerkrieg
(1975–1990) und durch ihr unklares Verhalten
gegenüber der israelischen Besatzung
um 1982 verlor die Amal jedoch
ihre Glaubwürdigkeit. Nasrallah, der als
Jugendlicher in der Amal organisiert war,
wurde Ende der 70er Jahre in der Hawza,
dem Seminar schiitischer Geistlicher,
im irakischen Najaf, ausgebildet. Dort
schloß er Freundschaft mit dem Kleriker
Abbas Moussawi, dem ersten Generalsekretär
der 1982 gegründeten Hisbollah,
der zu seinem politisch-religiösen Vorbild
und Weggefährten wurde. Nach einer
Razzia des irakischen Regimes gegen
die Hawza floh Nasrallah zurück in den
Libanon. 1992 wurde Moussawi zusammen
mit seiner Frau, seinem sechsjährigen
Sohn und zwei Leibwächtern bei
einem gezielten israelischen Luftangriff
ermordet.
Die Partei Gottes
Die »Partei Gottes« entstand 1982, als die
israelische Armee erneut den Libanon
besetzte und bis Beirut zog. Ziel der Organisation
war, die israelischen Besatzer
und alle ausländischen Eindringlinge aus
dem Libanon zu vertreiben. In einem
»Brief an die Entrechteten im Libanon
und in der Welt« wurden 1985 drei Ziele
benannt: Die (gewaltlose) Errichtung
eines islamischen Staates im Libanon,
Widerstand gegen Israel, die USA und
deren Verbündete auch im Libanon sowie
die politische Erneuerung des Landes.
Am 11. November 1983 kam mit Ahmed
Qassir erstmals ein »Märtyrer«, einer der
im Westen als »Selbstmordattentäter« bezeichneten
Kämpfer der Hisbollah, zum
Einsatz, als er sich in der israelischen
Basis in Tyr in die Luft sprengte. Im Widerstandsmuseum
von Mleeti wird an ihn besonders erinnert. Von 1948 bis zur Invasion
1982 habe Israel den Libanesen und
der gesamten Region nur eine Wahl gelassen:
sich ergeben, Niederlage und Unterordnung
zu akzeptieren. Doch mit Ahmed
Qassir habe sich das Blatt gewendet, der
islamische Widerstand habe gezeigt, daß
es eine Alternative gäbe. Mit der Parole,
sich nie zu ergeben, vertraue man fest auf
Gott, heißt es in einer Erklärung: »So wie
Ihr für die Sache Gottes eintretet, wird er
für Euch eintreten und Euch fest (in der
Gesellschaft) verankern.«
Die langen Jahre israelischer Besatzung
machten aus der Hisbollah zunächst
eine gut organisierte Guerillagruppe, an
deren Seite fortschrittliche Palästinenser
ebenso kämpften wie Einheiten der Amal
und der Libanesischen Kommunistischen
Partei. Während die ersten Aktionen von
»Märtyrern« durchgeführt wurden, heute
verfügt die Hisbollah über hochmoderne
Waffen und gilt als einzige militärische
Macht im Libanon, die Angriffe Israels
zurückschlagen kann. Ihrem Geheimdienst
gelang es sogar, Luftaufklärung
israelischer Drohnen über dem Libanon
abzufangen, was Israel inzwischen bestätigen
mußte.
Gleichzeitig gelang der Hisbollah, was
viele Befreiungsbewegungen in der Geschichte
vernachlässigten. Sie griff nicht
nur die Besatzer an, sondern fühlt sich
auch für die eigene Bevölkerung verantwortlich.
Als Israel 2006 nach der
Entführung von Soldaten durch die Hisbollah
den Libanon mit einem vierwöchigen
Bombardement verwüstete und
mehr als 1 200 Libanesen tötete, räumte
Hisbollahchef Nasrallah ein, mit der Entführung
einen Fehler begangen zu haben.
Hätte er die israelische Reaktion vorausgesehen,
so Nasrallah, hätte er die Aktion
nicht angeordnet. Die Organisation sorgt
für soziale und medizinische Versorgung
der Bevölkerung, baut – auch mit finanzieller
Unterstützung aus dem Iran und Katar
– Schulen, Kindergärten, Straßen und
Krankenhäuser. Hisbollah übernimmt
klassische staatliche Aufgaben und gilt,
anders als die libanesische Regierung,
als immun gegenüber Korruptionsversuchen.
Sie finanziert sich auch nicht mit illegalen
Spiel-, Drogen- oder Diamantengeschäften,
wie westliche Geheimdienste
gern behaupten. Hisbollah verfügt über
starke Frauen- und Jugendorganisationen
und schaffte sich einen politischen Arm,
der zu Wahlen antritt. Heute ist Hisbollah
nicht nur mit Abgeordneten im Parlament,
sondern auch mit Ministern in der
»Regierung der Nationalen Einheit« in
Beirut vertreten.
Während der Kampf gegen Israel
und die US-Interventionspolitik sowie
für die Reformierung der libanesischen
politischen Strukturen weiter an
oberer Stelle steht, hat Hisbollah das
ursprüngliche Ziel, aus dem Libanon
eine islamische Republik zu machen,
fallengelassen. Statt dessen sucht und
findet sie politische Bündnisse über alle
Religionsgrenzen hinaus. Ihr erfolgreicher
Kampf gegen die israelische Besatzung
hat die Organisation weit über die
Grenzen des Landes hinaus zu einem
Hoffnungsträger gemacht, denn inmitten
einer Welt von Intrigen, Lügen und
Korruption ist die Stärke der Hisbollah
ihre Glaubwürdigkeit. Auch wenn die
inneren Strukturen der Organisation wenig
bekannt sind, sind ihre Effektivität
und Disziplin unübersehbar. Außer im
Mai 2008, als sie bewaffnet ihr unabhängiges
Telekommunikationssystem
verteidigte, richtete sie ihre Waffen nie
gegen die Libanesen.
Als neue Gefahr für ihre Unabhängigkeit
sieht die Hisbollah jetzt das UN-Sondertribunal
über den 2005 verübten
Mord am ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten
Rafik Hariri, das offenbar
die Hisbollah der Tat anklagen will.
Allein schon das Gerücht darüber, das
2009 unter anderem vom »gut unterrichteten
« Spiegel verbreitet wurde, sorgte
für enorme Unruhe. Beweise gibt es bisher
nicht. In Reaktion darauf forderte
Hisbollahchef Nasrallah kürzlich zum
Boykott des Tribunals auf. Israel sei der
Drahtzieher des Hariri-Mordes, erklärte
er und übergab libanesischen Gerichten
entsprechende Erkenntnisse. Ob das UNSondertribunal
dieser Spur nachgehen
wird, bleibt abzuwarten.
* Aus: junge welt, 6. November 2010
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