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Kann sich die Geschichte wiederholen? In Libanon geht die Angst um

Der letzte Bürgerkrieg forderte über 150.000 Tote - Antisyrische Stimmungen und Fremdenhass werden geschürt

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Zeitungsbeiträge, die sich mit der Geschichte des libanesischen Bürgerkriegs und mit der aktuellen Situation in diesem Land befassen.

Mahnungen zu Frieden und Einheit

Von Alfred Hackensberger, Beirut*

Brennende Häuser, aufgerissene Straßen, heulende Sirenen von Krankenwagen, die Tote und Verletzte abtransportieren. Die Bombenanschläge der letzten Wochen in Beirut brachten den Bewohnern die apokalyptischen Bilder des 15-jährigen Bürgerkriegs (1975-1990) wieder, der die »Schweiz des Nahen Ostens« völlig zerstörte.

Viele Menschen haben Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. In der kommenden Woche, am 13. April, jährt sich der Beginn des libanesischen Bürgerkriegs zum 30. Male. Für alle Politiker ein Anlass, zu Frieden und zur Einhaltung demokratischer Spielregeln zu mahnen. »Der 13. April muss ein Tag der nationalen Einheit und der Zivilgesellschaft sein«, erklärte Bahiyya Hariri, die Schwester des am 14. Februar ermordeten vormaligen Premierministers Rafik Hariri. Der Krieg hatte über 150000 Tote und 350000 Verletzte gefordert. Rund 2500 Menschen werden noch immer vermisst, davon sollen etwa 250 in syrischen und rund 800 in israelischen Gefängnissen sitzen.

Den ursprünglich in Libanon dominierenden Christen war in der wachsenden Zahl von Muslimen eine Konkurrenz erwachsen, die durch palästinensische Flüchtlinge und die bewaffneten Kämpfer der PLO unter Yasser Arafat Anfang der 70er Jahre weiteren Zustrom erhalten hatte und nach größerem wirtschaftlichen und politischen Einfluss trachtete. Daraus entwickelte sich ein Krieg der Konfessionen, der schnell zum Spielball internationaler Politik wurde. 1982 besetzte Israel den Süden Libanons, einschließlich Beiruts. Die Invasion trieb die PLO-Kämpfer ins tunesische Exil. 1983 verließen die USA fluchtartig Libanon, nachdem ihr Militärstützpunkt in Beirut mit 241 Marine-Soldaten in die Luft geflogen war. Iran entsandte eine Truppe seiner Republikanischen Garde, die die schiitische Hisbollah-Miliz gründete. Syrische Truppen versuchten seit 1976, den Krieg unter Kontrolle zu bekommen, was ihnen aber erst Ende der 80er gelang.

Nach dem 1989 in Saudi-Arabien abgeschlossenen Taif-Abkommen endete der Bürgerkrieg 1990. Seither müssen Regierungsämter und Parlament paritätisch nach Konfessionen besetzt werden. Schon seit 1943 galt die Regel, dass der Staatspräsident ein Christ, der Premierminister ein sunnitischer und der Parlamentspräsident ein schiitischer Muslim sein muss.

Mit zunehmender Dauer wussten die unterschiedlichen Fraktionen des Bürgerkriegs oft nicht mehr, warum und wofür sie kämpften. Politische Programme, aber auch Konfessionszugehörigkeit verloren mehr und mehr an Bedeutung. Jeder kämpfte mit jedem, wenn es sein musste: Christen gegen Christen, Muslime gegen Muslime, Rechte gegen Rechte und Linke gegen Linke. Unter dem Krieg um die Ausweitung des jeweiligen Klan-Territoriums litt gerade die Zivilbevölkerung. Massaker an Frauen, Kindern und alten Menschen waren an der Tagesordnung. »Das ist eben so, wenn es Krieg gibt. Zivilisten sind einfache Ziele«, sagt Walid Dschumblatt, der Führer der libanesischen Drusen, der für einige Massaker gegen Christen verantwortlich gehalten wird.

Dschumblatt ist einer der vielen Kriegsfürsten, die Blut an den Händen haben und trotzdem noch heute die Politik des Landes mitbestimmen. Wegen Kriegsverbrechen sitzt in Libanon nur der ehemalige Chef der »Libanese Forces«, Samir Geaga, seit zehn Jahren im Gefängnis. Eine Aufarbeitung der Ereignisse des Bürgerkriegs, einen Versuch der Aussöhnung hat es nie gegeben. Noch heute werden Gräueltaten und die Hauptschuld am Krieg immer den »anderen« angelastet.

Einen Schritt zur Auflösung alter konfessioneller Fronten stellten die Proteste der Opposition in den letzten Wochen dar. »Zum ersten Mal seit langer Zeit«, erklärt Samir Kassir, Kommentator der Beiruter Tageszeitung »An Nahar«, »sind Christen, Sunniten, Schiiten und Drusen gemeinsam auf die Straße gegangen. Religion spielt plötzlich keine Rolle mehr, nur der politische Wille zur Demokratie vereint diesmal alle«. Die Gefahr eines zweiten Bürgerkriegs gibt es für Samir Kassir trotz der letzten Bombenanschläge nicht. »In der Regierung sitzen Christen und Muslime, ebenso auf der Seite der Opposition. Der Konflikt ist rein politischer Natur.

Syriens Truppen und Geheimdienste werden Libanon am 30. April verlassen haben. Der Weg ist frei für unabhängige Parlamentswahlen Ende Mai. Bis dahin wird sich zeigen, ob der »politische Konflikt« tatsächlich auf demokratische Weise gelöst wird.




Bevölkerung

Die exakte Zahl der Einwohner Libanons ist nicht bekannt. In Schätzungen werden palästinensische Flüchtlinge und Syrer vielfach nicht berücksichtigt. Während die Weltbank für 2003 rund 4,5 Millionen Einwohner nannte, geht die UNO 2005 von 3,8 Millionen aus. Die Zahl der Auslandslibanesen wird in manchen Quellen auf über 10 Millionen beziffert. Nach dem Ende des Bürgerkriegs (1975-1990) und der israelischen Besetzung Südlibanons (1978-2000) ging die Auswanderung zurück. Im Jahre 2000 lebten etwa 356000 palästinensische Flüchtlinge in Libanon, davon 194000 in von der UNO verwalteten Lagern. Zudem arbeiten etwa 1 Million Syrer im Lande.

Etwa 95 Prozent der Bewohner sind Araber, Minderheiten bilden unter anderen Armenier und Kurden. Offiziell sind in Libanon 18 Religionsgemeinschaften anerkannt. Sie verfügen über eine begrenzte gesetzgebende und rechtsprechende Gewalt für ihre jeweilige Gemeinschaft. Nach der bisher letzten Volkszählung von 1932 bildeten die christlichen Gemeinschaften die klare Mehrheit der Bevölkerung. Heute sind die muslimischen Gemeinschaften in der Überzahl, was vor allem auf das erhebliche Anwachsen der Zahl der Schiiten zurückzuführen ist. Nach letzten Schätzungen sind etwa 60 Prozent der Bevölkerung Muslime: Schiiten 32%; Sunniten 21%; Drusen 7%. Den christlichen Gemeinschaften gehören gut 40 Prozent der Bewohner an: 25% Maroniten (Katholiken), 7% Griechisch-Orthodoxe, 5% Griechisch-Katholische, 4% Armenier.




* Aus: Neues Deutschland, 8. April 2005


Hass im Zedernstaat

Antisyrische Stimmungen zielen nicht nur auf Militärs und Geheimdienstler

Von Christoph Sydow, Beirut*

Bis Ende April werden sich die syrische Armee und der Geheimdienst vollständig aus Libanon zurückziehen. Vielen Libanesen geht dieser Schritt aber offenbar nicht weit genug.

Immer häufiger schlägt die Kritik an der syrischen Besatzung in blanken Hass auf die hunderttausenden Gastarbeiter aus dem Nachbarland um. »Die Syrer nehmen uns die Arbeitsplätze weg«, ist ein häufig zu hörender Satz, gerade unter jungen Libanesen. Diese Auffassung ist nicht neu, doch erst jetzt, im Zuge der Bewegung »Unabhängigkeit 05«, von den US-Amerikanern auch »Zedernrevolution« genannt, traut man sich, ihn offen auszusprechen.

In der Tat arbeiten in Libanon, dessen Arbeitslosenrate irgendwo zwischen 20 und 30 Prozent liegt, hunderttausende Syrer oftmals für einen Bruchteil dessen, was Libanesen für die gleiche Arbeit verlangen. An einem Kreisverkehr im Beiruter Vorort Mekelles sind morgens um sieben hunderte Syrer zu beobachten, die als Tagelöhner darauf warten, von einem Autofahrer mitgenommen zu werden. »Der lässt sie dann zehn Stunden Zementsäcke schleppen, und am Ende sind sie glücklich, wenn er ihnen 10 Dollar in die Hand drückt«, sagt Abed.

Der 24-Jährige ist selbst Syrer und arbeitet als Hausmeister in einem Wohnheim in der Nähe Beiruts. Auch die Pflegerinnen dort sind allesamt Syrerinnen. »So einen Job würde kein Libanese machen. Fremde Menschen waschen, sie füttern, dafür sind sich die jungen Leute hier viel zu schade«, glaubt Abed, »ohne uns Syrer könnten die den Laden hier dicht machen.«

In Syrien verdient ein Arbeiter weniger als 100 Dollar im Monat, dies macht die Arbeit im Nachbarland für viele interessant. Viele junge Libanesen ohne Job dagegen lassen sich lieber von ihren Familien aushalten oder sie profitieren von Überweisungen der bis zu acht Millionen im Ausland lebenden Libanesisch-Stämmigen. Gerade Jugendliche aus Tripolis, Saida und vor allem Beirut sind der Motor der antisyrischen Bewegung, die seit dem Attentat auf den ehemaligen Premierminister Rafik Hariri am 14. Februar mit Großdemonstrationen in Beirut auf sich aufmerksam machte. In Markenjeans gekleidet, die Augen hinter großen Sonnenbrillen verborgen, beklagen sie sich über die »syrischen Schmarotzer«.

George, ein junger Druse aus Beirut, sagt: »Alle Libanesen hassen alle Syrer, weil sie nicht denken können und uns die Arbeitsplätze wegnehmen.« Reifere Argumente sind auch von anderen Jugendlichen nicht zu hören, die den Nachmittag an der Corniche verbringen, die libanesische Flagge lässig um den Hals gewickelt.

Diese Stimmung von Borniertheit und Hass wird angeheizt durch jüngste Angriffe auf christliche Viertel, die pauschal »den Syrern« zugeschrieben werden. Nach Übergriffen auf ihre Landsleute in Tripolis und Saida haben die ersten Syrer das Land bereits verlassen. Unter vielen Christen, die etwa ein Drittel der Bevölkerung bilden, macht sich währenddessen die Sorge breit, dass diese Angriffe die prosyrische Hisbollah auf den Plan rufen und damit eine weiter Verschärfung der Lage bewirken könnten. Ganz abgesehen davon, droht die libanesische Unabhängigkeitsbewegung durch fremdenfeindliche Töne im Rest der Welt an Ansehen und Unterstützung zu verlieren.

* Aus: Neues Deutschland, 8. April 2005


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