Bomben auf das Palästinenser-Lager Nahr al-Bared
Armee und islamistische Extremisten liefern sich in Libanon schwere Gefechte
Von Karin Leukefeld *
Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der libanesischen Armee und islamistischen
Palästinensern haben seit dem Wochenende mindestens 70 Todesopfer gefordert, neben Soldaten
und Kämpfern der Fatah al-Islam auch Zivilisten. Gestern (21. Mai) starben weitere acht palästinensische Zivilisten bei der Bombardierung des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared nördlich der Hafenstadt Tripoli.
Auslöser der – abgesehen vom Krieg mit Israel im Vorjahr – schwersten Kämpfe in Libanon seit 20
Jahren war eine Razzia der libanesischen Armee. Die Soldaten wollten am Sonntagmorgen in einem
Stadtteil von Tripoli (Tarabulus) Männer festnehmen, die angeblich bei einem Bankraub rund 100
000 US-Dollar erbeutet hatten. Die Wohnung entpuppte sich als Stützpunkt der Fatah al-Islam, die
Gesuchten griffen die Soldaten mit schweren Waffen an, die Kämpfe weiteten sich in andere
Stadtviertel aus. Schließlich wurden die islamistischen Kämpfer getötet oder festgenommen. Unter
den Getöteten sind nach Angaben des Militärs auch die Nummern Drei und Vier der Fatah al-Islam,
Abu Yazen und Saddam al Haj Dib. Letzterer ist der Bruder von Jihad Hamad al Haj Dib, der wegen
eines in Deutschland geplanten Kofferbombenanschlages derzeit in Beirut vor Gericht steht. Ein
weiterer Bruder sitzt in Berlin in Haft.
Als die islamistischen Kämpfer libanesische Soldaten von einem Kontrollpunkt am Eingang des
Flüchtlingslagers Nahr al-Bared entführten und töteten, begann die Armee, das Lager zu
bombardieren. Am Montag wurden die Bombenangriffe fortgesetzt, Rauchwolken stiegen über dem
dicht besiedelten Ort auf, in dem rund 40 000 palästinensische Flüchtlinge unter ärmlichsten
Bedingungen leben. Nach Angaben von Ärzten wurden gestern (21. Mai) mindestens acht Bewohner getötet,
alles Zivilisten. Die Bevölkerung in Nahr al-Bared sieht sich inzwischen in Geiselhaft, die
islamistischen Kämpfer lassen niemanden aus dem Lager, das vollständig von der Armee umzingelt
ist. Wasser und Strom wurden von den libanesischen Behörden abgestellt.
Politische Beobachter befürchten, dass es keine rasche Lösung für die Einwohner von Nahr al-
Bared geben werde. Militärische Optionen sind nicht möglich, weil die libanesische Armee, in der
Soldaten aller Glaubensrichtungen dienen, laut einer Vereinbarung von 1969 die palästinensischen
Flüchtlingslager nicht betreten darf. Die Regierung in Beirut ist zudem durch die anhaltenden
Proteste der von Hisbollah geführten Opposition gelähmt.
Fatah al-Islam trat erstmals im November 2006 in Erscheinung und gilt in Libanon als Instrument des
syrischen Geheimdienstes. Die Gruppe propagiert eine dogmatische, sunnitisch-wahabitische
Ideologie und bezeichnet sich als Beschützer der Sunniten in Libanon. Ihr Führer, Shaker Abssi, ist
ein Palästinenser aus Jordanien. Dort wurde er wegen der Ermordung eines US-amerikanischen
Diplomaten zum Tode verurteilt. Abssi soll Al Qaida nahe stehen und sich in Damaskus unter der
Kontrolle des dortigen Geheimdienstes aufhalten. Syrien streitet allerdings Verbindungen zu der
Gruppe ab und hat ebenfalls einen Haftbefehl gegen Abssi ausgestellt. Fatah al-Islam soll in dem
Flüchtlingslager Nahr al-Bared etwa 500 Kämpfer unter Waffen haben. Palästinensische
Organisationen in Libanon haben sich von der Gruppe distanziert. Seit ihrer Vertreibung aus
Palästina (1948) leben in Libanon etwa 400 000 Flüchtlinge in zwölf Lagern.
Tripoli und der libanesische Norden gelten als Hochburg der sunnitischen Fortschrittspartei des
Sohns von Rafik Hariri, des ermordeten früheren Ministerpräsidenten. Doch kaum jemand in der
Bevölkerung profitiert vom Wohlstand der städtisch orientierten Parteigänger Saad Hariris in Beirut
und Junié. Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit treiben vor allem junge Männer – nicht nur unter
den Palästinensern – in die Arme radikaler Islamistengruppen wie Fatah al-Islam.
Die nun
ausgebrochenen Kämpfe reißen bei vielen Libanesen die noch nicht verheilten Narben des 25-
jährigen Bürgerkrieges (1975-1990) wieder auf. Damals starben mehr als 100 000 Menschen,
ebenso viele wurden bei den Kämpfen verstümmelt. 900 000 Menschen wurden vertrieben, und rund
250 000 Libanesen verließen ihre Heimat für immer.
* Aus: Neues Deutschland, 22. Mai 2007
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