"In die Heimat würde ich zu Fuß gehen"
15 000 Palästinenser leben im Beiruter Lager Bourj el-Barajneh
Von Birgit Kaspar, Beirut *
Etwa 15 000 Menschen leben im palästinensischen Flüchtlingslager Bourj el-Barajneh im Süden von
Beirut. Einige davon – wie Alia Shabati – sind seit fast sechs Jahrzehnten hier.
Die zwei- bis dreistöckigen Flachdachbauten in Bourj el-Barajneh stehen dicht beieinander, so als
wollten sie sich gegenseitig stützen. Enge, betonierte Gassen, mitunter nur einen Meter breit, führen
ins Innere des Lagers nahe Beirut, in dem mehr als 15 000 Flüchtlinge leben. Es ist düster, kein
Sonnenstrahl dringt hierher, die meisten Fenster der Wohnhäuser sind geöffnet, Intimität ist ein
Fremdwort. Alia Shabati, eine rundliche 72-Jährige in blaugeblümtem Kleid und weißem Kopftuch,
öffnet die Tür zu ihrem bescheidenen, aber sehr sauberen Haus.
Als Willkommensgruß serviert sie süßen, nach Kardamom duftenden arabischen Kaffee in ihrem
kleinen Wohnzimmer. Auf dem Tisch steht ein großer Strauß mit Plastikrosen und -lilien, auch aus
den Zimmerecken ragen zahlreiche künstliche Blumen. Alia Shabati vermisst die Natur und den
Geruch frischer Erde. In ihrer Heimat, im palästinensischen Dorf Kabri zwischen Akko und Nahariya,
heute in Nordisrael, genoss sie beides im Überfluss. Ihre Familie besaß dort mehrere Häuser und
Land. »Wir hatten Oliven, Trauben, Datteln, alles Mögliche. Außerdem Felder mit Spinat, Okra
(Schotengemüse aus der Familie der Malven – d. R.), wir hatten alles, einfach alles. Und jetzt, was
haben wir jetzt? Nichts. Hohe Lebenshaltungskosten, die die Leute hier umbringen.«
Ihr Dorf, wo damals rund 6000 Menschen lebten, wurde 1948 von der jüdischen Haganah-Miliz dem
Erdboden gleichgemacht, heute sind nur noch ein paar mit Gestrüpp überwachsene Mauerreste
übrig. In der wasserreichen und fruchtbaren Gegend nahe dem Mittelmeer leben jetzt rund 800
Israelis in einem Kibbuz, der dort 1949 gegründet wurde. Der israelische Historiker Ilan Pappe
spricht von einer systematischen ethnischen Säuberung der von Palästinensern bewohnten Gebiete,
welche die Zionisten für ihren künftigen Staat auserkoren hatten. Die Ausführung folgte dem so
genannten Plan D, beschlossen von der zionistischen Führung im März 1948.
Sechs Monate später waren 800 000 Palästinenser vertrieben und 531 Dörfer zerstört, weiß Pappe,
dessen Erkenntnisse auf israelischem Archivmaterial beruhen. Die offizielle israelische Lesart
besagt indessen, die Araber hätten den Krieg 1948 vom Zaun gebrochen – ein Krieg, der
tragischerweise zur Vertreibung von Teilen der palästinensischen Bevölkerung geführt habe.
»Eines Nachts kamen sie und legten Minen«
Bevor es zur Vertreibung aus Kabri kam, habe man jedoch sehr friedlich mit den Juden im
benachbarten Nahariya gelebt, erinnert sich Alia. »Es war, als wäre es ein arabisches Dorf, sie
kamen zu uns und wir gingen dorthin. Es gab dort Arbeit. Es war völlig problemlos.« Doch dann,
noch bevor der israelische Staat im Mai 1948 proklamiert wurde, begannen die Feindseligkeiten.
»Die Juden kamen jede Nacht und legten Minen. Eine davon explodierte in einem nahe gelegenen
Badehaus und tötete zwei Menschen.« Danach sei ihre Familie geflohen. Alia: »Wir hatten
schreckliche Angst, wir hatten ja noch nicht einmal Waffen.«
Es begann eine Odyssee, zu Fuß. Zunächst von einem Dorf ins nächste, dann über die Grenze nach
Syrien. Aus der relativ wohlhabenden Familie Shabati waren schutz- und mittellose Flüchtlinge
geworden. Das sei ihr klar geworden, als sie sich plötzlich mit ihrer Mutter und anderen Frauen in
einem Raum befunden habe. Syrische Männer seien eingetreten und hätten begonnen, sich Frauen
auszusuchen. »Einer kam auf meine Mutter und mich zu und sagte: Ich will die und die.« Die
Männer hielten dies offensichtlich für einen Heiratsmarkt, bis ein syrischer Polizist dem ein Ende
bereitete.
Nach ein paar Jahren in einem syrischen Flüchtlingslager heiratete Alia einen palästinensischen
Joghurtverkäufer und zog ins Lager Bourj el-Barajneh in Libanon. »In diesem Wohnzimmer habe ich
elf Kinder zur Welt gebracht«, sagt sie, aber davon abgesehen sei ihr Leben voller Schmerz und
Bitternis gewesen. Zwei ihrer Söhne verlor sie während des Bürgerkriegs, einer kam beim Kampf
gegen die Israelis 1982 ums Leben, der andere 1985 im Gefecht mit schiitischen Amal-Milizen. Seit
dem libanesischen Bürgerkrieg (1975-90) leben die rund 300 000 bis 400 000 palästinensischen
Flüchtlinge in Libanon unter ghetto-ähnlichen Bedingungen. Sie dürfen die meisten Berufe nicht
ausüben und kein Eigentum erwerben. Anders als in Syrien, wo die Palästinenser Bürgerrechte
haben, oder in Jordanien, wo sie teilweise sogar einen jordanischen Pass erhielten. Weil die
Verhältnisse in Libanon so schwierig sind, haben die Flüchtlinge hier einen besonderen
Nationalismus entwickelt, meint der Politologe Yezid Sayigh von der Universität Cambridge. »Sie
hatten eine ganz besondere Geschichte der Gewalt und von Massakern. Außerdem die
Marginalisierung durch die libanesischen Behörden mittels legaler und anderer Maßnahmen.«
Flüchtlingsproblem bleibt die Kernfrage
Deshalb findet man im Zedernstaat überproportional viele Palästinenser, die auf einer Rückkehr
bestehen, wie sie ihnen das Völkerrecht zugesteht. Die UN-Resolution 194 von 1948 sieht
wahlweise die Erlaubnis zur Rückkehr oder Kompensation vor, auch wenn sie nicht bindend ist,
meint Rami Khoury, Leiter des Instituts für Öffentliche und Internationale Politik an der
Amerikanischen Universität Beirut. »Die Palästinenser haben deutlich gemacht, dass Israel dieses
Recht anerkennen muss. Danach sei man bereit, über die Umsetzung zu diskutieren.« Die
israelische Regierung lehnt das Rückkehrrecht kategorisch ab, denn es gefährde das Überleben
Israels als jüdischer Staat.
Doch Khoury warnt, je länger die Lösung dieser Kernfrage des Palästinakonfliktes auf die lange
Bank geschoben werde, desto stärker wirke die Flüchtlingsproblematik als Radikalisierungsfaktor in
der gesamten Region. »Wir brauchen eine faire Lösung, einen legal verankerten Kompromiss. Aber
dazu benötigen wir klügere, ehrlichere und mutigere Politiker auf beiden Seiten, als wir sie im
Moment haben.« Die Flüchtlinge in der Diaspora jedenfalls fühlen sich seit dem Tod Yasser Arafats
nicht mehr von den palästinensischen Politikern vertreten – weder von der Fatah noch von Hamas.
Nicht nur Alia, auch ihr 35-jähriger Sohn Idriss hat nur einen Wunsch: irgendwann zurück in die
Heimat zu dürfen. Und zwar nach Kabri, nicht ersatzweise ins Westjordanland oder nach Gaza.
Idriss weiß genau, wie es im Heimatort seiner Mutter heute aussieht: Das Internet, vor allem Google
Earth, sowie Dokumentationsfilme im arabischen Satellitenfernsehen machen es den jungen
Generationen leicht. Die 72-jährige Alia wird die Heimat wohl nicht wieder sehen. Sie hat Tränen in
den Augen. »Ich würde zu Fuß gehen, von hier aus. Ich würde nichts mitnehmen und dort in einem
Zelt leben, wenn ich nur zurück dürfte. Ich liebe mein Land. Niemand kann seine Heimat
vergessen.«
* Neues Deutschland, 15. Mai 2008
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