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Wir haben einen Engel

Du erkennst mich als Waffe, die ich nicht sein will: Traumatische Kriegserfahrungen im israelischen Spielfilm "Lebanon"

Von Tom Dorow *

Nach Ari Folmans großartigem Animationsfilm »Waltz with Bashir« ist jetzt ein weiterer israelischer Film angelaufen, der sich mit den Folgen des ersten Libanonkrieges beschäftigt. In »Lebanon« verarbeitet der Regisseur Samuel Maoz die traumatischen Erfahrungen, die er 1982 als 20 Jahre alter Richtschütze in einem Panzer gemacht hat. Der Film wird gerahmt von zwei Einstellungen eines Sonnenblumenfelds. Hier beginnt die Expedition des Panzers, und hier wird sie wieder enden. Eine Metapher, mit der die Sinnlosigkeit des Einsatzes verdeutlicht werden soll.

Zwischen diesen beiden Bildern finden Verwüstungen und Massaker statt. Maoz zeigt die Welt außerhalb des Panzers ausschließlich durch das Zielfernrohr des jungen Schützen Shmulik und versetzt die Zuschauer damit direkt in dessen Position. Bei seinem ersten Einsatz versagt Shmulik. Sein Kommandant erteilt ihm über Funk den Befehl, einen Personenwagen, der auf den Begleittrupp des Panzers zufährt und trotz Aufforderung nicht anhält, mit einer Granate zu beschießen. Shmulik schafft es nicht, auf die Zivilisten im Auto zu feuern. Der Wagen explodiert und tötet einen israelischen Soldaten. »Wir haben einen Engel«, meldet der Kommandant. Den nächsten Befehl befolgt Shmulik. Die Konsequenz ist maßloses Entsetzen.

Eine Kamera im Zielfernrohr eines Panzers; das erinnert zunächst an Ego-Shooter, aber schnell wird in »Lebanon« deutlich, daß dem »Shooter« hier selbst Gewalt angetan wird. Der Blick der Kamera durch die Waffe ist zugleich der Blick eines jungen Mannes, der feststellt, daß sein Blick zu einer Waffe geworden ist. Und die Menschen, die der Soldat durch sein Zielfernrohr anvisiert, blicken zurück. Diese Blicke der Menschen, deren Leben durch Shmuliks Granaten zerstört werden sollen, sind das Entsetzliche.

Diese komplexe Blickverschränkung ist ein wesentlicher Teil der traumatischen Erfahrung, die Moaz spürbar machen will. Die Blicke, die er zeigt, evozieren menschliche Begegnungen und machen sie zugleich unmöglich: Ich sehe dich durch mein Auge, das du als Waffe siehst, was ich nicht will. Du erkennst mich dabei aber richtig, wenn du mich als Waffe siehst, weil ich an diesem Ort tatsächlich durch eine Waffe auf dich blicke, mit der ich identisch geworden bin, so sehr ich mich dagegen wehre und von dir als Mensch erkannt werden will.

Angesprochen auf Kriegserzählungen, nach denen es schwer fällt, jemanden zu töten, der einen anblickt, antwortete der Philosoph Emmanuel Levinas einmal in einem unter dem Titel »Ethik und Unendliches« veröffentlichten Interview: »Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann, oder dessen Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: Du darfst nicht töten«. Darüber hinaus fordere das Antlitz eine »authentische Begegnung«. Es spreche, und es erwarte eine Antwort: »In der Erscheinung des Antlitzes liegt ein Befehl, als würde ein Herr mit mir sprechen. Dennoch ist das Antlitz des anderen zur gleichen Zeit entblößt; hier ist der Elende, für den ich alles tun kann und dem ich alles verdanke. Und wer immer ich auch bin, (...) ich bin derjenige, der über die Mittel verfügt, um auf diesen Ruf zu antworten.«

»Lebanon« zeigt, wie die Kriegserfahrung jede Begegnung unmöglich macht, und den Schützen damit jeder Menschlichkeit beraubt. Wenn Moaz sagt, er sei im Libanon gestorben und seine Mutter habe, als er nach Hause gekommen sei, eine leere Hülle umarmt, dann glaubt man ihm das nach diesem Film.

Ganz unproblematisch ist Moaz' Inszenierungsstrategie allerdings dennoch nicht. War es in Zeiten von Alfred Hitchcocks »Psycho« noch ein Schock, den Blick des Mörders zu übernehmen und seine Ängste bei der Vertuschung zu teilen, so sind Zuschauer heute das Spiel mit Identitäten, Distanzierungen und Blicken gewöhnt, in denen das, was Levinas »die Boshaftigkeit des Bösen« nennt, seine Auferstehung feiert. Das Spiel mit diesen Inszenierungsstilen ist eine Konvention des Horrorkinos geworden. Wie weit das Genrekino dabei inzwischen gehen kann, zeigen neuere Filme des Terrorkinos, in denen äußerst ernsthaft und humorlos gemetzelt wird. Kein Schock durchbricht mehr die Distanz des Zuschauers zum Geschehen. Wenn der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger vom Terrorfilm »Martyrs« glaubt, dieser könne Ahnungen »des Unnennbaren und Unzeigbaren« vermitteln und »zwinge den Zuschauer förmlich (...), der unbenennbaren Dimension des Heiligen angesichtig zu werden«, ist das ein ebenso frommer Wunsch wie Moaz' Glaube, sein Film könne den Zuschauer physisch in die Position eines jungen Soldaten versetzen und dadurch etwas Wichtiges über dessen Schmerz aussagen.

In »Lebanon« verliert jemand seine Seele, aber wer tut das heute schon noch im Kino? Ari Folmans »Waltz with Bashir« zeigt die Beschädigungen und Alpträume, von denen Teilnehmer des Libanonkrieges fast dreißig Jahre später gequält werden, und untersucht die politischen Hintergründe. Es ist ein deutlich klügerer Film.

»Lebanon«, Regie: Samuel Moaz, Israel 2010, 92 min

* Aus: junge Welt, 18. Oktober 2010


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