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Daugavpils – die lettische Krim?

Ereignisse in der Ukraine haben die Stimmung in der "russischsten" Stadt der EU verändert

Von Toms Ancitis, Riga *

Das lettische Daugavpils ist die »russischste« Stadt innerhalb der Europäischen Union. Die Krim-Ereignisse hat das Selbstbewusstsein der dort lebenden Russen gestärkt.

Fast pausenlos donnern Züge durch den Bahnhof von Daugavpils. Lange Güterzüge mit Zisternen voll Erdölprodukten rattern den ganzen Tag über die Gleise. Aus Belarus und Russland fahren sie zu den lettischen Häfen, um weiter nach Westeuropa verschifft zu werden. Eine 500 Kilometer lange Bahnstrecke verbindet Daugavpils mit St. Petersburg. Die belarussische Hauptstadt Minsk liegt noch näher – nur 400 Kilometer entfernt. Wegen der geografischen Nähe zu den slawischen Nachbarländern lebt in Daugavpils schon jahrhundertelang eine russische Minderheit. Zu Zeiten, als die Stadt zum Gouvernement Witebsk im russischen Zarenreich gehörte, siedelten sich in Daugavpils sogenannte Altgläubige an, die im zaristischen Russland verfolgt wurden. Eine noch größere Einwanderung erlebte Daugavpils zu sowjetischen Zeiten, weiß der Historiker Dmitri Olechnovitsch: »Eine große Zahl russischer Fachkräfte wurde nach Daugavpils entsandt. Andere Russen kamen, weil sie nach einem besseren Leben suchten. Obwohl die Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg darniederlag, war das Lebensniveau hier höher als in Russland.«

Heute ist Daugavpils die »russischste« Stadt innerhalb der Europäischen Union. Nur 20 Prozent der etwa 100 000 Einwohner sind Letten. Die Mehrzahl sind Russen, aber auch Polen, Belarussen und Litauer leben hier – und verwenden täglich nur das Russische als Verkehrssprache. Lettisch hört man auf der Straße kaum.

Vor ein paar Jahren, als in Lettland ein Referendum über die Einführung des Russischen als zweite Amtssprache stattfand, stimmten in Daugavpils 85 Prozent dafür. Landesweit wurde der Vorschlag abgelehnt, aber in Daugavpils blieb die Unzufriedenheit. Gerade dort finden Organisationen, die für die Rechte der russischen Minderheit in Lettland kämpfen, viele Unterstützer. Sogar die Idee einer Autonomie für den Osten Lettlands wurde dort im vergangenen Jahr öffentlich diskutiert. Deswegen warnen lettische Rechtspolitiker jetzt, Daugavpils sei Lettlands »kleine Krim«. Fände dort ein ähnliches Referendum wie auf der Krim statt, könnte die Mehrheit wohl den Anschluss an Russland bevorzugen.

Jewgeni Zarew, der im unabhängigen Lettland zu Jevgenijs Carevs wurde und Stadtratsabgeordneter in Daugavpils ist, hält solche Behauptungen für übertrieben. Doch könne man nicht leugnen, dass die Ereignisse in der Ukraine die Stimmung in der Stadt angeheizt habe. »Was auf der Krim geschehen ist, hat die Situation in unserer Stadt verändert. Die Russen in Daugavpils hatten bisher das Gefühl, als habe sie Russland aufgegeben. Heute sehen sie, dass Russland stark ist. Und ihr Selbstbewusstsein wuchs durch die Ereignisse auf der Krim.«

Zarew weiß: »99 Prozent unserer Russen schauen nur russische Fernsehkanäle. Natürlich beeinflussen deren Informationen ihr Denken – ob sie Russlands Aktionen auf der Krim als Befreiung der Russen sehen, als Annexion oder Besatzung.«

Michail Grischakow ist einer derer, die täglich das russische Fernsehen verfolgen. Putin habe völlig recht, findet der 43-jährige Bauarbeiter. Da die Russen in der Ukraine von Faschisten bedroht waren, habe der Präsident keine andere Wahl gehabt, als die Armee hinzuschicken. Zudem sei die Krim immer ein Teil Russlands gewesen. Er selbst wäre dafür, dass sich auch Daugavpils Russland anschließt. »Warum? Warum kümmert sich Riga nur um die westlichen Regionen Lettlands? Dort werden neue Häuser, Schulen, Schwimmbäder und was weiß ich noch gebaut. Bei uns in Latgalen, im Osten Lettlands, verfallen die Gebäude, nichts wird repariert, alles bricht zusammen«, klagt er. Das Leben in Russland sei zwar nicht viel besser, doch da leben seine Verwandten, zudem sei Russland schon aus der Krise raus und da bestünden bessere Chancen, einen Job zu finden, weil das Land viel größer ist.

Der Historiker Dmitri Olechnovitsch erklärt, dass solche prorussischen Stimmungen in der älteren Generation weiter verbreitet seien als in der jüngeren. Für junge Russen seien Reisefreiheit und andere Vorzüge der EU sehr wichtig. Für viele, die nie in Russland waren, sei das ein fremdes Land, in dem zu leben sie sich nicht vorstellen könnten. Die Generation, die die Sowjetunion erlebt hat, sei anders. »Sehr viele vermissen sie. Sie sehen die Sowjetunion als ein verlorenes Paradies.« Sie glaubten, dass ihnen das heutige Russland die gleichen Möglichkeiten bieten könnte, die sie einst in der Sowjetunion hatten. »Da geht es nicht um politische Faktoren, sondern um die soziale Lage, um kostenlose Gesundheitsversorgung, Arbeitsplätze und niedrige Lebenshaltungskosten«, glaubt Olechnovitsch. Viele gebe es auch, die Russland wegen der schieren Größe idealisieren. »Lettland ist ein kleiner Staat, Russland ist groß. Sie sagen: Ich will nicht in irgendeinem kleinen Land leben, sondern zu dem großen gehören. Dieses Gefühl sitzt sehr tief in ihnen«, erläutert der Historiker.

Die Juristin Vita Jahimovitscha bewertet Russlands Agieren auf der Krim zwar nicht kritisch, spricht aber von schlimmen Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Letten und Russen: »Die ganze Toleranz, die wir erreicht hatten, wirkt im Handumdrehen wie verschwunden.« Viele Jahre habe man versucht, freundlich und tolerant miteinander umzugehen »Jetzt bemerke ich, dass die Leute wieder schwarz-weiß zu denken beginnen«, sagt Vita. »Die Letten denken: Ah so, jetzt ist es klar, die Russen sind eigentlich alle böse. Die Russen wiederum denken: Ah so, die Letten mit ihrem Nationalismus sind genauso wie diese Ukrainer. Die Auswirkungen sind nur negativ, das ist schade.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 26. März 2013


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