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Letten entlassen ihr Parlament

Große Unzufriedenheit mit "Volksvertretern" / Neuwahlen am 17. September

Von Toms Ancitis, Riga *

Die Wähler Lettlands haben durch eine Volksabstimmung am Sonnabend die Auflösung ihres Parlaments erzwungen. Knapp 95 Prozent der Referendumsteilnehmer stimmten einer Forderung des ehemaligen Staatspräsidenten Valdis Zatlers zu und machten den Weg zu Neuwahlen frei.

Nahezu 45 Prozent der Stimmberechtigten nahmen nach vorläufigen Angaben an dem Referendum teil. Ein Quorum – eine vorgeschriebene Mindestzahl an Teilnehmern – gab es nicht. 94,76 Prozent stimmten für die Auflösung des Parlaments.

Präsident Valdis Zatlers, von Beruf Arzt, hatte die Abstimmung vor zwei Monaten – wenige Tage vor Ablauf seiner Amtszeit – angesetzt und damit Emotionen in der Bevölkerung hervorgerufen, die von vielen Letten mit der Stimmung zu Zeiten der Wiederherstellung der Unabhängigkeit im Jahr 1990 verglichen wird.

»Wir möchten unsere Macht zeigen.« – »Das ist eine Warnung für die Politiker, dass wir ihre Arbeitgeber sind.« – »Wir brauchen Menschen, die staatlich denken, nicht solche, die sich nur um ihr Portemonnaie kümmern.« So und ähnlich begründeten die Abstimmungsteilnehmer am Sonnabend in den Wahllokalen ihre Entscheidung für die Auflösung des Parlaments. Die Rentnerin Dzidra Grinberga sagte: »Es ist eine einzigartige Möglichkeit, die wir ergreifen müssen, und es besteht die Hoffnung, dass das Leben besser wird.«

Zatlers hatte seine Forderung nach Auflösung des lettischen Parlaments (Saeima) seinerzeit in einer emotional geprägten Fernsehansprache damit begründet, dass die Abgeordneten mehr am Wohlergehen einer kleinen Gruppe, der so genannten Oligarchen, interessiert seien als am Wohlergehen des Staates. Er zählte mehrere Beispiele dafür auf. So hatte das Parlament die Aufhebung der Immunität des Oppositionsabgeordneten und Millionärs Ainars Slesers verweigert. Gegen Slesers sollte wegen Korruption ermittelt werden. Zatlers selbst bezahlte seine Forderung mit dem Amtsverlust. Anfang Juni wählte das Parlament an seiner Stelle den ehemaligen Bankier Andris Berzins, auch einen Millionär, zum Staatspräsidenten.

Der Einfluss der so genannten Oligarchen war allerdings nur einer von mehreren Gründen, die Wähler anführten, als sie am Sonnabend nach den Motiven ihrer Entscheidung für die Saeima-Auflösung befragt wurden. Viele fanden, dass das Parlament zu langsam arbeite, keine ernsthaften Reformen in Angriff nehme und zu wenig berücksichtige, was das Volk meint. Ein junger Mann namens Maris, der in einer Sicherheitsfirma beschäftigt ist, bekannte, er sei nicht so naiv zu glauben, dass sich Lettland nach Neuwahlen in ein Paradies verwandeln wird. »Natürlich, erwarte ich das nicht. Es ist aber wunderbar, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte des Landes eine solche Entscheidung getroffen haben. Die Politiker wissen nun, dass sie nicht vier Jahre sicher in ihren Ämtern sitzen können. Wir sind in der Lage, sie früher zu entlassen, wenn sie nicht gut genug arbeiten.« Und Altpräsident Zatlers sagte in der Nacht nach dem Referendum in einer Fernsehsendung: »Dieses Referendum ist ein Schritt nach vorn nach in unserem politischen Denken. Gewinner des Referendums ist der Bürger, der sein Schicksal heute selbst entschieden hat.«

Sichere Prognosen zur Entwicklung der politischen Landschaft im Gefolge der bevorstehenden Wahlen gibt es nicht. Dies vor allem auch deshalb, weil sich junge Leute in den vergangenen zwei Monaten viel intensiver als zuvor für die Politik zu interessieren begonnen haben. Die 100 Abgeordneten des jetzigen Parlaments waren erst vor neun Monaten gewählt worden. Zwei Parteien bildeten bisher die Regierung: die konservativ-liberale »Vienotiba« (Einheit), die in Person von Valdis Dombrovskis den Ministerpräsidenten stellt, und die Union der Grünen und der Bauern. Die Neuwahl des Parlaments wird am 17. September stattfinden. Soziologen bescheinigen Zatlers' Reformpartei (Zatlera reformu partija), die der ehemalige Präsident am Sonnabend aus der Taufe hob, gute Chancen. Er kündigte an, eine neue Generation – 30-jährige, gut ausgebildete Leute – für die Politik gewinnen, das Bildungssystem reformieren, junge Eltern unterstützen und die ins Ausland abgewanderten Lettland zur Rückkehr in die Heimat bewegen zu wollen.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Juli 2011


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