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Lettland wandelt am Rand des Staatsbankrotts

Eine Währungsabwertung will man sowohl in Riga als auch in Stockholm vermeiden

Von André Anwar, Stockholm *

Völlig im Schatten der großen Aufmerksamkeit für den Zusammenbruch der isländischen Wirtschaft wandelt Lettland ein Jahr nach dem Beginn der internationalen Finanzkrise am Rand der Zahlungsunfähigkeit.

Unter dem Druck seiner ausländischen Kreditgeber gibt Riga nach und verabschiedet ein den Richtlinien des Internationalen Währungsfonds (IWF) entsprechendes Sparprogramm. Dies trotz erheblicher Widerstände aus der Bevölkerung und selbst aus Kreisen der Regierungskoalition.

Ein Staatsbankrott konnte Ende vergangenen Jahres nur durch Kreditzusagen des IWF, der EU und der nordischen Nachbarstaaten abgewendet werden, die insgesamt 7,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wollen. Schweden trägt davon 1,1 Milliarden Euro – im eigenen Interesse. Denn den Banken des Königreichs drohen bei einem Zusammenbruch der lettischen Währung und möglichen Kettenreaktionen in den baltischen Nachbarstaaten enorme Verluste. Insgesamt haben schwedische Banken im Baltikum rund 40 Milliarden Euro in der Klemme. Das machte sich in diesem Jahr bereits bemerkbar: Die Entwertung der schwedischen Krone wird auch mit dem missglückten Baltikumgeschäft begründet.

Erst als die Kreditgeber drohten, die für die kommenden zwei Monate angekündigte nächste Kreditrate nicht auszuzahlen, erklärte sich Lettlands rechtsliberaler Ministerpräsident Valdis Dombrovskis gegen erhebliche Widerstände seines konservativen Regierungspartners und massive Kritik aus der zunehmend leidenden Bevölkerung in der vergangenen Woche bereit, den strikten Sparkurs einzuhalten, dem Riga ursprünglich schon einmal zugestimmt hatte. Demnach soll das im kommenden Jahr erwartete Haushaltsdefizit nicht nur um 325 Millionen Lat (460 Millionen Euro), sondern um die vom IWF geforderten 500 Millionen Lat (705 Millionen Euro) reduziert werden – durch Kürzung der Ausgaben um 320 Millionen und Erhöhung der Einnahmen um 180 Millionen Lat.

Anfang der 90er Jahre von der Sowjetunion unabhängig geworden, hatte Lettland mit Hilfe ausländischer Kredite einen von der eigenen Volkswirtschaft nicht gedeckten Aufschwung erlebt. Mit zweistelligen Wachstums- und Inflationsraten gehörte der kleine »baltische Tiger« mit seinen 2,3 Millionen Einwohnern bald zu den Wachstumseuropameistern. Als großzügige Finanziers des Aufschwungs führten sich schwedische Banken – Swedbank, Nordea und SEB – auf, die das lettische Bankenwesen nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 aufbauten. Augenzwinkernd war vom schwedischen Imperialismus die Rede, der Lettlands Mittelschicht eine Zukunft auf gleicher Augenhöhe mit der in westeuropäischen Staaten zu ermöglichen schien. Seit Beginn der Finanzkrise aber bleiben die Kredite aus. Für 2009 wird in Riga mit einer um 20 Prozent verminderten Wirtschaftsleistung gerechnet, und Schweden gilt plötzlich als Folterer Lettlands.

Nach den Vorgaben des IWF muss die lettische Regierung rund 40 Prozent ihrer Ausgaben streichen. Dies obwohl sie etliche Haushaltsposten bereits derart drastisch gekürzt hat wie kein anderes EU-Mitglied. Tausende Stellen wurden gestrichen, zahlreiche Krankenhäuser und Schulen geschlossen, das Kindergeld wurde abgeschafft, die Gehälter im öffentlichen Dienst, bis hin zur Polizei, wurden um 35 Prozent und die Rentenbezüge um zehn Prozent gesenkt. Um den Richtwert des IWF zu erreichen, wird sich Riga nun aber weitere einschneidende Sparmaßnahmen und Einnahmequellen einfallen lassen müssen. Das Defizit im Staatshaushalt – 2009 bei zehn Prozent – soll 2010 »nur« noch 8,5 Prozent betragen.

Die konservative Volkspartei, Regierungspartner von Ministerpräsident Dombrovskis, hatte sich bislang geweigert, die Einheitssteuer von 23 Prozent durch ein progressives Steuersystem zu ersetzen, wodurch die wohlhabenden sozialen Schichten stärker zur Kasse gebeten würden.

Eine Abwertung der lettischen Währung, die laut Schätzungen rund 30 Prozent betragen müsste, wollen sowohl die derzeitige Regierung in Riga als auch Stockholm, das beim Packen des IWF-Hilfspakets federführend war, unter allen Umständen verhindern. Denn in solchem Falle würden die vielen von Letten aufgenommenen Fremdwährungskredite unbezahlbar werden. Und Schwedens Banken würden enorme Kreditgeschäftsverluste einfahren. Die ohnehin angeschlagene schwedische Wirtschaft könnte durch daraus resultierende höhere Kreditkosten im Inland schwer belastet werden. Überdies würde die in Lettland seit Jahren angepeilte Einführung des Euros, von der sich die kleine lettische Wirtschaft mehr Stabilität verspricht, wohl in weite Ferne rücken.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Oktober 2009


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