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Lettland will Geschichte revidieren

Antifaschist wird von der Justiz des Baltenstaates bis über den Tod hinaus verfolgt

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Der »Fall Kononow« soll demnächst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte neu aufgerollt werden. Er ist bezeichnend für den revisionistischen Umgang Lettlands mit antifaschistischen Kämpfern im Zweiten Weltkrieg.

Namhafte Juristen aus Frankreich, Belgien und Algerien haben in einem in der Zeitung »Le Monde« veröffentlichten Offenen Brief gegen die Versuche der lettischen Regierung protestiert, die Geschichte des Landes umzuschreiben und Rotarmisten für ihre Taten im Zweiten Weltkrieg vor Gericht zu stellen.

Ein Musterprozess, der »Fall Kononow«, soll demnächst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg neu aufgerollt werden. Der Angeklagte, der in der UdSSR für seine Heldentaten geehrt und den Lettland vor Gericht und ins Gefängnis brachte, wird ihn nicht mehr erleben. Er ist Anfang April im Alter von 89 Jahren in Riga gestorben.

Der gebürtige Lette Wassili Kononow war ein 20-jähriger Soldat der Roten Armee, als er mit einem Fallschirm in seiner Heimatregion abgesetzt wurde, um dort die Partisanen zu unterstützen. Im Februar 1944 wurde im Dorf Mazie Bati eine Gruppe Partisanen von lettischen Kollaborateuren gefangen genommen, an die Deutschen ausgeliefert und von diesen erschossen. Der Trupp von Wassili Kononow erhielt den Befehl, die Kollaborateure zur Verantwortung zu ziehen. Sie durchsuchten das Dorf und fanden bei einigen lettischen Bauern deutsche Waffen und Handgranaten. Nach einem improvisierten Kriegsgericht wurden sie verurteilt und hingerichtet.

»Solche Taten«, heißt es in dem Offenen Brief der Juristen, »hat es überall in Europa gegeben, wo antifaschistischer Widerstand geleistet wurde, nur dass sie in diesem Fall fünf Jahrzehnte später Kononow zur Last gelegt wurden.«

Das Geschichtsverständnis in Lettland ist antisowjetisch geprägt. Die Juristen führen aus, dass »das Museum von Riga die ›Schrecken der sowjetischen Besatzung‹ zeigt und Bilder, wie die Wehrmacht beim Einmarsch 1941 als ›Befreier‹ gefeiert wurde. Massenmorde an Juden, die in Lettland vor allem durch lettische Milizen ausgerottet wurden, werden in Geschichts- und Schulbüchern mit Schweigen übergangen. Jedes Jahr am 16. März werden die lettischen SS-Freiwilligen öffentlich geehrt. Einer ihrer Kommandeure ist noch immer Parlamentsabgeordneter.«

Vor diesem Hintergrund wurde Kononow 1998 angeklagt, zwei Jahre lang in Untersuchungshaft gehalten und schließlich zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Kononow und seine Verteidiger wandten sich daraufhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der ihnen im Juli 2008 recht gab. Das Gericht stellte fest, dass die Hingerichteten mit den Besatzern kollaboriert und sich damit außerhalb des Rechts gestellt hatten. Der Gerichtshof hob das Urteil gegen Kononow auf und verurteilte die lettischen Behörden zur Zahlung von 30 000 Euro Schadenersatz. Doch die lettische Regierung legte Berufung bei der Großen Kammer, der Appellationsinstanz des EGMR, ein und übte den Juristen zufolge »politischen Druck auf die Kammer aus«. Diese hob im Mai 2010 das Urteil der ersten Instanz des EGMR auf. Damit trat das Urteil des Obersten Gerichts Lettlands wieder in Kraft.

Inzwischen haben Kononows Anwälte Dokumente zutage gefördert, die nachweisen, dass sich einige der 1944 hingerichteten Kollaborateure auch an Massenmorden gegen jüdische Landsleute beteiligt hatten. Außerdem stellten die Anwälte fest, dass die lettischen Behörden der Großen Kammer des EGMR teilweise gefälschte Übersetzungen der lettischen Gerichtsakten und Urteile übergeben hatten, auf die sich die Kammer dann gestützt hatte. Das Verfahren muss nun vor dem Gerichtshof neu aufgerollt werden.

Es sei das erste Mal, dass ein Staat an den EGMR das Ansinnen richtet, »die Urteile von Nürnberg zu korrigieren«, heißt es in dem Offenen Brief. So wolle man aus Siegern Kriminelle und aus Henkern Opfer machen. »Eine solche ›Korrektur‹ hinzunehmen, würde der Geschichtsrevision Tür und Tor öffnen.« Dies könnte bei rechten Kräften in Europa auf fruchtbaren Boden fallen und damit »ungeahnte und gefährliche Folgen haben«.

* Aus: Neues Deutschland, 30. Mai 2011


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