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Die Kette von Tallinn über Riga nach Vilnius ist gerissen

Mit Geschichtspolitik lassen sich die Probleme der baltischen Staaten nicht beherrschen

Von Krzysztof Pilawski *

Am 23. August 1989 bildeten über zwei Millionen Bewohner der damaligen baltischen Sowjetrepubliken eine Kette, die Tallinn mit Riga und Vilnius verband. Sie gedachten auf diese Weise des 50. Jahrestags der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Abkommens, forderten im Grunde aber die Lostrennung ihrer Republiken von der Sowjetunion und die staatliche Unabhängigkeit.

In der Menschenkette vereinten sich Esten, Letten, Litauer, Russen, Ukrainer, Belorussen, Polen und Kaukasier. Wenn viele Jahre später Russlands Präsident Wladimir Putin vom Zerfall der Sowjetunion als der größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts sprach, dann hatte die Kette der über zwei Millionen Menschen ihren besonderen Platz in dieser Auslegung der Geschichte.

Heute sind Estland, Lettland und Litauen Mitglieder der Europäischen Union und der NATO. Glaubt man dem ersten Eindruck, den die Zentren der drei Hauptstädte auf die Besucher machen, dann erinnert fast nichts mehr an die Zeiten der Sowjetunion. Und das wenige ist aufgehoben an besonderen Orten, etwa in den »Okkupationsmuseen«, die den Folgen des erwähnten Pakts zwischen Hitler und Stalin gewidmet sind. In Tallinn und Riga versuchen diese Museen, gleich den ganzen Zeitraum von 1939 bis 1991 zu umfassen. Wer durch die Räume gegangen ist, wird aufmerksamer darauf schauen, was man symbolische Politik nennen könnte.

Symbolpolitik und Sprachgesetze

Das fängt bei den Straßenschildern an, die jeweils nur estnisch, lettisch oder litauisch sind. So auch in Narva, der estnischen Grenzstadt zu Russland, in der über 90 Prozent der Einwohner russisch sprechen. Da, wo für viele Russen die Europäische Union anfängt, werden Regeln verletzt, die anderswo bereits Selbstverständlichkeiten sind. Nur die Polen in Litauen haben sich diesbezüglich mehr Rechte erkämpfen können, auch, weil es umgekehrt eine litauische Minderheit in Polen gibt.

In allen drei Staaten wurden nach der Unabhängigkeitserklärung Sprachgesetze erlassen, die sich dem Schutz der jeweiligen Nationalkultur verschreiben, deren Herzstück eben die eigene Sprache sei. Tallinn und Riga haben inzwischen immerhin signalisiert, dass über eine Liberalisierung dieser Gesetze nachgedacht werde. Verletzt werden die Vorschriften übrigens massenhaft und alltäglich, in der Werbebranche nämlich, in der, so wie anderswo auch, zu gerne dem Englischen der Vorzug gegeben wird.

In Tallinn wird in Kürze ein Freiheitsdenkmal eingeweiht werden, mit dem an den Unabhän-gigkeitskrieg von 1918 bis 1920 erinnert werden soll. Es steht dann einen Steinwurf entfernt von jenem Ort, an dem bis zum April 2007 das Denkmal für den Rotarmisten stand, bevor es auf Regierungsbeschluss auf einen Soldatenfriedhof umgesetzt wurde. Der bronzene Rotarmist symbolisierte die Befreiung vom Faschismus. Die Proteste, mit denen die Verlegung des Denkmals verhindert werden sollte, erschütterten das kleine Land und ließen die Weltöffentlichkeit für einen kurzen Augenblick nach Tallinn schauen.

Das Freiheitsdenkmal in Riga, das an die erste Unabhängigkeit des Landes erinnert, wurde bereits in Lettlands erster Republik aufgestellt und überdauerte sogar die Sowjetunion. Anders als in Tallinn lässt sich in Lettlands Hauptstadt aber das monumentale Denkmal für den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg nicht verschieben. Es wird auch künftig am angestammten Platz von jenem Datum künden, das in allen drei baltischen Republiken zu den umstrittensten der jüngeren Geschichte gehört und wohl auch weiterhin gehören wird. Als am 9. Mai 2009 das weite Gelände am Siegesdenkmal in einem für das Auge des Betrachters unendlichen Blumenmeer versank, wurde sichtbar, welche gesellschaftliche und politische Kraft sich hinter dieser symbolischen Geste bereits aufgeladen hat.

Überraschende Wahlergebnisse

Organisator war das aus ganz unterschiedlichen politischen Richtungen zusammengeflossene »Harmoniezentrum«, das bei den Wahlen zum Europäischen Parlament knapp 20 Prozent der Stimmen bekam und mit zwei Abgeordneten nach Brüssel zieht. Einer von ihnen ist Alfred Rubiks, ehemals Mitglied des KPdSU-Politbüros. Rubiks war der letzte Erste Sekretär des ZK der Lettischen Kommunistischen Partei, unterstützte im August 1991 den Moskauer Putschversuch gegen Michail Gorbatschow und stand an der Spitze des Notstandskomitees in Lettland. Dafür wurde er später im unabhängigen Lettland zu mehrjähriger Haft verurteilt. Aus diesem Grund kann er nicht für das lettische Parlament kandidieren, wird Lettland künftig aber als Europaabgeordneter präsentieren. Bei seinem Auftritt am Siegesdenkmal in Riga am 9. Mai würdigte er ausdrücklich und als einziger der Redner den Genossen Stalin.

Auch Estland hatte nach den Europawahlen ein überraschendes Ergebnis zu vermelden, das in anderer Hinsicht Einmaligkeitswert haben dürfte. Ein als Einzelkandidat antretender »schräger Vogel« brachte es auf fast die gleiche Stimmenzahl wie die stärkste der Parteien. Verglichen mit der Partei des Ministerpräsidenten bekam er sogar das Doppelte an Stimmen. Wäre es dem 45-jährigen Indrek Tarand physisch möglich, könnte er den Stimmen nach sogar in zweifacher Ausführung nach Brüssel gehen, aus einem Land wohlgemerkt, das im Ganzen nur sechs Plätze zu vergeben hatte.

Tarands Programm bestand ausschließlich darin, die etablierten Parteien zu bezichtigen, Steuergelder zu verprassen und überhaupt überflüssig zu sein. Da der Demagoge und waschechte Populist den anderen Parteien die Suppe gründlich versalzen hat, beginnen führende Politiker nachzudenken. Bisher zeichnet sich Estland durch das EU-weit wohl rigideste Parteiengesetz aus, sind doch in dem kleinen Land mindestens 1000 Mitglieder verlangt, damit eine Partei als solche gelten darf. Rechnete man dies im Verhältnis zur Bevölkerungszahl auf Deutschland um, blieben nur Christ- und Sozialdemokraten übrig. Deshalb soll die Mindestanforderung künftig auf 200 gesenkt werden.

In Litauen geht es auch in dieser Hinsicht derzeit etwas beschaulicher zu. In Vilnius findet der Besucher kein Okkupationsmuseum, aber eines, das dem Treiben des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit (KGB) gewidmet ist. Und das Bemühen, ein Litauertum besonders herauszustreichen, reibt sich stets noch mit dem jahrhundertealten multikulturellen Zuschnitt der wunderschönen Stadt. Hier kreuzen sich auf engstem Raum polnische, jüdische, litauische und belorussische Einflüsse, dazu nicht zu übersehende russische und auch deutsche Einsprengsel. Ein Faustpfand, mit dem künftig sehr viel stärker zu wuchern wäre. Daraus könnte immerhin ein Modell für alle drei Staaten werden, künftig die Kraft zu finden, sich vom Konzept nur einer »richtigen« Nationalität zu emanzipieren. Es wäre ein Segen vor allem für die Litauer, Letten und Esten selbst, ein Segen mithin für die drei Länder, die in sich sehr viel mehr historischen und gesellschaftlichen Reichtum bergen, als sie derzeit zu zeigen bereit sind.

Die Angst, dass in den drei Staaten zusammengerechnet mehr Russen zu Hause sind als jeweils Esten, Letten oder Litauer, braucht nicht zu obsiegen. Mit einseitig ausgerichteter Geschichtspolitik, mit Geschichtspolitik überhaupt, lässt sich dieses Problem auf längere Sicht ohnehin nicht beherrschen.

Abertausende in der Schuldenfalle

Während Lettland und Estland also gerade dabei sind, frische Hoffnungsträger nach Brüssel zu schicken, holte Litauen soeben einen erfahrenen nach Hause. Zur Staatspräsidentin wählten die Bürger Litauens kürzlich Dalia Grybauskaite, die bis dahin EU-Kommissarin für Finanzplanung und Haushalt war. Die überzeugte Verfechterin drastischer Kürzungen und empfindlicher Einsparungen scheint einer Mehrheit in Litauen für die Krisenzeiten das richtige Konzept zu haben.

Auch hierbei gehen Lettland und Estland voran, stehen sie doch bei den negativen Zahlen betreffs des Rückgangs des Bruttoinlandprodukts mit über 15 Prozent an der EU-Spitze. Sie wollten moderne Dienstleistungsgesellschaften sein mit beispielhaft hohen Zuwachsraten. Jetzt erleben die Bürger beider Staaten den Zusammenbruch vieler Hoffnungen, die sich auf ungebremsten Konsum und hemmungslose Kreditfreudigkeit gründeten.

Im kleinen Lettland mit seinen knapp 2,3 Millionen Einwohnern wurden in den zurückliegenden Jahren 150 000 Hypothekenkredite aufgenommen. Lettlands Staat musste bereits die Reißleine ziehen, um nicht im Bankrott zu enden. Alle öffentlichen Ausgaben, auch die für Staatsbedienstete, für Rentner und für Kinder, wurden empfindlich gekürzt. Zu einer Bauruine verkommt das stolze Projekt einer neuen Nationalbibliothek, mit der dem lettischen Schrifttum ein architektonisches Denkmal gesetzt werden sollte.

Wer wagt einen neuen Versuch?

Janis Birks, Rigas alter Oberbürgermeister, wollte in diesem Jahr die Feiern zum 9. Mai noch untersagen lassen, mit dem Argument, es träfen sich am Siegesdenkmal Kräfte, die Feinde der Republik Lettland seien. Sein kürzlich ins Amt eingeführter Nachfolger, der 33-jährige Nils Usakovs, ist der Mitbegründer des »Harmoniezentrums«, das die Veranstaltung am Denkmal organisatorisch getragen hatte. Ins Amt hob ihn nun eine Stimmung, in der es um wichtigere Dinge geht, als um ethnische Zugehörigkeit.

Käme jemand auf die Idee, es im August 2009 noch einmal mit einer Menschenkette von Tallinn über Riga bis Vilnius zu versuchen, bestünde Aussicht auf Erfolg nur, wenn er die abertausend Schuldner, die heuer um Haus und Dach zittern, auf diese Weise vereinte.

* Krzysztof Pilawski, lebt und arbeitet als Publizist in Warschau und schreibt auch über die Situation in den baltischen Republiken.

Holger Politt leitet das Warschauer Büro der Rosa Luxemburg Stiftung.

Aus: Neues Deutschland, 24. August 2009



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