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Schein und Sein

Lettlands Euro-Beitritt wird gefeiert, Angst vor Migranten aus Osteuropa geschürt *

Der Lats hat ausgedient. Als 18. EU-Mitgliedsstaat führt Lettland zum 1. Januar den Euro als nationale Währung ein. Während Verbraucherschützer nach versteckten Preiserhöhungen suchen, wollen sich viele Letten noch gar nicht an das neue Zahlungsmittel gewöhnen. Laut einer aktuellen Umfrage in der baltischen Republik sprechen sich nur 18 Prozent der Bevölkerung für den Währungswechsel aus, 53 Prozent sind dagegen. Daran konnten auch Werbekampagnen von Seiten der lettischen Regierung und der EU in den vergangenen Monaten nichts ändern.

Die Vorfreude in der 2004 von der EU aufgenommenen Republik ist vor allem wegen der weiterhin schwierigen wirtschaftlichen Lage im Euro-Raum getrübt. Ungern will Lettland in die Krise gerissen werden, hat es doch selbst erst in den letzten beiden Jahren mit einem harten Sparkurs wieder ein Wirtschaftswachstum erzielen können. Dennoch bleibt Lettland das ärmste Land, das je dem Euro beigetreten ist.

Doch davon reden EU-Spitzenpolitiker dieser Tage lieber nicht. Die Armutsdebatte wird stattdessen in den größten und wirtschaftlich stärksten EU-Ländern wie Deutschland und Frankreich geführt – mit rassistischen Untertönen. Gleichzeitig mit dem lettischen Euro-Beitritt fällt zu Jahresbeginn die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien. Die (west-)europäischen Staaten können nicht länger ihre Arbeitsmärkte abschotten. Dies nimmt die CSU nun zum Anlass, vor ihrer Klausur in Wildbad Kreuth die Debatte über eine vermeintliche »Armutszuwanderung« aufzuwärmen. Nach einer mehreren Medien vorliegenden Beschlussvorlage wollen die Konservativen Migranten den Zugang zum Sozialsystem erschweren, da sie der Auffassung sind, Rumänen und Bulgaren würden ab 2014 deretwegen nach Deutschland kommen. »Wer betrügt, der fliegt«, heißt es in dem Papier. kah

* Aus: neues deutschland, Montag, 30. Dezember 2013


Das Steuerparadies hofft auf Auslandsinvestitionen

Die baltische Republik hat sich in den vergangenen Jahren »gesund« gespart – und verlor dabei Zehntausende zumeist junge, gut ausgebildete Einwohner

Von André Anwar, Stockholm **


»Lat it be, Lat it be ...«, lautet eine der humorvollen Anspielungen auf den Übergang von Lettlands bisheriger Währung, dem Lats, zur europäischen Gemeinschaftswährung ab 1. Januar 2014.

Im Fernsehen wird viel Werbung gemacht. Man rolle nun in die ersehnte Zukunft der wohlhabenden westlichen Welt, so der Tenor. Das neue Geld kommt denn auch aus Deutschland. Für die rund zwei Millionen Personen zählende Bevölkerung, von der etwa ein Drittel der russischsprachigen Minderheit angehört, wurden 110 Millionen Euro-Geldscheine von der deutschen Bundesbank ausgeliehen und 400 Millionen Münzen mit lettischen Symbolen bei den Staatlichen Münzen Baden-Württemberg in Stuttgart hergestellt. Rund 971 Millionen Lats müssen insgesamt gegen das neue Geld umgetauscht werden.

Lettland hat seit der Wirtschaftskrise von 2008 eine Rosskur ohne gleichen hinter sich. Das Sozialprodukt schrumpfte 2009 um 20 Prozent. Statt die Währung abzuwerten, sparte sich das Land »gesund«. Nach 2008 wurden zunächst tausende Stellen gestrichen, zahlreiche Krankenhäuser und Schulen geschlossen, das Kindergeld abgeschafft, die Löhne bis hin zur Polizei um bis zu 35 Prozent gesenkt. Die ohnehin niedrigen Bezüge der Rentner wurden um zehn Prozent geschrumpft. »In Italien oder Spanien wäre es bei derart einschneidenden Maßnahmen zum Bürgerkrieg gekommen«, sagte ein lettischer Diplomat einmal. Aber die Letten seien nicht zuletzt wegen ihrer Vergangenheit als Sowjetrepublik geduldiger.

Die Sparkur schlug ungeachtet der ungleichen Verteilungslast an. Seit 2011 wächst die Wirtschaft wieder mit durchschnittlich fünf Prozent im Jahr und schlägt damit die Eurozone um Längen. Allerdings geht dieses Wachstum nicht mit steigenden Einkommen einher. Der monatliche Durchschnittslohn liegt bei 650 Euro brutto. Etwa ein Drittel der Bevölkerung verdient nur den Mindestlohn von 287 Euro brutto. So wird Lettland das ärmste Land sein, das dem Euro beigetreten ist. Aber das mit Spardisziplin, guter Infrastruktur, gebildeter und leistungsbewusster Bevölkerung gerüstete Steuerparadies hofft als 18. Euro-Mitglied auf viele neue Auslandsinvestitionen. Denn auch die Unternehmenssteuer liegt mit 15 Prozent weit unter dem EU-Durchschnitt von 23,5 Prozent. Nur Irland und Zypern liegen mit 12,5 Prozent noch niedriger.

Laut einer Umfrage sind dennoch 53 Prozent der Letten gegen den parlamentarisch durchgefochtenen Währungsbeitritt. Nur rund 18 Prozent sind ausdrücklich dafür. Nun, da man über den konjunkturellen Berg sei, wolle man sich durch die Euro-Krise nicht herunterziehen lassen, lautet die Argumentation der Gegner. Zudem wird noch mehr Auswanderung befürchtet. Lettland hatte 2012 laut Eurostat insgesamt 340 000 Einwohner weniger als im Jahr 2000. Wegen der schlechten beruflichen Aussichten sind zumeist junge und gut ausgebildete Letten ins Ausland gezogen. Das entspricht einem Rückgang der Bevölkerung um 14,2 Prozent.

Hinzu kommt, dass Lettland erst seit 1990 von Moskau unabhängig geworden ist. Die eigene Währung ist zum Nationalsymbol geworden. Zudem könnte ein weiterer Schritt weg von Russland auch Probleme verschärfen. Zum einen für die teils diskriminierte russische Minderheit im Lande. Aber auch die lettische Energieversorgung hängt völlig von Russland ab. Russische Oligarchen haben viel Geld auf baltischen Banken geparkt und in lettische Immobilien investiert.

Lettland ist seit 2004 Mitglied der EU und der NATO. Moskau hat seitdem immer wieder seine wirtschaftspolitischen Muskeln zucken lassen, um dem kleinen Land seine Grenzen zu zeigen. All das stimmt das Volk zum Jahreswechsel melancholisch. Genauso wie der Beatles-Klassiker »Let it be«.

** Aus: neues deutschland, Montag, 30. Dezember 2013


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