Aufruf zum Wahlboykott
Lettland: Politische Elite warnt vor Referendum am Samstag. Gewerkschaften mobilisieren. 17 Prozent der Bevölkerung bleiben ausgeschlossen
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Referendum in Lettland über Parlamentsauflösung gescheitert
Riga (dpa) - Ein Referendum über die Möglichkeit einer
Parlamentsauflösung per Volksentscheid ist in Lettland an zu geringer
Beteiligung gescheitert. Statt der erforderlichen 50 Prozent nahmen nur
39 Prozent der Wahlberichtigten an der Abstimmung teil. Das teilte die
Wahlkommission mit. Die Mitte-Rechts-Parteien der Regierung von
Ministerpräsident Ivars Godmanis waren im Vorfeld gegen das
Maßnahmenpaket, während die Opposition und die Gewerkschaften die Wähler
aufgerufen haben, mit Ja zu stimmen. (dpa, 2. August 2008)>
Von Tomasz Konicz, Poznan *
Am Samstag (2. August) entscheiden die Wahlberechtigten Lettlands
darüber, ob die kleine, nur 2,3 Millionen Einwohner zählende baltische
Republik künftig »mehr Demokratie wagt«. Das Referendum, in dem über
eine bislang in Europa einmalige Verfassungsänderung abgestimmt werden
soll, war vom lettischen Gewerkschaftsdachverband und von den Freien
Lettischen Gewerkschaften durchgesetzt worden. Sollten am Samstag mehr
als 50 Prozent der wahlberechtigten Bürger Lettlands für den
Verfassungszusatz stimmen, kann künftig das aus einer Kammer bestehende
Parlament der Baltenrepublik, die Saeima, vermittels eines Referendums
aufgelöst und eine Neuwahl erzwungen werden. Nahezu 15 Prozent der
Wahlberechtigten unterzeichneten eine entsprechende Petition der
Gewerkschaften.
Nach dem Austritt Lettlands aus der Sowjetunion 1991 war die
ursprüngliche lettische Verfassung von 1922, die Satversme, ohne
Änderungen oder Zusätze wieder eingeführt worden. Diese enthält die
Möglichkeit zur Durchführung von Volksentscheiden zu einer ganzen
Bandbreite von Themen. Sobald eine Initiative mehr als zehn Prozent der
wahlberechtigten Bürger zur Unterschrift unter ihre Petition bewegen
kann, muß die Wahlkommission des Landes diese an den Präsidenten
weiterleiten, der das Dokument der Saeima als Gesetzentwurf zur Beratung
vorlegt. Sobald das Parlament diesen ablehnt, wird ein bindendes
Referendum angesetzt. Die am Samstag zur Abstimmung stehende
Verfassungsänderung würde diese demokratischen Elemente um die
Möglichkeit erweitern, der Regierung vermittels Volksentscheid de facto
das Mißtrauen auszusprechen.
Es verwundert somit kaum, daß die politische Elite der Baltenrepublik
die düstersten Schreckensszenarien für den Fall entwirft, sollte der
Volksentscheid tatsächlich eine Mehrheit finden. So meinte
Parlamentssprecher Gundars Daudze, das Referendum würde eine »tiefe
politische Krise in Lettland« auslösen. Premier Ivars Godmanis warnte
vor einer »politischen Instabilität«. Überdies bezeichnete er die
Volksentscheide als einen »destruktiven Prozeß«. Die meisten
Regierungspolitiker riefen deswegen die Wähler auf, einfach nicht am
Referendum teilzunehmen. Ungeachtet dessen könnte Umfrageergebnissen
zufolge am Samstag die vorgeschriebene 50-Prozent-Beteiligung der
Wahlberechtigten erreicht werden.
Dennoch bleibt die lettische Demokratie weiterhin ein sehr exklusiver
Klub, zu dem immerhin 17 Prozent der Bewohner keinen Zugang haben. Die
Letten stellen an die 53 Prozent der Bevölkerung des baltischen Staates.
Die Mitglieder der nationalen Minderheiten in Lettland erhalten nach dem
Einbürgerungsgesetz von 1995 die volle Staatsbürgerschaft nur, wenn sie
einen anspruchsvollen Sprachtest, weitere Prüfungen in Geschichte und
Verfassungskunde sowie etliche bürokratische Hürden nehmen. Von den
370000 Menschen, die als »Nichtbürger« bezeichnet werden, stellen Russen
mit 245000 die überwiegende Mehrheit – gefolgt von Belarussen (50000),
Ukrainern (35000) und Polen (12000). Diese Personengruppe erhält zwar
ein unbefristetes Aufenthalts- und Arbeitsrecht, sie ist aber von
jeglichen Wahlen ausgeschlossen.
* Aus: junge Welt, 2. August 2008
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