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Vereint geplündert

Hintergrund. Rigoroser Ressourcenraub: Der "Extraktivismus" in Südamerika

Von Günter Pohl *

Sieben der zehn wichtigsten Minera­lienlieferanten der Welt sind südamerikanische Länder. Der Ressourcenreichtum – Erdöl, Erdgas, Kohle, Silber, Gold, Edelsteine, Mineralien und Metalle aller Art – ist auch der Grund dafür, daß Südamerika die kapitalistischen Krisen seit 2008 zumindest nach makroökonomischen Daten relativ ungeschoren überstanden hat. Die anhaltend guten Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts vor allem der zentralen Andenstaaten Chile, Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien ergeben sich in erster Linie aus der Förderung von festen Minenmaterialien. Venezuela dagegen erlöst das meiste aus dem Verkauf von Erdöl und -gas. Beim sogenannten Extraktivismus, einer allgemeinen Bezeichnung für die Förderung von Bodenschätzen durch Minen oder im Tagebau, wird zunächst zwischen festen und nichtfesten Stoffen unterschieden; peruanische Umwelt- und Menschenrechtler wie Ernesto de la Jara vom Institut für juristische Verteidigung (Instituto de Defensa Legal – IDL) aus Lima zählen mittlerweile aber auch die zerstörerische Fischerei in den küstennahen Gewässern dazu.

Die Nachfrage nach Metallen und Mineralien kommt zum einen aus China und anderen asiatischen Staaten mit Wachstumsraten oberhalb des Weltmittels. Aber auch Europa kauft, was die Industrieproduktion am Laufen hält (Erdöl aus Venezuela) oder zur Energiegewinnung erforderlich ist (Steinkohle aus Brasilien und Kolumbien) und hier entweder nicht rentabel zu fördern oder aus Umwelterwägungen nicht mehr opportun ist. Dabei sind die ausländischen Einkäufe auf den ersten Blick für beide Seiten relativ attraktiv: So kann etwa China seine Devisenreserven unterbringen und seinen immensen Rohstoffbedarf befriedigen – Südamerika bedient die Auslandsschulden und verbessert die Infrastruktur. Denn die Vorgaben der im Jahr 2000 von damals noch – mit Ausnahme Venezuelas – konservativen Regierungen beschlossenen »Südamerikanischen Regionalen Infrastrukturinitiative« (IIRSA) werden Stück für Stück umgesetzt, und es zeigt sich einmal mehr, daß eine gesellschaftliche Entwicklung von der ökonomischen Basis nicht zu trennen ist. Quer durch den Kontinent verbinden neu gebaute Straßen Länder, deren Kolonialstatus sie über Jahrhunderte bewußt voneinander getrennt hielt – aber es sind auch die Wege, über die die Reichtümer exportiert werden. Früher getrennt beraubt, werden sie heute vereint geplündert.

Politisch kurzsichtig

Dabei sind die wirtschaftlichen Interessen durchaus übergeordnet, und zwar so weit, daß scheinbar grundsätzliche Antagonismen oder die eigene politische Basis in den Hintergrund treten können. Wenn zwischen Venezuela und Kolumbien auch inmitten schwierigster und teils unterbrochener Beziehungen der Bau einer Pipeline, mittels derer venezolanisches Öl über Kolumbien nach Panama gebracht und von dort nach China verschifft werden soll, nicht in Frage stand, oder wenn Boliviens Regierung für ein IIRSA-Straßenbauprojekt von Brasilien nach Peru einen schweren Konflikt mit der indigenen Bevölkerung eines Nationalparks riskierte – dann wird schon auf den ersten Blick der Unterschied zwischen Regierung und Macht deutlich. Noch wichtiger für eine korrekte Analyse ist jedoch der zweite: Macht und Regierung können nicht nur in konservativ regierten Ländern wie Kolumbien oder Chile, sondern eben auch in fortschrittlich orientierten Staaten wie Ecuador oder Bolivien durchaus eine Interessengemeinschaft eingehen. Denn es geht um viel Geld. Geld, das die konservativen Regierungen den Besitzenden belassen und mit dem die fortschrittlichen Regierungen Programme für die Armen finanzieren – worin derzeit auch der wichtigste Unterschied zwischen beiden Regierungstypen liegt. Gleich aber ist in beiden Fällen, daß oft ausländische Konzerne massiv daran verdienen. Wieviel, variiert je nach Höhe der Abgaben, die die Förderunternehmen vor Steuern an den Staat zu leisten haben – und das wiederum hängt von der politischen Ausrichtung ab. Daß die ausländischen Bergbaukonzerne – vorwiegend kanadische und US-Unternehmen, aber natürlich mischen auch Schweizer Multis und sogar australische Spezialfirmen mit – von der Besteuerung abgesehen überhaupt Grundabgaben für die Konzessionen zu leisten haben, empfinden diese schon als Zumutung, schafften sie doch angeblich Arbeitsplätze. Diese fallen allerdings zahlenmäßig kaum ins Gewicht und spielen volkswirtschaftlich nur eine geringe Rolle. Angesichts knapper Kassen ist der Zugriff auf die Bodenschätze eine Versuchung, aber der Nutzen des Extraktivismus beruht auf politischer Kurzsichtigkeit. Denn nichts ist weniger nachhaltig als der Ressourcenabbau.

Die Verlierer sind schnell auszumachen: Zunächst die Umwelt und damit unmittelbar verbunden die Menschen, die das Pech haben in der betreffenden Gegend zu leben. Und das geschieht in Peru, Kolumbien, Argentinien oder Ecuador weitgehend unterschiedslos. Umweltorganisationen fordern, daß die transnationalen Konzerne anderenorts die gleichen Umweltstandards einhalten müssen wie in ihrem Herkunftsland und nötigenfalls auch dort verklagt werden können. Unvorstellbar etwa, daß der Schweizer Konzern Glencore in den Alpen Gold mit Zyanid auswäscht und so die örtliche Trinkwasserversorgung gefährdet, wie er es beispielsweise in den Anden tut. Oder daß er Mafiosi anheuert, um seine eidgenössischen Kohlebergwerke gewerkschaftsfrei zu halten. Die entsprechende Aussage eines verhafteten führenden kolumbianischen Paramilitärs hat Glencore, wenig überraschend, zurückgewiesen.

Eine nicht ganz so offensichtliche Folge des Bergbaugeschäfts ist die Bedrohung staatlicher Souveränität. Die betreffenden Länder verkaufen die – nur einmal vorhandenen – Ressourcen zu jetzt immerhin hohen Weltmarktpreisen, um ihre Auslandsschuld bedienen zu können. Dabei handelt es sich um Schulden, die durch koloniale Erpressung bei Übergabe der staatlichen Unabhängigkeit vor zweihundert Jahren entstanden waren und sich durch Verzinsung und weitere Kreditvergabe, oft an diktatorische Regierungen, vervielfacht haben. Allein deren politische Akzeptanz (es gibt in Lateinamerika, von Kuba abgesehen, noch immer kein Land, das diese Schulden nicht anerkennt) ist ein Skandal – aber dafür noch Rohstoffe wegzugeben, die nach ihrer Erschöpfung dann der eigenen Entwicklung fehlen werden, ist perspektivisch kaum weniger schlimm.

Ein folgenloser Appell

Der Soziologe Eduardo Gudynas vom Lateinamerikanischen Zentrum für soziale Ökologie nennt die Linksregierungen daher die »braune (= erdfarbene) Linke«, in Anspielung auf die eigentlich »rote Linke«. Beispiel Ecuador: In dem ALBA-Land schickt die Regierung zur Not auch Militär in die Anden, wenn die Anwohner sich gegen die Zerschredderung ihrer Berge und die Vergiftung des Wassers zur Wehr setzen. Die Interessen des Staates an seiner wirtschaftlichen Entwicklung wiegen mehr als der »Infantilismus der Umweltschützer«, wie es Ecuadors Präsident Rafael Correa gern nennt. Daß der Staat einen privilegierten Zugriff auf das hat, was unter der Erde liegt, ist natürlich nicht falsch – aber daß neue Verfassungen nicht vor alten Methoden ihrer Ignorierung bewahren, ist ebenso wahr. Hinzu kommt, daß nicht nur die Verfassungen, sondern auch der Artikel 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) eine Anhörung und Hinzuziehung der ansässigen indigenen Bevölkerung verlangt. Und in den Anden sind in aller Regel eben indigene Völker betroffen.

Die ecuadorianische Regierung war vor vier Jahren mit dem Vorschlag der Nichtausbeutung des ITT-Ölfeldes im Nationalpark Yasuní im empfindlichen Amazonas-Gebiet an die Weltöffentlichkeit gegangen und hatte damit Furore gemacht: Gegen die Zahlung der Hälfte der aus dem Verkauf von 846 Millionen Barrel Erdöl erzielbaren 7,2 Milliarden US-Dollar innerhalb von zwölf Jahren, so der Appell an die Industrieländer, würde das dortige Öl nicht angetastet und damit ein großer Schaden in der ökologisch sensiblen Region vermieden. Sollte theoretisch weltweit nur von dort Öl kommen – ganze sechzehn Tage könnte die Menschheit bei Beibehaltung des heutigen Verbrauchs von den Reserven des ITT zehren. Aber der Schaden bliebe auf Jahre und Jahrzehnte. Doch der Vorschlag Ecuadors ist bislang auf wenig Gegenliebe gestoßen: Ganze 2,5 Millionen US-Dollar sind bis Dezember überwiesen worden, und auf 114 Millionen belaufen sich derzeit reine Versprechungen. Die 35 Millionen, die Deutschland beisteuern will, sind übrigens nicht für die Initiative, sondern an den allgemeinen Umweltschutz im Yasuní-Nationalpark gebunden. Was noch weniger bekannt ist: Im Yasuní sind inzwischen die Bohrungen durch die staatliche PetroAmazonas in Zusammenarbeit mit REPSOL (Spanien) und der brasilianischen PetroBras im Gange. Täglich werden 18000 Barrel gefördert. Und die Regierung geht noch weiter: Mit der kanadischen Firma Kinross spricht man über Lizenzen zur Ausbeutung von 6,4 Millionen Unzen Gold – ebenfalls im Amazonas-Gebiet.

Mehrfach enteignet

Auch sonst hat nicht der Umweltgedanke Priorität, sondern der Wunsch, »nicht als Bettler auf einem Sack Gold zu sitzen« (Rafael Correa). Am 5. März unterschrieb Ecuador nach einjährigen Verhandlungen einen Vertrag mit dem chinesischen Bergbauunternehmen ECSA über 25jährige Kupfer-, Gold- und Silbertagebauarbeiten in der Cordillera del Cóndor in der Provinz Zamora Chinchipe im Süden des Landes. Insgesamt sieht Quito Bergbauprojekte in einer Gesamthöhe von 185 Milliarden US-Dollar vor, davon 117 Milliarden allein beim Kupferabbbau; aus der Kondorkordillere, deretwegen Peru 1995 auch aufgrund dieser und anderer Bodenschätze einen Krieg mit Ecuador anzettelte, sollen durch ECSA 20 Milliarden US-Dollar Umsatz gezogen werden. Davon, so die Zeitung El Mercurio, verbleiben dem Staat 5,4 Milliarden – 52 Prozent des Gewinns nach Abzug der Kosten, womit die staatliche Rendite beim Bergbau höher läge als in Mexiko (30 Prozent) oder Chile (36 Prozent), aber niedriger als beim ecuadorianischen Erdöl (85 Prozent nach ecuadorianischem Gesetz). Die chinesischen Anleger investieren vorab 100 Millionen in die Entwicklung der benachbarten Gemeinden – bzw. dem, was davon übrigbleiben wird. Denn es ist nicht ungewöhnlich, daß ein Minenprojekt das nächste nach sich zieht, wenn einmal der erste Widerstand gebrochen ist. In Ecuador wird der allerdings von der kampf­erprobten CONAIE, der Konföderation der indigenen Nationalitäten, getragen, die landesweit vom 8. bis zum 22. März gegen das Projekt mobilisierte. Kaum etwas wird für die Ansässigen abfallen, fürchtet die CONAIE. Es sollen zwar 3100 Arbeitsplätze geschaffen werden – aber das Kupfer wird in China veredelt. Das übliche Modell also: Eine weiterverarbeitende Industrie entsteht bei den Rohstoffkäufern und nicht bei den Rohstofförderern. Für den Kupferabtransport werden nur einige Straßen gebaut und der Bananenhafen in Puerto Bolívar angepaßt. Aber an die versprochene Renaturierung durch die ECSA glaubt die CONAIE nicht.

Die Bergbauprojekte in Drittweltstaaten sind nicht nur aus ökologischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen problematisch: Bei reinem Ressourcenexport findet kaum Mehrwertschöpfung und praktisch keine nachholende Entwicklung statt, denn die Veredelung erfolgt wie üblich in den Metropolen. Wodurch die Abhängigkeit in der globalisierten Arbeitsteilung zementiert wird. Ressourcen sind eben – so der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz – mehr Fluch als Segen. Der Widerstand gegen Bergbauprojekte aller Art als evidenteste Form der Landschaftszerstörung ist daher in den Ländern, in denen Massenbewegungen progressive Regierungen ermöglicht haben, heute unterschiedslos genauso präsent wie in denen, wo das nicht der Fall war. Die spanischsprachige Website www.conflictosmineros.net der Beobachtungsstelle für Bergbaukonflikte in Lateinamerika (OCMAL) berichtet von einer Vielzahl von sozialen und Umweltschäden durch Bergbauprojekte. Der Argentinier Horacio Machado schrieb am 13. Februar für die Nachrichtenagentur ALAI/AMLATINA: »Zu der Enteignung unserer Wasserquellen, unserer Energie und der Mineralien kommt nun die politische Enteignung: Enteignung der Rechte und des Willens des Volkes. Systematisch sehen wir diejenigen politischen Parteien Wahlen gewinnen, die die Verteidigung der Wasserquellen versprechen, oder den Schutz der Rechte; und wiederholt sahen wir sie dann eben diese Versprechen ›im Namen des Fortschritts‹ brechen. (…) Investitionen seien nötig, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln. (…) Aber warum sollten denn wir die Grundlage für die Industrialisierung Chinas, Indiens oder der Länder des Nordens sein?«

Gegen jeden Widerstand

Im makroökonomisch boomenden Peru, das inzwischen zwanzig Prozent seines Territoriums konzessioniert hat, sind es nur 32 Prozent, die dem Staat vom Bergbaugewinn bleiben. Das Grundprinzip des Extraktivismus wird sich auch mit der neuen Regierung des Nationalisten Ollanta Humala nicht ändern, der 2011 den Rechtssozialdemokraten Alan García ablöste. Immerhin ist das von dessen Regierung blockierte Gesetz zur Anhörung der Anwohner, welches auf dem erwähnten ILO-Artikel aufbaut, im Kongreß im August 2011 verabschiedet und im April offiziell veröffentlicht worden. Auch werden nach massiven Protesten ausländische Konzerne nach Gewinn künftig höher besteuert, so der IDL-Fachmann Ernesto de la Jara, der auf Einladung von »Brot für die Welt« mit einem Kollegen im Mai in Deutschland Informationsveranstaltungen durchführte. Mit der Reise soll vor dem für Juni geplanten Deutschlandbesuch des peruanischen Präsidenten die Öffentlichkeit sensibilisiert werden. Denn die gewaltsame Lösung von Bergbaukonflikten ist auch unter Humala eine Option: In der nördlichen Provinz Cajamarca ist das fünf Milliarden US-Dollar schwere und vom peruanisch-US-amerikanischen Konsortium Yanacocha betriebene Gold-, Silber- und Kupferprojekt »La Conga« zwar von der dortigen Regionalregierung wegen der Grund- und Flußwassergefährdung abgelehnt worden, die Zentralregierung ist jedoch entschlossen, es zur Not gewaltsam durchzusetzen. Ein Zurückweichen in Cajamarca, wo die sechs größten Bergbauunternehmen der Welt arbeiten, so der widerständige Regionalpräsident Cajamarcas, Gregorio Santos, hätte nämlich Auswirkungen auf die Verfassung und die gesamte Steuergesetzgebung des Landes. »La Conga va«, sagt Humala – La Conga wird durchgesetzt. Siebzehn Jahre hindurch sollen im Tagebau täglich 92000 Tonnen Material abgebaut werden, wovon 80000 Tonnen toxische Rückstände haben werden. Vier Hochlandseen, die der Trinkwassergewinnung und der Bewässerung dienen, sind gefährdet. Peru, das in Lateinamerika auf Platz eins und weltweit auf Platz sechs der Goldförderländer steht, hat seit 2008 rund 400 Millionen US-Dollar von der Weltbank für eine Qualifizierung von Umweltgefährdungsanalysen erhalten. Aber – schreibt der peruanische Umwelt- und Naturschutzfachmann César Gamboa am 12. Mai – es kommt darauf an, wirksame Mechanismen zur Umsetzung der Empfehlungen zu installieren. Derweil ist aus Protest ein Teil der Linken aus der Regierung Humala ausgetreten; ein »Marsch für das Wasser und das Leben« fand in der ersten Februarhälfte statt. Damit haben die Bauern- und Indigenenorganisationen das Projekt vorerst bremsen können; der dreißigtägige Ausnahmezustand wurde inzwischen beendet. Aber außer »La Conga« gibt es noch viele Szenarien, die Peru beschäftigen: In der südlich gelegenen Aymara-Region Puno sind bereits jetzt dreißig Prozent des Departements konzessioniert. Für weitere dreißig Prozent sind Abbaulizenzen vorgesehen.

In Peru sind nach IDL-Angaben 72 Prozent der gesellschaftlichen Konflikte auf Bergbauprojekte zurückzuführen; weit dahinter rangieren die Auseinandersetzungen um lokale Regierungsführung mit nicht einmal sieben Prozent an zweiter Stelle. Die ärmsten Regionen des Landes sind die mineralienreichen Hochlanddepartements, wo sich die indigenen Völker konzentrieren. Deren Armutsrate (gerechnet nach einem Einkommen von umgerechnet unter 170 Euro) ist mit sechzig Prozent doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt. Damit ist der Konflikt, den der Bergbau hervorruft, auch einer zwischen Arm und Reich; gesellschaftliche Ausgrenzung und soziale Spaltung werden weiter vertieft. Daß die indigenen Gemeinschaften das Land besitzen, auf dem sie leben, spielt keine Rolle: So wie in anderen Ländern verfügen sie nicht über die darunter verborgenen Bodenschätze.

In Kolumbien, in dem schon für fünfzig Prozent des Landes Schürfkonzessionen an vorwiegend ausländische Großkonsortien und -unternehmungen vergeben wurden, kommt es zu massiven Protesten der lokalen Gemeinschaften. Darunter im »Páramo de Santurbán« auch einen erfolgreichen: Ein Goldtagebau, der durch die Auswaschungen mit Zyanid, Arsen und Quecksilber die Wasserreservoirs von über zwei Millionen Menschen bedroht hätte, wurde vom Umweltministerium vorerst gestoppt. Auch in Chile gab es den Stopp eines Minenprojektes: Der Oberste Gerichtshof nahm Anfang Mai die Genehmigung für die Goldmine El Morro zurück, die von der regionalen Umweltkommission von Atacama im März 2011 erteilt wurde, da der oben erwähnte Artikel 169 der Internationalen Arbeitsorganisation nicht berücksichtigt worden war. Im ebenfalls rechts regierten Panama, das unter anderem wegen des Mineralienexports lateinamerikaweit das stärkste Wirtschaftswachstum vorzuweisen hat (10,5 Prozent im Jahr 2011), hat die Regierung bei der Niederschlagung von indigenen Protesten in deren Landstrich Ngäbe-Buglé schon zwei Tote zu verantworten. Nach der Streichung des Artikels 5 aus dem Bergbaukodex, der die Aberkennung aller Minenlizenzen im Ngäbe-Buglé-Gebiet vorgesehen hatte, waren die örtlichen Gemeinschaften besonders gegen den Bergbau im Cerro Colorado vorgegangen – dort werden 17,5 Millionen Kilogramm Kupfer vermutet. In Uruguay will die Mitte-Links-Regierung ein großes Eisenerzprojekt angehen; und das, so Eduardo Gudynas, ausnahmsweise sogar ohne ein Wahlversprechen zu brechen. Das Programm der Frente Amplio war gar nicht erst auf Umweltfragen eingegangen. Und in Argentinien gibt es augenblicklich in zwölf Provinzen Auseinandersetzungen um den Bergbau, darunter in Andalgalá (Provinz Catamarca), wo das Unternehmen »La Alumbrera« mit Schlägertrupps auf protestierende Anwohner reagiert. Erst am 12. Mai hat die Polizei in derselben Provinz eine seit dem 29. Januar anhaltende Blockade in Tinogasta mit Pfefferspray aufgelöst, um LKW freie Durchfahrt zu den Megaminenprojekten in Catamarca und anderen argentinischen Andenprovinzen zu verschaffen.

Ein Entwicklungsmodell

Die Situation in Brasilien ist vergleichbar mit der seiner kleineren Nachbarn, perspektivisch jedoch wenigstens auf ein Ziel gerichtet. Auch in Brasilien mit seiner gigantischen Fläche, die der Größe Europas entspricht, wird Extraktivismus praktiziert, doch versteht es sich als Schwellenland, dessen Regierung statt auf Export auf nationale Entwicklung setzt. Es ist damit den Nachbarstaaten – nach denen es ansonsten durchaus selbst seine Konzerntentakeln ausstreckt, namentlich des noch mehrheitlich staatlichen Ölgiganten PetroBras oder des Großbauunternehmens Odebrecht – voraus. Das wird auch so bleiben, weil Brasilien mit seiner gleichzeitigen Entwicklungsstrategie ein Nebenmodell zum reinen Ressourcenexport umsetzt. Das Land ist denn auch bezeichnenderweise mehr durch das Staudammprojekt Belo Monte im nördlich gelegenen Bundesstaat Pará in den Schlagzeilen und im Blick der europäischen Nichtregierungsorganisationen statt wegen seiner Steinkohleförderung im flächenzerstörenden Tagebau. Mit der Stauuung des Xingu, einem Nebenfluß des Amazonas, durch den drittgrößten Damm der Welt unterstützt das Land die Entwicklung einer eigenen Industrie, für die es Strom braucht. Der Wasserkraft, einer gleichzeitig regenerativen und im Gegensatz zur Solartechnik ressourcenschonenden Technik, stehen am Xingu die Interessen der dort lebenden Ureinwohner und Flußanrainer entgegen. So wie in Deutschland vor hundert Jahren jene Bauern, die in den Tälern beispielsweise des Sauerlands lebten und wirtschafteten. Natürlich ist es nicht einfach hinnehmbar, daß es wegen des Großstaudamms in Amazonien zu Zwangsumsiedlungen kommen wird. Aber ebenso wenig ist es akzeptabel, daß das den Argwohn von allerlei Nichtregierungsorganisationen aus der schon industrialisierten Welt nach sich zieht, die zuhause Wasserkraft predigen und gleichzeitig – richtigerweise – gegen brasilianische Atomkraftwerke protestieren. Wer da aber auch noch gegen die dortigen Wasserkraftprojekte mobilisiert, versteht den Anspruch Brasiliens auf angemessenen Lebensstandard seiner annähernd zweihundert Millionen Menschen nicht – oder will den Aufstieg des Landes verhindern.

* Günter Pohl ist Experte für lateinamerikanische Politik und Mitglied des Parteivorstands der DKP

Aus: junge Welt, Freitag, 25. Mai 2012



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