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Fünfter Stern für Mercosur

Südamerika-Gemeinschaft wird immer größer

Von Gerhard Dilger, Porto Alegre*

Venezuela wird Vollmitglied der südamerikanischen Zollunion Mercosur. Auf der am Mittwoch beginnenden WTO-Ministertagung in Hongkong wollen die Südamerikaner der EU Kontra geben.

Im 15. Jahr seines Bestehens entwächst der »Gemeinsame Markt des Südens« (Mercosur) den Kinderschuhen: In der uruguayischen Hauptstadt Montevideo beschlossen die Präsidenten Argentiniens, Brasiliens, Paraguays und Uruguays am Freitag, Venezuela als fünftes Vollmitglied aufzunehmen. Noch vor wenigen Jahren wäre ein Beitritt eines links regierten Landes unvorstellbar gewesen – doch heute gibt die gemäßigte Linke den Ton in der Region an.

Während einer Übergangszeit, die bis Mitte 2007 dauern dürfte, sollen die handelspolitischen Details des Beitritts Venezuelas geklärt werden. Bis dahin kann das von Hugo Chávez regierte Erdölland in allen Instanzen des Mercosur mitreden, wenn auch ohne Stimmrecht.v Aufgeräumt gab sich Chávez in Uruguay. Er forderte, der Merco-sur solle sozialen Fragen gegenüber der »Integration der Eliten und der transnationalen Konzerne« Vorrang einräumen: »Der Mercosur muss der Schild unserer politischen und wirtschaftlichen Interessen werden.«

Darin ist sich Venezuelas Präsident mit seinen Kollegen Néstor Kirchner aus Argentinien und Lula da Silva aus Brasilien einig, auch wenn diese andere Akzente setzten. Kirchner erinnerte daran, dass es den jetzigen Partnern bereits vor fünf Wochen auf dem Amerika-Gipfel in Mar del Plata gelungen war, eine »neue kontinentale Agenda zu installieren«. Diese beinhaltet eine Absage an die von Washington gewünschten panamerikanische Freihandelszone ALCA.

Brasiliens Präsident drängte seine Kollegen dazu, besonders auf die EU Druck auszuüben: Die reichsten Industrieländer sollten auf der Ministertagung der Welthandelsorganisation (WTO) in Hongkong ihre Agrarsubventionen spürbar kürzen und den Marktzugang für Agrarprodukte des Südens verbessern, meinte Lula. Eine Verpflichtung, bis 2010 sämtliche Zuschüsse für Agrarexporte abzubauen, könne den WTO-Verhandlungen einen »wichtigen Impuls« geben, heißt es auch in der Abschlusserklärung des Mercosur-Gipfels.

Am Rande des Treffens wurden drei Abkommen im Energiebereich unterzeichnet, unter anderem über eine geplante Erdgasleitung von Venezuela nach Argentinien. Bis Ende 2006 soll zudem ein gemeinsames Parlament eingerichtet sein, ab 2011 werden die Abgeordneten direkt von der Bevölkerung der Mitgliedstaaten gewählt. Auch sozial- und kulturpolitische Initiativen sind in Arbeit, die Regeln für einen Strukturfonds zugunsten der kleineren Mitgliedsländer Uruguay und Paraguay wurden verabschiedet.

Die bei Unternehmern der Region weit verbreitete Skepsis gegenüber Chávez sei unbegründet, meint der liberale Politologe Gilberto Dupas aus São Paulo. Selbst für Washington sei die Einbindung Venezuelas eine »gute Lösung«, eine Dämonisierung des eigenwilligen Venezolaners sei der größte Fehler, den die internationale Gemeinschaft begehen könne.

Dass es nicht beim Beitritt Venezuelas bleiben soll, bekräftigten auch Gastgeber Tabaré Vázquez aus Uruguay und der scheidende chilenische Präsident Ricardo Lagos. Bereits jetzt sind sämtliche Andenländer assoziierte Mitglieder des Mercosur, Mexiko hat dies beantragt. Der Beitritt Venezuelas werde die Integration voranbringen, sagte Lula, der eine »südamerikanische Gemeinschaft der Nationen« anstrebt. Nur gemeinsam könne man in der globalisierten Weltwirtschaft bestehen. Und »weil das hier eine sehr machistische Angelegenheit ist«, freute sich Lula schließlich auf die erste Frau, die wohl am nächsten Mercosur-Gipfel teilnehmen wird: die chilenische Sozialdemokratin Michelle Bachelet.

* Aus: Neues Deutschland, 12. Dezember 2005


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