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Impulse für Europas Linke aus Lateinamerika

EU-Abgeordneter Helmut Scholz: Schub für Integrationsprozess

Der Ausbau der Kontakte zu den progressiven Kräften in den Staaten Süd- und Lateinamerikas gehört zu den Prioritäten der europäischen Linken. Mit Helmut Scholz, Europaabgeordneter der LINKEN und Vorstandsmitglied der Europäischen Linkspartei (EL), sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Uwe Sattler über den Stand der Beziehungen.



ND: Sie waren als Vertreter der Europäischen Linkspartei, der LINKEN und der Linksfraktion im EU-Parlament kürzlich in Südamerika. Worum ging es?

Scholz: Ich habe eine Einladung der brasilianischen Partei der Werktätigen (PT) zu ihrem 4. Parteitag wahrgenommen. Am Vorabend des Kongresses gab es eine Beratung mit internationalen Gästen, brasilianischen politischen Parteien und Nichtregierungsorganisationen zu aktuellen Fragen der Entwicklung in Brasilien und internationalen Herausforderungen. Dabei stand im Zentrum die Frage, wie die verstärkte lateinamerikanisch Kooperation dazu beitragen kann, dass sich die Völker dieses Erdteils angesichts der auch auf Lateinamerika durchschlagenden Wirtschafts- und Finanzkrise von neoliberaler Politik unabhängig machen. Zudem ging es darum, welche neuen Schritte gerade auch die PT und mit ihr die regionale Kooperation, z.B. das Forum von Sao Paulo als erfolgreichste regionale Zusammenarbeitsstruktur breiter linker Kräfte auf dem Kontinent, jetzt gehen müssen.

Konnten Sie denn Folgen der Krise in Brasilien erkennen?

Brasilien hat in den acht Jahren der Präsidentschaft Lulas und seiner PT eine sehr eindrucksvolle Bilanz vorgelegt. Das Land ist heute ein Gläubigerstaat des IWF, nicht mehr Schuldner, das Programm gegen die Armut wurde ebenso vorangetrieben wie die Landreform. Und die Delegierten machten deutlich: Lula steht heute vor Pele als Symbol für den Aufschwung Brasiliens. Aber natürlich geht die Wirtschafts- und Finanzkrise auch an Brasilien und den anderen Ländern der Region nicht vorbei, bleiben viele Probleme der Überwindung von Armut und Überwindung der sozialen Polarisierung Aufgabe Nummer eins. Angesichts der realen Mehrheitsverhältnisse im Bundesstaat Brasilien nicht verwunderlich, deshalb wird die Linke um die verstärkte Weiterführung ihres Kurses zu kämpfen haben. Zumal Lula selbst nicht mehr für das höchste Staatsamt kandidieren kann und hier auch klar die Verfassungslage verteidigt. Aber der Parteitag der PT hat mit Dilma Rousseff eine Präsidentschaftskandidatin aufgestellt, die die Unterstützung der gesamten Partei – unabhängig von den Flügeln, die in der PT als pluralistische Organisationen bestehen – erhält.

In den vergangenen Wochen haben mehrerer Politiker der deutschen und europäischen Linken südamerikanische Staaten besucht. Was macht die offensichtliche Attraktivität dieser Region gerade für die Linke aus?

Man muss sich vor Augen führen, dass es den Linken in Lateinamerika gelungen ist zu zeigen, dass es Alternativen zur neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik gibt. Die Linke Latein- und Südamerikas verständigt sich auf eigenständige, neue Formen der wirtschaftlichen und sozialen Kooperation, des gesellschaftlichen Aufbaus, den Ausbau regionaler wirtschaftlicher wie kultureller Kooperationsbeziehungen – ohne sich abzuschotten. Das ist ihre Antwort auf die Notwendigkeit, eigene Wege zu gehen und sich aus der Umklammerung der USA und anderer entwickelter Industrieländer, auch aus der EU, zu lösen. Das Vertrauen in die eigene Kraft und Möglichkeiten – trotz aller Schwächen und Probleme – ist ansteckend für den Gast aus der EU.

Das klingt mehr nach psychologischen Effekten. Gibt es die Möglichkeit für die Linke, konkrete Handlungsalternativen aus der Entwicklung der jeweils anderen Region abzuleiten?

Auf alle Fälle. Das Psychologische ist sicher eher Randerscheinung. Aber die Einführung der gemeinsamen Verrechnungswährung SUCRE und die Bank des Südens, alternative Handelsformen und Debatten, wie alternative Energiequellen zu erschließen sind – ohne ländliche Gebiete in Monokulturen für Biokraftstoffe zu verwandeln –, sind Fragen der Tagespolitik, die mit den Linken in Lateinamerika beispielsweise zu beraten sind. Man kann mit ihnen auch zu konkreten Formen der Bildung und der Öffentlichkeitsarbeit, z.B. über die mediale Kooperation im regionalen Verständnis, diskutieren. Gerade das halte ich für eine dringende Herausforderung, wenn die Linken in Europa über Fragen ihres Einflusses in der Gesellschaft diskutieren. Natürlich ist die Sprachbarriere in Lateinamerika günstiger zu überwinden als vielleicht in der EU mit ihren 23 Amtssprachen. Das Vorbild Süd- und Lateinamerika wird dazu beitragen, dass die Linke in Europa über neue und innovative Formen der Zusammenarbeit diskutiert.

Für progressive Kräfte in Lateinamerika geht es ganz konkret um die Übernahme von Regierungsverantwortung. Macht auch das die Region interessant?

Natürlich müssen wir die positiven wie die negativen Erfahrungen, wenn linke Parteien in Regierungsverantwortung kommen, sehen und auswerten. So hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung bereits seit längerem eine Serie von Veranstaltungen ins Leben gerufen, bei denen linke Kräfte beider Kontinente miteinander über die entsprechenden Erfahrungen diskutieren. Wie geht man konkret um mit der Organisation der Entwicklung der Produktivkräfte? Wie geht man um mit der Verantwortung Linker in der Finanz- und Steuerpolitik? Wie geht man als Linke in der Regierung um mit den Erfordernissen sozialer Sicherung bei knappen Kassen? Diese Fragen kann man nicht wegdrücken, wenn man in Regierungsverantwortung kommt. Und sie werden intensiv auf unseren Begegnungen debattiert.

Europas Linke hat sich über Jahre solidarisch mit den progressiven Bewegungen in Süd- und Lateinamerika gezeigt. Wenn man sich heute die Linkskräfte in einigen EU-Ländern, wie Italien, anschaut, scheint nun die Solidarität aus Übersee erforderlich.

Die Europäische Linke, die ja in Form der EL als Kooperationsstruktur existiert, aber, abstrakt formuliert, nicht den Anspruch auf die Vertretung aller linken Kräfte erhebt und damit sehr unterschiedlich daherkommt, befindet sich nach wie vor in einer nicht einfachen Situation. Die EL beschäftigt sich nach den Wahlen zum Europaparlament im vergangenen Jahr, bei der sie mit Ausnahme von Italien die bisherige Bilanz sogar etwas verbessern konnte, gegenwärtig sehr intensiv und konkret mit zentralen Fragen der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik im Europäischen Jahr des Kampfes gegen Armut und mit den Verwerfungsprozessen in der Eurozone. Alternativen müssen öffentlich werden, mit Betroffenen beraten werden.

Die Linken in allen Ländern sind gefordert, trotz teilweise unterschiedlicher Positionen die Gemeinsamkeiten herauszustellen und daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Ich bin optimistisch, dass die Partei der Europäischen Linken die Zeit bis zum 3. Parteitag im Dezember in Paris dazu nutzen wird.

* Aus: Neues Deutschland, 5. März 2010


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