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Unvollendete Demokratisierung

Ein Sammelband von Miriam Lang wirft ein Blick auf die Umwälzungen in Lateinamerika

Von Tobias Lambert *

Der Sammelband »Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation« widmet sich den linken Transformationsprozessen in Lateinamerika. Damit setzt die Rosa-Luxemburg-Stiftung ihre Reihe Manuskripte fort.

Die linken Transformationsprozesse in Lateinamerika haben seit der Jahrtausendwende bis weit über den Kontinent hinaus Interesse geweckt. Schließlich wurden in einigen Ländern große Themen auf die politische Agenda gesetzt: umfassende Demokratie, Partizipation, Entkolonisierung des Staates, Sozialismus. Soziale Bewegungen trugen linke Positionen in die Regierungen, aus oftmals radikaler Opposition wurden reale Gestaltungsmöglichkeiten.

Wie aber haben sich diese spannenden Prozesse in den vergangenen Jahren entwickelt? Konnte die Demokratie tatsächlich vertieft werden? Der Sammelband Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation geht diesen Fragen anhand von Bolivien, Ecuador, Venezuela und Kuba nach. Behandelt werden somit jene Länder, die in der Region diskursiv am weitesten links stehen.

Herausgeberin Miriam Lang, die in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito das Auslandsbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung für den Andenraum leitet, hat dazu überwiegend lateinamerikanische Autoren und Autorinnen gewinnen können. Diese kommen durchweg zu ambivalenten Beurteilungen. Nach einführenden Texten zu den Konzepten der Plurinationalität und des indigen inspirierten buen vivir (»erfülltes Leben«), folgt zunächst ein Block zu Bolivien. Ein bereits etwas älterer Text des ehemaligen Vize-Planungsministers, der Regierung unter Evo Morales, Raul Prada, zeigt die utopische Offenheit auf, die den politischen Diskurs in Bolivien vor einigen Jahren noch bis in die Regierung hinein prägte. Heute zählt Prada zu den linken Kritikern von Morales. Einen Überblick über die maßgeblichen Konflikte zwischen Regierung und sozialen Bewegungen gibt die Politologin Dunia Mokrani. Sie kommt zu dem eher pessimistischen Bild, dass seitens der Regierung eine »Entpolitisierung des Transformationsprozesses« angestrebt werde, indem diese »allen Widerstand über einen Kamm schert«. Eine noch stärkere Distanzierung zwischen Bewegungen und Regierung macht Pablo Ospina in Ecuador aus. Zwar habe es wie in den anderen Ländern durchaus Fortschritte im Kampf gegen den Neoliberalismus gegeben. Doch habe sich in der Regierung unter Rafael Correa ein staatszentristisches Politikverständnis durchgesetzt, mit dem sich die angestrebte Partizipation nicht so recht entfalten könne.

Der venezolanische Stadtteilaktivist Andrés Antillano beleuchtet in seinem Beitrag das Spannungsfeld zwischen Basispartizipation und zunehmender Institutionalisierung der »Politik von unten« in Venezuela. Einen unbefriedigenden Umgang mit Kritik macht der Soziologe Edgardo Lander innerhalb des Chavismus aus. Für den Aufbau von Alternativen zur kapitalistischen Gesellschaft seien tiefer gehende Debatten jedoch unabdingbar. Zwei Texte zur Reformbedürftigkeit des kubanischen Sozialismus runden den Band ab.

Insgesamt liefern die Beiträge jenseits verklärender oder verdammender Rhetorik interessante Ansatzpunkte für notwendige Diskussionen über die lateinamerikanischen Transformationsprozesse. Trotz unbestrittener Fortschritte im sozialen und politischen Bereich gibt es in puncto echter Demokratisierung noch viel zu tun.

Miriam Lang (Hrsg.): Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation, Berlin 2012, 180 Seiten, 12,90 Euro.


Auszug aus der Einführung von Miriam Lang:

«Die progressiven Regierungen Lateinamerikas haben (nicht nur) in Europa zu Recht Begeisterung und neue Hoffnung ausgelöst. Sie sind seit Jahrzehnten die ersten Regierenden, die für ihre Länder etwas anderes im Sinn haben als systematische Ausplünderung im eigenen Interesse – wie sie die Eliten der lateinamerikanischen Oberschicht, die sich in den bisher etablierten Zweiparteiensystemen die Macht weiterreichten, historisch praktiziert haben. Die neuen, progressiven politischen Konstellationen haben für Millionen historisch Ausgeschlossener Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen gebracht – und diese in einem gewissen Ausmaß auch materiell konkretisiert. In der Tat haben sich Bolivien, Ecuador und Venezuela seit der linken Machtübernahme grundlegend verändert, einerseits symbolisch, aber in vielerlei Hinsicht auch praktisch. Bessere Gesundheitsversorgung, bessere Bildung, bessere Infrastruktur sind Stichworte, die exemplarisch für diese Veränderung stehen. Dies anzuerkennen, ist eine Sache. Denn in allen drei Ländern handelt es sich um sehr widersprüchliche und fragile Prozesse, in denen von verschiedenen Akteuren ständig um die Richtung gerungen wird, und die außerdem einem starken äußeren Feind gegenüberstehen. Wenn Solidarität nur die Staatsräson stärkt oder gar historische politische Bewegungen ignoriert bzw. zum Staatsfeind erklärt, trägt sie zur Schließung experimenteller Räume bei, die durch Kritik und Debatte entstehen, und damit zur Schwächung dieser Prozesse an sich.

In allen drei hier behandelten Ländern stehen genau diese Fragen auf der Tagesordnung. Die Beiträge von Dunia Mokrani, Pablo Ospina, Floresmilo Simbaña und Edgardo Lander legen hiervon Zeugnis ab. Sie behandeln die faktische Teilhabe sozialer Organisationen und Bewegungen an der Gestaltung der Prozesse, die Legitimität von Kritik oder ihre Unterdrückung, die Schließung politischer Räume zugunsten des Machterhalts, das schwierige Erbe einer politischen Kultur, die nach einer starken Führungsfigur verlangt, und eines Staates, der dazu einlädt, sein Gewaltmonopol und seine Regeln einfach gegen die politischen Gegner einzusetzen. Sie beschreiben auch, wie leicht die alte politische Kultur erfolgreich umgesetzte Veränderungen einfach wieder überwuchert. Diese äußert schwierigen Fragen ernst zu nehmen und angesichts der getroffenen Weichenstellungen im Sinn der Emanzipation Partei zu ergreifen, sich also in den inneren Widersprüchen zu engagieren, die in konkreten von links gesteuerten Prozessen auftreten, anstatt sich mit äußeren Labels zufriedenzugeben, ist meines Erachtens Grundvoraussetzung eines gelingenden Internationalismus.

[...]

Die Debatten, die hier angeregt werden, verstehen sich als Beitrag zu einer Vertiefung der Transformation des Weltsystems, die ohnehin ohne Verschiebungen im globalen Norden wenig Chancen hat. Das ist der Sinn von Reziprozität. Es geht um mehr als nur um voneinander zu lernen, es geht darum, im jeweils eigenen Kontext Transformationen voranzutreiben, die zueinander komplementär sind und dem Vormarsch des Rohstoff-Neokolonialismus Einhalt gebieten. Das geht nur aus einem tieferen Verständnis der Prozesse im Süden und ihrer Probleme heraus, zu dem dieses Buch beitragen möchte.»




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