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Neues Selbstbewusstsein in Lima

Regierungen und Zivilgesellschaft diskutieren Zukunftsthemen an getrennten Tischen

Von Andreas Behn, Rio de Janeiro *

Die peruanische Hauptstadt ist in dieser Woche Gastgeber des 5. Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas und der EU.

Mehr als 50 offizielle Delegationen werden in Lima erwartet. Der Gipfel ist eine prestigeträchtige Veranstaltung, mit der Perus umstrittener Präsident Alan García die Rolle seines Landes als Wirtschaftsmotor in der Region unterstreichen will. Dementsprechend unwillkommen sind die Gäste des parallelen Treffens der globalisierungskritischen Bewegung beider Kontinente unter dem Titel »Enlazando Alternativas« (Alternativen verknüpfen).

Sicher scheint, dass diese fünfte Ausgabe des interkontinentalen Präsidententreffens wieder eine zwar wohlklingende, aber inhaltsleere Abschlusserklärung verabschieden wird. Obwohl die offiziellen Diskussionsthemen »Armutsbekämpfung« und »Nachhaltige Entwicklung« lauten, ist davon auszugehen, dass es weder konkrete Ergebnisse geben wird noch dass sich die Tendenz ändert, wirtschaftliche Themen gegenüber politischen Fragen der Menschenrechte oder der sozialen Gerechtigkeit Vorrang zu geben. Weniger sicher ist hingegen, wie viele Staatsoberhäupter den Gipfel im Nationalmuseum als wichtigen Termin in ihrem Kalender notiert haben. Zu schleppend gestaltet sich der Prozess, die beiden Blöcke mittels Assoziierungsabkommen wirtschaftlich und politisch aneinanderzubinden. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel den Termin in ihre erste Lateinamerika-Reise einbettet, die sie auch nach Brasilien, Kolumbien und Mexiko führen wird, war etwa die Teilnahme des angeschlagenen britische Premiers Gordon Brown offen.

Aus lateinamerikanischer Sicht hat der Gipfel, der seit 1999 alle zwei Jahre stattfindet, mehr Brisanz. Es geht dabei nicht nur um die mit immer größerer Vehemenz vorgebrachte Forderung, dass sich die EU den Agrarexporten öffnen und gegenüber dem neuen Zugpferd Agrotreibstoff eine wohlwollende Position einnehmen soll. Das neue politische wie ökonomische Selbstbewusstsein der Staaten Lateinamerikas sowie die Orientierung an regionalen Einigungsprozessen soll erneut demonstriert werden. Zugleich ist die Liste der fortschrittlichen Regierungen, die die neoliberalen Dogmen der 90er Jahre ablehnen oder zumindest in Frage stellen, mit der Wahl des linken Ex-Bischofs Fernando Lugo vergangenen Monat in Paraguay weiter gewachsen.

Dementsprechend wird auch die politische Trennungslinie innerhalb des Subkontinents auf der Tagesordnung stehen. Noch sind es drei wichtige Staaten, die weder die althergebrachte Wirtschaftslogik noch die enge Orientierung an den Interessen der USA in Frage stellen – an erster Stelle Kolumbien, aber auch Mexiko und eben Gastgeber Peru. So wird der beinahe militärische Konflikt zwischen Kolumbien und Ecuador in Folge der Bombardierung eines Guerilla-Lagers im Grenzgebiet ebenso Thema sein wie der Versuch seitens Venezuelas und Boliviens, das Treffen – wie bereits 2006 beim letzten Gipfel in Wien – als medienwirksame Plattform für das Werben um eine regionale Einigung im Rahmen des ALBA (Bolivarianische Alternative) zu nutzen. Aufgrund dieser politischen Konstellation wird der Parallelgipfel mehr als eine reine Protestveranstaltung werden.

»Alternativen verknüpfen« bedeutet zum einen Protest gegen die Einordnung in ein neoliberales Wirtschaftsmodell, zum anderen den Schulterschluss mit den Regierungsprogrammen, die seit einigen Jahren neue Wege für die lateinamerikanischen Gesellschaften suchen und nicht zuletzt als Denkanstoß und Modell auch in Europa dienen können. Vom 13. bis 16. Mai werden Tausende von Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen beider Kontinente in Lima an Workshops, Veranstaltungen und Demonstrationen teilnehmen.

Die Themenpalette des dritten Alternativgipfels nach Guadalajara in Mexiko 2004 und Wien 2006 ist vielfältig: Umverteilung und soziale Gerechtigkeit, Modelle einer nachhaltigen Landwirtschaft ohne Exportorientierung als konkreter Vorschlag zur gegenwärtigen Lebensmittelpreissteigerung, Sicherung der Menschenrechte von Frauen, Kindern oder ethnischen Minderheiten sowie die Kritik des allerorten mächtigen Meinungs- und Medienmonopols, um nur einige zu nennen. Außerdem wird es wie bereits in Wien ein Tribunal über die Praktiken einiger europäischer Transnationaler Konzerne geben. Ziel ist dabei, auf Verletzungen von Arbeits- und Menschenrechten sowie Umweltschädigungen hinweisen, für die die Konzerne in ihren Produktionsstätten in Lateinamerika und der Karibik verantwortlich sind.

Hintergrund - Europäische Konzerne vor Gericht

Als Teil des Gegengipfels »Alternativen verknüpfen«, der parallel zum Treffen der Regierungen in Lima stattfindet, wird das Permanente Tribunal der Völker (Tribunal Permanente de los Pueblos) europäische Konzerne anklagen. Ziel der symbolischen Prozesse ist, die Machenschaften der transnationalen Unternehmen in Lateinamerika und der Karibik zu untersuchen und die dokumentierten Schäden für die Umwelt sowie Verletzungen der Menschen- und Arbeitsrechte zu verurteilen. Das Forum steht in der Tradition des Russell-Tribunals der 70er Jahre. Es hat seinen Sitz bei der italienischen Basso-Stiftung und wird von prominenten Juristen, Menschenrechtlern und Friedensnobelpreisträgern getragen. Zuletzt fand das Tribunal 2006 in Wien statt.

Allein aus Brasilien sollen jetzt sechs Fälle verhandelt werden. Ankläger sind jeweils Organisationen der Zivilgesellschaft oder soziale Bewegungen, die aus ihren Reihen die Zeugen der Anklage stellen. Die Beklagten machen in der Regel von ihrem Verteidigungsrecht keinen Gebrauch. Shell und dem Baukonzern Suez etwa werden fahrlässige Schädigungen von Natur und sensiblen Ökosystemen vorgeworfen. Die Pharmariesen Boehringer und Roche müssen sich nach Klage der Brasilianischen Interdisziplinären Aids-Vereinigung wegen illegaler Medikamentenversuche, Verletzung der nationalen Gesetze und Patentrechtsbruchs verantworten. Dem britisch-holländischen Unilever-Konzern wird seitens der Regionalen Interamerikanischen Arbeiterorganisation vorgeworfen, in Chile, Kolumbien und Brasilien Arbeits- und Gewerkschaftsrecht zu missachten. Besondere Aufmerksamkeit rufen die Fälle von Thyssen-Krupp und Syngenta hervor. Dem deutschen Konzern werden schwere Umweltverbrechen beim Bau eines Hafens und Stahlwerks nahe Rio de Janeiro, dem Schweizer Konzern illegale Produktion von genetisch verändertem Saatgut vorgeworfen. A.B.

Chronik

  • Seit über 20 Jahren bemüht sich die EU, die traditionell guten Wirtschaftsbeziehungen zu den Staaten Lateinamerikas auf eine neue, vertraglich abgesicherte Grundlage zu stellen. Ausgangspunkt ist zum einen die historische Verbindung gut 500 Jahre nach der Eroberung der »Neuen Welt«, die bis heute kulturelle, sprachliche und christlich geprägte Gemeinsamkeiten hat. Andererseits bewirkt die strategische Konkurrenz zu den USA, dass sich Europa der ökonomischen Bedeutung dieser Region neu bewusst wird.
  • Regelmäßige Treffen der Außenminister der EU und der Mehrheit der Staaten Lateinamerikas seit 1987 sollen die Schaffung eines gemeinsamen biregionalen Wirtschaftsraumes vorbereiten. Erstes konkretes Ergebnis war 1995 die Unterzeichnung eines Rahmenassoziationsabkommens mit dem regionalen Zusammenschluss Mercosur.
  • Mit der Einberufung regelmäßiger Gipfel 1999 bekamen die Verbindungen neuen Schwung. Nach dem ersten Gipfel in Rio de Janeiro waren die gut 50 Staatschefs bisher in Madrid (2002), in Guadalajara (2004) und in Wien (2006) zu Gast.
  • Doch die Verhandlungen gestalten sich schwierig, zu unterschiedlich sind die Interessengeflechte beider Blöcke. Die Gespräche über einen Assoziationsvertrag mit dem Mercosur seit 1999 gerieten ins Stocken, mit der Andengemeinschaft CAN, dem zentralamerikanischen Block und den karibischen Staaten des CARICOM einigte man sich bisher nur auf unverbindliche Partnerschaftsabkommen.
  • Lediglich zwei bilaterale Verhandlungsprozesse mündeten in rechtlich verbindliche Assoziierungsabkommen: im Jahr 2000 mit Mexiko und 2005 mit Chile. Dabei geht es um Freihandelsverträge nach Vorbild der USA, die eine Liberalisierung der gegenseitigen Handelsbeziehungen weit über die umstrittenen Kriterien der Welthandelsorganisation WTO hinaus festschreiben.
A.B.



* Aus: Neues Deutschland, 13. Mai 2008


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