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Lateinamerika ist kein Bittsteller mehr

Beim siebten EU-Lateinamerika-Gipfel in Santiago de Chile gibt es ein Aufeinandertreffen auf Augenhöhe

Von Martin Ling *

Vor 14 Jahren ging es in Rio de Janeiro mit den EU-Lateinamerika-KarbikGipfeln los. Seitdem haben sich die Machtverhältnisse stark verschoben. Beim siebten Gipfel am 26. und 27. Januar in der chilenischen Hauptstadt Santiago trifft ein selbstbewusstes Lateinamerika auf ein krisengeschütteltes Europa - mit Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze.

Das Vorspiel ist in Brasília, die Hauptpartie in Santiago de Chile: Wieder einmal treffen sich europäische und lateinamerikanische Spitzenpolitiker, um vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen voranzutreiben. Den Start machte gestern (n. Redschluss) in Brasiliens Hauptstadt Brasília der 6. EU-Brasilien-Gipfel, an dem neben Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff unter anderem EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso teilnehmen sollten. Von der Bedeutung weit gewichtiger ist der 7. EU-Lateinamerika-Gipfel am Wochenende in Santiago de Chile, zu dem Staats- und Regierungschef beider Regionen geladen sind und viele kommen: allen voran die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.

Ob Merkel in Lateinamerika Anschauungsunterricht nehmen will, wie ein regulierter Kapitalismus ausschaut, ist ungewiss. Sicher ist, dass Lateinamerika im Vergleich zur EU boomt und dass das selbstverständlich bei europäischen Unternehmen Begehrlichkeiten weckt. In den vergangenen drei Jahren haben die Staaten mit einem durchschnittlichen Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 4,5 Prozent den EU-Wert um mehr als das Doppelte übertroffen. Während die EU, schwer angeschlagen von der Finanzkrise, sich auf eine Rezession einstellt, sind die Wachstumsaussichten für Lateinamerika und die Karibik im Schnitt ungleich besser.

Das Volumen des Handels zwischen der EU und Lateinamerika hat sich in den vergangenen zehn Jahren auf 214 Milliarden Euro verdoppelt und macht nun 6,5 Prozent des Außenhandels der Union aus, stellt die EU-Kommission fest. Ein wesentliches Element der Beziehungen seien die Investitionen aus EU-Staaten in Lateinamerika, die sich im Jahr 2011 auf umgerechnet 471 Milliarden Euro beliefen - mehr als in Russland, China und Indien zusammen.

Die generellen Rahmenbedingungen ermunterten Chiles Außenminister Alfredo Moreno zur Erklärung, Lateinamerika sei erstmals nicht mehr Teil des Problems, sondern eine Quelle der möglichen Lösungen für die globale Krise. Unbestritten sind die lateinamerikanischen Länder vor allem deswegen relativ gut durch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen, weil dort nach den verlorenen neoliberalen Jahrzehnten der 80er und 90er Jahre seit der Jahrtausendwende Linksregierungen die Weichen auf Reregulierung gestellt hatten. Das gilt querbeet von den radikaleren Ansätzen eines Hugo Chávez in Venezuela über Evo Morales in Bolivien bis hin zu den moderateren Lula und jetzt Rousseff in Brasilien.

Diese nationalstaatliche Stärkung der Regulationskompetenz wurde durch regionale Initiativen ergänzt. So treten die gastgebenden Staaten in Santiago erstmals als »Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten« (CELAC) auf. Dort sind alle souveränen amerikanischen Länder zusammengeschlossen - außer die USA und Kanada. Ein Ausdruck gewachsenen Selbstbewusstseins, dass sich nicht zuletzt auch ökonomisch äußert. So wie die USA weit davon entfernt sind, die von George Bush senior 1990 angedachte Freihandelszone von Alaska bis Feuerland in die Realität umzusetzen, vermag es die EU nicht, das als prioritär erachtete Freihandelsabkommen mit dem Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR) zu schließen. Diesem Bündnis gehören das Schwergewicht Brasilien, Argentinen, Uruguay, das derzeit wegen des Putsches im Juni 2012 suspendierte Paraguay sowie als Neumitglied Venezuela an. Zwar ist die EU der wichtigste Handelspartner mit 20 Prozent, doch das ist für den MERCOSUR kein Grund, sich über den Tisch ziehen zu lassen. Die 1999 gestarteten Verhandlungen liegen seit 2004 auf Eis: Die Agrarexportländer Brasilien und Argentinien drängen auf eine Öffnung des europäischen Marktes, die EU weigert sich. Das Argument: die europäischen Landwirte kämen unter die Räder. Ein Argument, das freilich keine Rolle gespielt hat bei den drei Freihandelsabkommen, die beim 6. Gipfel 2010 in Madrid unterzeichnet wurden: mit Kolumbien, Peru und mit Zentralamerika. Schließlich traf es da die Bauern des Südens. Doch die Zeit als lateinamerikanische Länder Bittsteller waren, sind vorbei. Das gilt vor allem für Brasilien.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 25. Januar 2013

Gipfel der Völker

Kein Gipfel ohne Gegengipfel. Diese Tradition wird seit Madrid 2002 gepflegt. In Santiago de Chile haben sich 400 Organisationen zum 6. Gipfel der Völker angemeldet, der vom 25 bis 27. Januar stattfindet. Das Motto: »Für die soziale Gerechtigkeit, die internationale Solidarität und die Souveränität der Völker«. Boliviens Präsident Evo Morales nimmt immer an beiden Treffen teil – das erste Mal 2006 in Wien. Es war in Bezug auf die Teilnahme der bisherige Höhepunkt der Gegengipfel, die vom Netzwerk »Enlazando alternativas« (Alternativen verknüpfen) organisiert werden. Im Mittelpunkt stehen traditionell die Auswirkungen neoliberaler Wirtschaftspolitik und die konkreten Verletzungen von Menschen-, sozialen und ökologischen Rechten durch die Unternehmen. ML




EU wartet auf die »Zeit nach Chávez«

Gipfeltreffen in Santiago de Chile: Europäer kommen als Bittsteller, aber hoffen auf zahmere Lateinamerikaner

Von André Scheer **


Die einstigen Kolonialherren kommen als Bittsteller. Am Wochenende werden in Santiago de Chile hochrangige Vertreter aus rund 60 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) und der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC) zu ihrem ersten Gipfeltreffen zusammenkommen, unter ihnen Kubas Präsident Raúl Castro und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Es ist eine Premiere, daß die im Dezember 2011 in Caracas gegründete CELAC, die alle Staaten des Kontinents außer Kanada und den USA umfaßt, als eigenständiger Akteur den Europäern gegenübertritt – und das durchaus selbstbewußt.

»Wir werden die wichtigsten Herausforderungen analysieren, denen sich die internationale Gemeinschaft gegenübersieht, und werden untersuchen, wie wir unsere Zusammenarbeit verstärken können«, ließ der Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, gewohnt unscharf verlauten. Konkret geht es um Investitionen »zur Schaffung von Arbeitsplätzen, Technologietransfer, Innovationsanreize, Steuereinnahmen sowie die Unterstützung von Zulieferbetrieben«, zitierte die spanische EFE aus dem Entwurf für einen in Santiago zu beschließenden Aktionsplan. Chiles EU-Botschafter Carlos Appelgren kommentierte dies im Gespräch mit der Nachrichtenagentur: »Ein paar stabilere Spielregeln werden von Vorteil für Lateinamerika sein, das bereits ein gutes Beispiel für Bonität, Fiskaldisziplin, Wachstum und Institutionalität gibt«. Das sei vor zwanzig Jahren noch anders gewesen.

In Berlin hofft man allerdings, daß die Abwesenheit von Hugo Chávez in Santiago für ein weniger forsches Auftreten der Latinos sorgt. Für die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) prognostizierte Günther Maihold Anfang Januar bereits eine »Zeitenwende in Lateinamerika«, weil sich nach einem von ihm schon als sicher angenommenen Ausscheiden des venezolanischen Staatschefs »die politischen Gewichte bald deutlich verschieben« werden. Zwar erwartet Maihold keinen »baldigen Zusammenbruch« der venezolanischen Regierung, aber zumindest, »daß sich die von Chávez aufgebaute ideologische Konfrontation mit marktwirtschaftlichen Positionen und dem ›westlichen Imperialismus‹ abmildert«. Gut für Brasilien, Mexiko und die USA, so Maihold: »Brasilien profitiert nicht nur kurz-, sondern vor allem mittelfristig am meisten davon, daß das regionale Gewicht Venezuelas schwindet. (…) Daß Venezuela seine Anti-Status-quo-Rolle nicht wird bewahren können, eröffnet Mexiko und insbesondere den USA größere Handlungsspielräume, zumindest im karibischen Raum.«

Solche Thesen sind für Carolus Wimmer Ausdruck des Wechselspiels zwischen Konkurrenz und Koopera­tion der imperialistischen Blöcke USA und EU. Während sich Washington zunehmend auf den asiatisch-pazifischen Raum konzentriere und dabei auf China als Widersacher stoße, versuche die EU wieder Fuß in Lateinamerika zu fassen, analysierte der Abgeordnete des Lateinamerikanischen Parlaments (Parlatino), der auch internationaler Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas ist, vergangene Woche in der Tageszeitung Correo del Orinoco.

Auf einen Kurswechsel der Lateinamerikaner deutet derzeit jedenfalls wenig hin. Nachdem sie ihre europäischen Gäste verabschiedet haben, werden sich die Staats- und Regierungschefs der CELAC am Montag in Santiago zu ihrem ersten offiziellen Gipfeltreffen seit der Gründung versammeln. Dann wird Kuba für ein Jahr die Präsidentschaft der CELAC von Chile übernehmen. Bereits am 7. Februar ist Havanna dann Schauplatz einer Konferenz der lateinamerikanischen Bildungsminister. »Die Zeiten haben sich geändert«, kommentierte dies Kubas Vizeaußenminister Abelardo Moreno am Donnerstag im Gespräch mit der Tageszeitung Granma: »Europa sollte verstehen, daß es, um seine Beziehungen mit Lateinamerika und der Karibik zu entwickeln, dies auf der Grundlage der Gleichheit, des Respekts und des gegenseitigen Nutzens tun muß.

** Aus: junge Welt, Freitag, 25. Januar 2013


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