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Ein Blick hinter die Schreckensmeldungen

Der Sammelband "NarcoZones" liefert profunde Informationen zum sogenannten Drogenkrieg in Lateinamerika

Von Tobias Lambert *

Mexiko gehört als Schwellenland zum exklusiven Club der G20-Staaten. Über Mexikos dunkle Seite, den unzählige Menschenleben kostenden »Drogenkrieg«, wird dabei hinweggesehen. Der Sammelband NarcoZones setzt mit informativen Artikeln einen gelungenen Kontrapunkt.

Die Gewalt in Mexiko hat schwer vorstellbare Ausmaße angenommen hat. Allein in der ersten Maihälfte dieses Jahres wurden drei Massaker mit Dutzenden Toten bekannt, die miteinander konkurrierende Drogenkartelle begangen haben sollen. Seit Nochpräsident Felipe Calderón 2006 das Militär gegen die Kartelle mobilisiert hat, sind offiziell über 50 000 Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Aufgrund der Vielzahl undokumentierter Migranten, die auf ihrem Weg in die USA von Drogenbanden rekrutiert oder getötet werden, dürfte die tatsächliche Zahl noch weitaus höher liegen. Außer gelegentlichen Verhaftungen hochrangiger Bandenchefs, hat die Regierung jedoch keine Erfolge vorzuweisen. Im Gegenteil: Da die Kartelle von Strukturen und nicht Einzelpersonen abhängen, bleiben selbst die Verhaftungen praktisch wirkungslos. Aufgrund der dramatischen Bilder und Zahlen fordern mittlerweile selbst konservative Beobachter in Lateinamerika die Legalisierung der Drogen.

Den Hintergründen dieses »Drogenkrieges« widmet sich in 17 aufschlussreichen Beiträgen der Sammelband »NarcoZones«. Dabei wird schnell deutlich, dass es mit einer Freigabe der Suchtmittel alleine kaum getan wäre. Nicht nur, dass eine Legalisierung in Lateinamerika nur begrenzte Auswirkungen hätte, solange die USA als größtes Konsumentenland nicht mitmachen. Längst operieren die Kartelle auch in anderen illegalen Wirtschaftszweigen wie Menschenhandel, Prostitution oder Markenpiraterie. Und auch in der formellen Wirtschaft ist das Geld aus dem Drogengeschäft präsent. Laut dem uruguayischen Sicherheitsexperten Edgardo Buscaglia erzielen die Kartelle mehr als die Hälfte ihrer Einnahmen außerhalb des Drogenhandels. Ebenso wie auf eine deregulierte Wirtschaft, schwache Institutionen und korrupte Behörden in ihren Ursprungsländern seien sie dabei auf rechtsstaatliche Verhältnisse anderswo angewiesen. So stecke das Drogengeld nicht nur in zahlreichen Wirtschaftssektoren Mexikos, sondern auch in Europa und Deutschland. Mit Gewalt alleine ließe sich dementsprechend nicht viel ausrichten, sagt Buscaglia. Notwendig seien vielmehr Maßnahmenbündel aus Prävention, Zerschlagung der finanziellen Basis, Justizreformen und Korruptionsbekämpfung. In einem hochspannenden Interview erklärt er zu Beginn des Buches die grundlegenden Zusammenhänge, die in vielen der darauffolgenden Artikel aufgegriffen werden.

Mit »NarcoZones« liegt eine profunde Einführung in die Hintergründe der Drogenökonomie Lateinamerikas vor. Etwa die Hälfte des Buches handelt von der Situation in Mexiko. Verschiedene Aspekte wie die Geschichte der Kartelle, die Auswirkungen auf Alltagskultur und Literatur sowie emanzipatorische Ansätze von unten werden aufgegriffen. Hinzu kommen lesenswerte Texte über Guatemala, Kolumbien, den Andenraum, Brasilien und die Routen Organisierter Kriminalität.

Wer wissen will, welche Problematiken sich hinter den Schreckensmeldungen verbergen und wer davon profitiert, kommt um dieses Buch nicht herum.

Anne Huffschmid, Wolf-Dieter Vogel, Nana Heidhues, Michael Krämer, Christiane Schulte (Hg.): NarcoZones. Entgrenzte Märkte und Gewalt in Lateinamerika, Berlin/Hamburg 2012, 272 Seiten, 18 Euro.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 26. Juni 2012


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