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Von unten auf

Debatte. In Lateinamerika zeigt sich: Die »Neue Linke« stellt das Leninsche Revolutionsmodell in Frage. Heute geht es um den Aufbau von Rätestrukturen durch Basisbewegungen und Staat

Von Helge Buttkereit *

Die Wahlergebnisse der vergangenen Monate zeigen: Die Rechten haben in einigen Ländern Lateinamerikas ihren Einfluß erweitern können. In Chile gewann ein Anhänger Pinochets die Präsidentschaftswahl, in Kolumbien wird Juan Manuel Santos vermutlich trotz der Versöhnungsgeste gegenüber Hugo Chávez die Politik des erklärten US-Verbündeten Alvaro Uribe grundsätzlich fortsetzen. In Bolivien zeugen die vergangenen Parlaments- und Regionalwahlen davon, daß die Bewegung von Präsident Evo Morales es weiterhin mit einer ernstzunehmenden rechten Opposition zu tun hat. Auch in Venezuela ziehen die Rechten nach dem Boykott vor vier Jahren sicher wieder ins Parlament ein.

Insofern ist eine »Rückkehr der Rechten«, von der Günter Pohl in jW schreibt (siehe jW-Thema vom 22. Juni 2010), in der Tat zu konstatieren. Eine Rückkehr auf dem Wahlzettel und durch den Wahlzettel, ebenso wie der Aufschwung der Neuen Linken in den vergangenen Jahren durch Wahlen gekennzeichnet war und auch noch ist. Denn Morales und die Bewegung zum Sozialismus (MAS) gewannen trotz der Erfolge der Opposition die Parlaments- wie auch die Regionalwahlen 2009 und 2010, Rafael Correa im vergangenen Jahr die Präsidentschaftswahlen in Ecuador, und ein Sieg der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) im Bündnis mit der kommunistischen Partei ist bei den im September anstehenden Parlamentswahlen zumindest zu erwarten. Insofern steht einer »Rückkehr der Rechten« eine weiterhin starke Linke gegenüber, die Pohl auch durchaus wahrnimmt.

Es stimmt ebenfalls, daß es – wie er in Unsere Zeit. Zeitung der DKP vom 25. Dezember 2009 schreibt – dauere, bis politische Veränderungen sichtbar werden. Ebenso richtig ist seine schon früher gemachte Aussage, daß Wahlen zwar einen Zwischenstand von politischen Stimmungslagen gäben, »aber nur selten erlauben sie eine Aussage über den Klassenkampf und noch weniger über die Aussicht auf eine sozialistische Gesellschaft«. Dies gilt aber für beide Seiten. Während Pohl dies nur auf die Linke münzt, muß man das auch auf mögliche Wahlerfolge der Rechten übertragen. Gerade in Ländern wie Venezuela oder Bolivien, in denen die Wandlungsprozesse schon einen gewissen Fortschritt erreicht haben, ist eine Rückkehr zur alten Politik nicht so einfach möglich. An der Basis gerade in Venezuela haben Prozesse von Selbstorganisation und teilweise von Selbstregierung eingesetzt, die eine rechte Regierung nicht übergehen kann. So kann das neue Gesetz über die Consejos Comunales nur über eine Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung geändert werden.

Der Opposition stünde bei einem – derzeit wenig wahrscheinlichen – Wahlsieg ein zumindest in Teilen politisch selbstbewußtes Volk gegenüber, das, und hier liegt der Hauptwiderspruch zur Position Pohls, sich derzeit in einem sozialrevolutionären Prozeß neuen Typs befindet. Einem Prozeß, der das hergebrachte Revolutionsverständnis der Linken in Frage stellt und der neue Wege für die Überwindung des Kapitalismus aufzeigt. Die Menschen in Venezuela kämpfen Tag für Tag gegen alte und neue Bürokratie, privatwirtschaftlichen wie staatswirtschaftlichen Kapitalismus. Während Chávez und die bolivarische Bewegung in den ersten Jahren auf die politische Veränderung der Verhältnisse und eine neue Verfassung gesetzt haben, sind sie nun zu der von Pohl herausgestellten Erkenntnis gelangt, »daß die Dialektik zwischen nationaler und sozialer Befreiung bewirkt, daß, wer glaubt, die zweite nicht zu brauchen, auch die erste verliert«.

Selbstkritik der Revolution

Pohls Revolutionsverständnis, das seiner Analyse zugrunde liegt, muß sich jedoch meiner Meinung nach durch die Entwicklungen in Lateinamerika, aber natürlich auch aufgrund des Scheiterns des sowjetischen Modells einer Selbstkritik unterziehen. Dabei wird das Verständnis von sozialer Revolution, das Pohl umtreibt und auf dessen Grundlage er ein Ausbleiben eben dieser sozialen Revolution insbesondere in Venezuela, Ecuador und Bolivien konstatiert, nicht explizit ausgesprochen. Es ist insbesondere in seiner zitierten Kritik an den seiner Meinung nach »hoffnungslos Hoffenden« aber zu finden. Mit diesen Worten beschreibt Pohl diejenigen aus der Solidaritätsbewegung für Lateinamerika, die seiner Meinung nach die Augen vor der Realität verschließen und aus solchen Entwicklungen eine Hoffnung ziehen wollen, die diese gar nicht hergeben würden.

Er kritisiert insbesondere die Auffassung, Sozialismus sei durch Wahlen und ein »Hineinwachsen« zu erreichen. Die unausgesprochene, aber logische Schlußfolgerung dieser Aussage wird wenig später durch das zustimmende Zitat des kubanischen Lateinamerikaspezialisten Roberto Regalado deutlich. Denn dieser konstatiert, daß für eine Revolution gegen das Kapital »irgendeine Art revolutionärer Gewalt« ausgeübt werden müsse. All dies deutet darauf hin, daß Pohl nur eine solche Revolution als Revolution anerkennt, in der eine kommunistische Partei als Avantgarde den Staatsapparat übernimmt und von dort aus die Gesellschaft von oben umgestaltet.

Selbst wenn man dieses hier grob beschriebene leninistische Revolutionsmodell noch differenzieren müßte, so hat die Geschichte doch eines gezeigt: Genau dieses Modell hat immer wieder zum Scheitern einer Revolution geführt, war die Ursache dafür, daß die Menschen, die doch eigentlich befreit werden sollten, unterdrückt wurden und die Konterrevolution sie leicht für sich gewinnen konnte. Ein solches mechanistisches Verständnis von Revolution läßt die Dialektik der Veränderung der Umstände und der Selbstveränderung der Revolutionäre außer acht, die Marx in der »Deutschen Ideologie« einst so beschrieben hat: »In der revolutionären Tätigkeit fällt das Sich-Verändern mit dem Verändern der Umstände zusammen.«

Revolution als Prozeß

Das Ziel einer befreiten Gesellschaft läßt sich nicht hinter dem Rücken der Befreiten erreichen oder, anders ausgedrückt, niemand anderes als die Menschen können sich selbst befreien. Hermann Kocyba beschreibt es so: »Weder das Vertrauen in einen Geschichtsautomatismus noch der Machiavellismus einer leninistischen Kaderpartei werden diesem Ziel gerecht. Bereits die Art und Weise, in der hier das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll, verfehlt dieses von Anbeginn an.« Zweifellos ist eine weitere historisch-logische Analyse konkreter Revolutionen für eine tiefgehendere Selbstkritik wichtig. Ich möchte es hier mit den Worten von Antenea Jimenez problematisieren. Sie kämpft als Basisaktivistin in Venezuela für eine neue Gesellschaft und stellt den bolivarischen Prozeß den historischen Erfahrungen entgegen: »Es gab andere Formen des Sozialismus wie in der Sowjetunion, die vom Staat her konstruiert waren. Als dort der Staat kollabierte, wurde alles zerstört. Also ist dort etwas passiert. Haben sich die Menschen dort wirklich als Teil eines Prozesses gefühlt? Es gab einige Erfolge, aber ohne daß sich die Menschen dem zugehörig fühlten. Die Erfahrungen aller Revolutionen der Vergangenheit, ob in Rußland, Kuba oder in anderen Ländern des Südens haben gezeigt, daß der bürgerliche Staat bestehen bleibt, wenn die Menschen nicht wirklich teilhaben. Solch eine Konzeption des Sozialismus ist nicht brauchbar, denn der bürgerliche Staat ist nicht der Staat des Volkes. Wir arbeiten hingegen an einem alternativen System von solidarischem Austausch.«

Ausgehend von dieser Kritik am staatszentrierten Modell des Ostblocksozialismus werde ich mich im folgenden auf Venezuela beschränken, denn die bolivarische Revolution ist im Verhältnis zur Neugründung in Bolivien und zur Bürgerrevolution in Ecuador am weitesten fortgeschritten. Die Analyse von Chancen und Grenzen der Revolution als Prozeß ist hier am ehesten möglich. Marta Harnecker, linke Soziologin aus Chile, hat dabei den bolivarischen Prozeß im Januar 2003 als »Revolution sui generis« definiert: »Wenn wir meinen, daß Revolution Übernahme von Macht und die Zerstörung des reaktionären Staatsapparates sowie die Durchführung dramatischer ökonomischer Maßnahmen zur Enteignung der Besitzer der Produktionsmittel bedeute, dann ist, was in Venezuela passiert, zweifelsohne keine soziale Revolution. Wenn wir aber davon ausgehen, daß Revolution ein Prozeß ist, in dem politische Macht von einer sozialen Gruppe auf eine andere übergeht und dann grundlegende Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft erfolgen, und wenn wir glauben, daß es die Hauptaufgabe eines solchen Prozesses ist, die wichtigen Subjekte dieser alternativen Gesellschaft zu bilden, dann kann man sagen, daß der bolivarische Prozeß tatsächlich ein revolutionärer Prozeß ist.«

Mittlerweile haben die Protagonisten des Prozesses eine solche Stärke erreicht, daß sie zum einen die Selbstregierung konsequent ausbauen und zum anderen den reaktionären Staatsapparat in einer Doppelherrschaft bekämpfen oder auch zersetzen können. Außerdem gibt es immer mehr Kämpfe zur Übernahme der Kontrolle über die Produktionsmittel. Das, was laut Günter Pohl notwendig ist, nämlich »nicht nur die Existenz, sondern auch der Willen des nach oben zu wälzenden Subjekts sowie einer Kraft, die den Weg zum Sozialismus theoretisch und die Revolution praktisch anpackt«, ist vielerorts vorhanden.

Der Aufgabe einer theoretischen Durchdringung, der Kritik und Selbstkritik des Prozesses, die die revolutionäre Organisation zu leisten hat, wird zwar die PSUV derzeit kaum gerecht, die Protagonisten des Kampfes an der Basis verlangen an vielen Stellen diese Rolle von der Partei. So fordert der Direktor des Netzes der kommunalen Räte in Caracas, Wilder Marcano, angesichts der zwei Hauptkampflinien der Basisbewegung in Venezuela – Kampf um Arbeiterkontrolle in den Betrieben und Kampf um die Volksmacht in den Consejos Comunales – die Vereinigung der beiden Bereiche und von seiner Partei die führende Position in diesem Kampf.

Aufbau von Rätestrukturen

In Venezuela werden derzeit von unten nach oben Rätestrukturen aufgebaut. Dabei ist das Verhältnis zwischen Regierung und selbstorganisierten Protagonisten entscheidend. Schon die seit 2002 als »Misiones« gestarteten Sozialprogramme erfordern die Organisation der Menschen vor Ort. Das Geld, das die Regierung bereitstellt, gibt es nur dann, wenn die Menschen sich zusammenschließen und die Umsetzung des jeweiligen Programms in die eigenen Hände nehmen. Ob Gesundheitskomitees, Organisationen für den Wohnungsbau oder Landkomitees. Durch Protektion der Regierung entstanden überall neue Organisationen, die den Menschen klarmachten, daß eine wirkliche Veränderung nur dann möglich ist, wenn sie sich selbst beteiligen.

Seit 2006 bilden dabei die Consejos Comunales (auf Deutsch in etwa: »kommunale Räte«) die Grundeinheit. Mittlerweile gibt es über 30000 dieser Räte, die sich im ganzen Land gebildet und die verschiedene Aufgaben der Misiones vor Ort ebenso übernommen haben wie Aufgaben der kommunalen Selbstverwaltung. Dabei ist das Betätigungsfeld nicht immer genau abgegrenzt. Vielmehr kommt es zum ständigen Kampf mit der alten Bürokratie, die ihre Pfründe verteidigen will und auch mit der mittlerweile entstandenen neuen Bürokratie, die ebenso versucht, Gelder und Kompetenzen an sich zu binden und so das Ziel der Selbstregierung torpediert.

Daß es beim Aufbau der Rätestrukturen letztlich um eine neue Form der Staatlichkeit geht, macht Hugo Chávez selbst klar, wenn er immer wieder vom »kommunalen Staat« spricht, der ausgehend von den Consejos Comunales, den Comunas als deren nächsthöheren Zusammenschluß und den daraus wiederum gebildeten kommunalen Städten aufgebaut werden soll. Daß die Räte zumindest in Teilen erfolgreich sind, zeigen insbesondere die kämpferischen Positionen von Menschen an der Basis, deren Bewußtsein über die Notwendigkeit der Selbstorganisation durch den Prozeß gestärkt oder zum Teil erst gebildet wurde.

Die konkrete Kritik der historischen Revolutionen von Antenea Jimenez ist ein gutes Beispiel dafür. Sie entstand direkt aus der Erfahrung des Kampfes um den Ausbau der kommunalen Selbstbestimmung. Jimenez will mit den Consejos Comunales einen politischen Raum der Partizipation schaffen, der allerdings nur dann komplett wirksam sein könne, wenn der Staat zu einem kommunalen Staat transformiert werde, sagt sie. Nur dann könne der Sozialismus möglich werden. Ausgangspunkt für den Prozeß ist für sie wie auch für Wilder Marcano die konkrete Organisation vor Ort. Er sagt: »Der Consejo Comunal ist eine Form, das Gebiet radikal neu zu organisieren, eine geographische Radikalisierung, in der die Menschen in das Zentrum gestellt, in der die wirklichen Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden und von dem aus eine spezifische Form von Ökonomie aufgebaut werden kann.«

Arbeiterselbstverwaltung

Für den Aufbau einer neuen Ökonomie gibt es viele Beispiele. Insbesondere der Kampf um die Arbeiterselbstverwaltung zeigt in eine eindeutige Richtung. Dabei gab und gibt es an verschiedenen Stellen Streiks für die Übernahme des Betriebs, der beispielsweise beim Stahlproduzenten Sidor erfolgreich war, bei der venezolanischen Niederlassung von Mitsubishi hingegen nicht. Während auf der einen Seite die Regierung den Arbeitern beistand, standen im anderen Fall die Beziehungen zu Japan im Vordergrund. Diese Schwerpunktsetzung liegt wiederum in der spezifischen Rolle des Staates begründet.

Eine sozialistische Regierung, die antiimperialistische Politik betreibt, steht immer vor dem Dilemma, daß sie die nationale Industrie diversifizieren muß – der Fall Mitsubishi ist hier paradigmatisch – und dabei auf die nationale Bourgeoisie und zum Teil auch auf internationale Kooperationen angewiesen ist. Dadurch gerät die Regierung immer wieder in den Widerspruch mit der eigenen Basis. Im Kampf um die Übernahme von Mitsubishi unterstützte sie so die Arbeiter bei der Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und sorgte dafür, daß Lohndumping durch Zeitarbeitsfirmen beendet wurde. Die Übernahme der Fabrik durch die Arbeiter unterstützte sie nicht. Neben dem unter Bedingungen des Kapitalismus erreichten relativen Fortschritt besserer Arbeitsbedingungen entstand in dieser Auseinandersetzung aber auch eine politisch aktive Arbeiterschaft, die sich bewußt ist, daß ihr Kampf mit dem der Consejos Comunales verbunden werden muß. So bildeten die organisierten Gemeinschaften im Moment der Gefahr eine Menschenkette um die besetzte Fabrik.

Die Verbindung zwischen kommunalen Räten und Arbeiterräten als Grundlage der Arbeiterselbstverwaltung ist entscheidend für den weiteren Verlauf der Revolution. Dies ist auch den Aktivisten der besetzten Fabriken klar, deren Vereinigung Freteco für die Vergesellschaftung der Betriebe kämpft, da sie sich klar darüber ist, daß Betriebe im Besitz der Arbeiter nur eine neue Form des Kapitalismus darstellen. Arbeiterkontrolle in Staatsbetrieben mit Rückbindung an das organisierte Volk, das ist das Ziel von Freteco, und es gehört spätestens seit der Verstaatlichung von Sidor auch zum Programm von Chávez. Schließlich ist am 13. Mai dieses Jahres die Arbeiterkontrolle für die staatliche Rohstoff- und Metallindustrie Guayanas – dem industriellen »Herz« Venezuelas – für allgemeingültig erklärt worden, ein großer Fortschritt für den Prozeß als Ganzes.

Dies sind nur einige von vielen praktischen Beispielen einer Revolution, die mit einer großen Anzahl an Gegnern von innen und außen zu kämpfen hat. Dabei hat sie eindeutig einen sozialen Charakter. Das ist keine Wortklauberei, denn selbst wenn völlig klar ist, daß diese Revolution noch beileibe nicht das Ziel erreicht hat – dies zeigt schon die Tatsache, daß die Privatwirtschaft zwischen 1998 und 2008 stärker wuchs als die der Gemeinwirtschaft –, dann verändert diese Erkenntnis die Blickrichtung der Unterstützer. Und Unterstützung braucht die bolivarische Revolution in ihrem konkreten Klassenkampf auf Grundlage der spezifischen Situation einer lateinamerikanischen Gesellschaft, die auf den Export von Öl ausgerichtet ist.

Spezifische Kampfbedingungen

Schon aufgrund dieser spezifischen Ökonomie hat der Klassenkampf eine andere Form als in Europa. Die historische Grundlage der heutigen Gesellschaft spielt eine weitere wichtige Rolle. Wollen wir den Klassenkampf verstehen, der in Venezuela und in den anderen Staaten Lateinamerikas herrscht, dann müssen wir tiefergehen. Hierzu nur ein paar Stichpunkte. Es sei auf die geringe Zahl von Industriearbeitern im Verhältnis zu prekären Selbständigen verwiesen oder aber auf die besondere Rolle der Bürokratie gerade in einem Land, das von der Ölrente lebt. Auch ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit in den Staatsunternehmen logischerweise eines zwischen Staat und Arbeit, was in der konkreten Situation in Venezuela an Bedeutung gewinnt, wenn die Arbeiter beispielsweise gegen die Regierung Chávez streiken.

Dieses Problem verweist zum einen erneut auf die angesprochene spezifische Rolle des Staates im Prozeß der Revolution und zum anderen auf eine Verlagerung der Interessen in den verschiedenen Schritten des Klassenkampfes, der als Lernprozeß der Arbeiterklasse abläuft. Diese darf man sich ja keinesfalls als monolithischen Block, sondern man muß sie, bedingt durch die Stellung im Produktionsprozeß, als in sich widersprüchlich begeifen.

Nehmen wir beispielsweise den konkreten Fall des Streiks zweier Gruppen von Arbeitern beim venezolanischen Aluminiumproduzenten ALCASA 2009. Ein Teil der Arbeiter streikte für unmittelbare Interessen der Arbeiter im Kapitalverhältnis ohne Rückbindung zur revolutionären Regierung und stellte sich somit gegen den laufenden Wandlungsprozeß, was Chávez mit scharfen Worten kritisierte. Die andere Seite der Arbeiter indes forderte die Wiedereinsetzung der suspendierten Arbeiterselbstverwaltung bei ALCASA, die besonders wichtig war, weil die Bürokratie sich das Staatsunternehmen wieder angeeignet hatte und dabei die üblichen Formen von Korruption und Mißwirtschaft auftraten. Die politisch bewußten Arbeiter trieben durch den letztlich erfolgreichen Kampf um die Kontrolle über die Fabrik die Revolution voran. Das spezifische Interesse der ersten Gruppe kann sich in Folge dieses Kampfes wiederum verlagern, da viel mehr als nur ein Lohnkampf möglich ist und sich den Arbeitern durch die Übernahme der Kontrolle über die Produktion bei ALCASA und die Rückbindung an den revolutionären Prozeß ganz andere Möglichkeiten ergeben. Solcherart letztlich erfolgreiche Kämpfe einer politisch bewußten revolutionären Arbeiterschaft sind es dann auch, die die Verlagerung des Interesses beispielsweise auch im Kleinbürgertum zugunsten der Revolution entscheiden werden.

Der Klassenkampf verläuft in Venezuela zwischen Bewegung und Bürokratie in der politischen wie der ökonomischen Verwaltung und ist Ausdruck davon – ebenso wie die Kämpfe ums Land, um besetzte Betriebe und die Medien. Daß der Klassenkampf der revolutionären Bewegung in Venezuela im ökonomischen Sektor ausgebaut werden muß und vor allem der Staat hier noch mehr Unterstützung leisten kann, ist klar. Es kommt zudem darauf an, den Kampf auf eine klare theoretische Grundlage zu stellen, da nur von dieser ausgehend das Ziel wirklich sichtbar und vor allem dann auch zu erreichen ist. Dies gehört zu den vielen Aufgaben, deren Lösung über Sieg oder Niederlage des bolivarischen Prozesses entscheiden werden.

* Helge Buttkereit ist freier Journalist und Publizist. Anfang 2010 erschien von ihm im Verlag Pahl-Rugenstein Nachfolger »Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika«, 162 Seiten, 16,90 Euro

Aus: junge Welt, 18. August 2010



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