Späte Erkenntnis
"Lateinamerikas politische Ökonomie"
Von Sonja Wenger *
Die Ursachen, aber auch die Folgen der aktuellen Weltwirtschaftskrise
haben deutlich gemacht, wie stark wirtschaftliche Faktoren mit sozialen
und politischen Entwicklungen verbunden sind. Der schnelle Reichtum
einiger weniger bedingt die Ausdehnung der Armut und des Elends in
weiten Teilen der Bevölkerung. Das trifft auch für den
lateinamerikanischen Kontinent zu.
Der inzwischen emeritierte deutsche Soziologieprofessor Dieter Boris
hatte bereits 2001 eine Analyse der politischen Ökonomie Lateinamerikas
vorgelegt. Um die Jahrtausendwende befand sich der Kontinent nach
einigen tiefgreifenden Krisen in einer Phase des Aufschwungs. Der daraus
resultierende wirtschaftliche und politische Wandel hat auch eine Reihe
von Links- oder Mitte-links-Regierungen an die Macht gebracht, von denen
sich einige zum Teil deutlich gegen die bis heute in Lateinamerika
vorherrschende neoliberale Orientierung ausgesprochen haben.
Dies und die Frage, weshalb Lateinamerika wesentlich weniger stark von
der aktuellen Weltwirtschaftskrise betroffen ist, haben den Autor dazu
bewegt, eine aktualisierte und erweiterte Neuauflage herauszugeben.
«Lateinamerikas politische Ökonomie - Aufbruch aus historischen
Abhängigkeiten im 21. Jahrhundert?» bietet eine kluge Einordnung und
solide Analyse der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen
Entwicklungen der letzten 140 Jahre.
Boris, dessen wissenschaftliche Schwerpunkte die sozioökonomischen
Prozesse und sozialen Bewegungen in Lateinamerika, die
weltwirtschaftliche Entwicklung und der Nord-Süd-Konflikt sind,
kritisiert den Neoliberalismus harsch. Die sozialen Folgen von
Privatisierungen und Deregulierung haben sich gerade in den vergangenen
zehn Jahren derart verschärft, dass laut Boris sogar bei den
BefürworterInnen des Neoliberalismus ein gewisses Umdenken erkennbar wird.
Einziger Wermutstropfen in diesem fundierten Überblick ist die Sprache.
Komplizierte, langatmige Schachtelsätze und ein ausufernder Gebrauch von
Fremdwörtern erschweren den Einstieg und den Lesefluss. Der Autor setzt
zudem ein breites Wissen über Wirtschaftszusammenhänge sowie die
Geschichte und Politik des Kontinents voraus.
Doch wem es gelingt, die anfänglichen stilistischen Hürden des Buches zu
überwinden, wird mit packenden Einsichten in komplexe Mechanismen
belohnt: sei es bei der Begründung, weshalb es in Lateinamerika immer
wieder zu Militärregimes kam, bei der Formulierung von
wirtschaftspolitischen Alternativen oder bei der Darstellung der
schweren Schuldenkrise der achtziger Jahre.
Boris, Dieter: Lateinamerikas politische Ökonomie - Aufbruch aus
historischen Abhängigkeiten im 21. Jahrhundert? VSA Verlag: Hamburg
2009, 192 Seiten, 16,80 Eur; 29.50 SFr; ISBN: 978-3-89965-258-1
* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 24. Dezember 2009
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