Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ist der Neoliberalismus in Lateinamerika am Ende?

Amerikanisches Gipfeltreffen ohne Ergebnis beendet - Ist die Freihandelszone ALCA tot? - Berichte und eine Rede des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez

Das Gipfeltreffen der amerikanische Staats- und Regierungschefs im argentinischen Mar del Plata verlief für die Verfechter des Freihandels und die Parteigänger Washingtons enttäuschend: Es kam nicht zum vorgesehenen Abschluss einer amerikanischen Freihandelszone (ALCA). Und der populäre venezolanische Präsident und erbitterte Gegner der Bush-Administration Hugo Chávez triumphierte und sieht das Projekt bereits in der geschicjtlichen Versenkung verschwinden.
Im Folgenden dokumentieren wir zwei Zeitungsberichte über das Gipfeltreffen und eine Rede, die Chávez am 4. November anlässlich einer globalisierungskritischen Kundgebung vor Ort gehalten hat.



Gegenwind von Süden

ALBA statt ALCA: Auf dem Gipfeltreffen amerikanischer Staats- und Regierungschef wurde das Thema Freihandel mangels Einigungsaussichten ausgeklammert

Von Wolfgang Pomrehn, Mar del Plata*

Schlechte Zeiten für Freunde des Freihandels auf dem amerikanischen Kontinent. Am Wochenende erlebten sie auf dem Gipfeltreffen amerikanischer Staaten im argentinischen Mar del Plata erneut eine Pleite. 2005 sollte das panamerikanische Freihandelsabkommen (ALCA, auf Englisch FTAA abgekürzt) in Kraft treten, hatte es vor vier Jahren im kanadischen Quebec City gehießen. Doch daraus ist bisher nichts geworden.

Schon damals hatte ein ähnliches Treffen der amerikanischen Präsidenten und Regierungschefs, von dem wie üblich die Vertreter Kubas ausgeschlossen blieben, massiven Straßenprotest hervorgerufen. Die Amerikaner in Nord und Süd mögen die Freihandelspläne nicht. Das zeigte sich auch am Wochenende. In Argentinien, so hatte eine Meinungsumfrage der Tageszeitung Pagina 12 ergeben, unterstützt nur ein Drittel der Bevölkerung die Verhandlungen über die von den USA angestoßene Freihandelszone. Im Land der Rinderzüchter und Soja-Großbauern setzen traditionell die am Export orientierten agrarischen Kreise auf Freihandel. Immerhin produziert das Land Nahrungsmittel für das Zehnfache seiner Bevölkerung. Auf der anderen Seite setzen die argentinischen Gewerkschaften auf den (Wieder-) Aufbau einer heimischen Industrie, der nur hinter Zollbarrieren gelingen kann. Auch kleine und mittlere Geschäftsleute halten wenig davon, ihre Wirtschaft vollends und restlos der US-Konkurrenz auszusetzen, wie es in der geplanten Freihandelszone geschehen würde. Entsprechend hatte sich ihr Verband der Forderung »Bush raus aus Argentinien« angeschlossen, wie man in den Schaufenstern diverser Geschäfte in Mar del Plata lesen konnte. Auch auf der Demonstration von 40000 Freihandelsgegnern am Freitag waren die Gewerbetreibenden mit einem kleinen Block vertreten.

Bush ohne Chance

Die US-Regierung scheint erkannt zu haben, daß das entsprechende Abkommen derzeit nicht durchsetzbar ist. Deshalb hielt sich Präsident George W. Bush in Sachen Freihandel auch bedeckt. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Argentiniens Präsident Nestor Kirchner vermied er jeden Bezug auf die unterbrochenen Verhandlungen, für die er in Mar del Plata gerne einen neuen Startschuß gegeben hätte. Auch Kirchner schnitt das Thema nicht an. Er hatte statt dessen versucht, von Bush Unterstützung für Argentiniens Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu bekommen. Der IWF will Buenos Aires seine Bedingungen für ein Abkommen über die Umschichtung der Schulden des Landes aufzwingen, doch Kirchner sträubt sich seit über einem Jahr dagegen.

Allerdings steckt der argentinische Staatschef in einem Dilemma: Seine harte Haltung bei der Rückzahlung der Auslandsschulden, die das lateinamerikanische Land seit den 1980er Jahren ausbluten, war ihm bisher nur aufgrund der in den letzten zwei Jahren sprunghaft gestiegenen Einnahmen aus dem Export von Lebensmitteln möglich. Vor allem gentechnisch verändertes Soja läßt sich auf dem Weltmarkt gut absetzen. Dessen Anbau verursacht jedoch auf dem Land katastrophale ökologische und soziale Schäden, während andererseits konservative Agrarier und multinationale Agrochemie-Konzerne gestärkt werden. Mit diesen Widersprüchen wird Kirchner sich allerdings weiter allein herumschlagen müssen. Argentinien, so Bushs Kommentar zu Kirchners Wunsch nach US-Hilfe, sei stark genug, sich alleine beim IWF durchzusetzen.

Machtfaktor Brasilien

Bush hatte Mexikos konservativen Präsidenten Vicente Fox vorgeschickt, der die Werbetrommel für neue ALCA-Verhandlungen rührte. Mit wenig Erfolg: Die sogenannten Mercosur-Staaten Brasilien, Paraguay, Uruguay und Argentinien machen Gespräche davon abhängig, daß die USA ihre Agrarsubventionen einstellen. Auch die mehr oder weniger linken Regierungen in Brasilia, Montevideo und Buenos Aires vertreten in der Frage des Freihandels derzeit vor allem die Interessen der Großgrundbesitzer. Allerdings führte das in der gegebenen Situation zu einer Blockade, so daß Fox schon zu Beginn des Gipfels drohte, man könne über ALCA auch ohne den Mercosur verhandeln. So richtig ernst hat das jedoch in Mar del Plata niemand genommen, denn eine Freihandelszone ohne Brasilien, die mit Abstand größte Volkswirtschaft Südamerikas, ist nicht denkbar.

Für ALCA sieht es jedenfalls auch nach dem Gipfel nicht gut aus. »In Mar del Plata wurde ALCA begraben«, frohlockte Venezuelas Präsident Hugo Chavez. »Als nächstes begraben wir den Kapitalismus«, rief er vor über 30000 begeisterten Zuhörern im Stadion von Mar del Plata, wo die Veranstalter des Gegengipfels eine Kundgebung gegen ALCA und Bush organisiert hatten. Chavez’ Vorschlag, statt dessen eine Alternativa Bolivariana (ALBA, benannt nach Simon Bolívar, der den Norden Südamerikas von spanischer Kolonialherrschaft befreite) zu gründen, bedeutet zwar noch nicht das Ende des Kapitalismus in Lateinamerika, zielt jedoch darauf, daß dessen Länder ihre Ressourcen nach Jahrhunderten ausländischer Dominanz für die eigene wirtschaftliche Entwicklung einsetzen. Auf dem Gegengipfel stieß er damit auf viele offene Ohren. Die Abschlußerklärung teilt die Zielstellung, mochte sich jedoch nicht ausdrücklich auf ALBA festlegen.

* Aus: junge Welt, 8. November 2005


Gipfel der Völker kontra Amerika-Gipfel

Gegenveranstaltung in Mar del Plata zeigt Alternativen zum neoliberalen Kurs auf

Von Jürgen Vogt, Mar del Plata**

Am Ende gingen die 34 amerikanischen Staats- und Regierungschefs in Mar del Plata zwar nicht baden. Aber der 4. Amerika-Gipfel ist ohne Konsens bei der Frage der Freihandelzone ALCA zu Ende gegangen. Alternativen zeigte ein Völkergipfel auf.

Die Verhandlungsdelegationen einigten sich erst weit nach dem offiziellen Ende des Treffens auf einen Anhang mit den unterschiedlichen Positionen zur Freihandelszone: 29 Staaten, darunter die USA, Kanada, Mexiko und Chile sehen noch die Möglichkeit, den Verhandlungsprozess über die ALCA 2006 wieder aufzunehmen. Die vier Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay sowie Venezuela verneinen dies unter den gegenwärtigen Bedingungen.

Zentraler Streitpunkt sind die Subventionen der USA für ihre Landwirtschaft. Erst wenn hier eine Lösung erzielt wird, kann wieder über eine Freihandelzone verhandelt werden, so die Position der Mercosur-Staaten. Das Abschlussdokument schließt jedoch nicht aus, dass die Befürworterstaaten ohne die anderen mit den Verhandlungen beginnen können. Ebensowenig ist ausgeschlossen, dass die fünf nach einer Einigung bei den Agrarsubventionen in den Verhandlungprozess einsteigen. Der argentinische Präsident Néstor Kirchner hatte das Treffen mit einer scharfen Kritik an den internationalen Finanzorganisationen eröffnet. Das Verhalten des Internationalen Währungsfonds gegenüber seinem Land bezeichnete er als »pervers«. Er rief dazu auf, eine »neue Entwicklungsstrategie für die Region« zu finden und kritisierte damit indirekt die von den USA favorisierte Freihandelhandelzone ALCA. Der venezoelanische Präsident Hugo Chávez hatte noch wenige Stunden vor der Eröffnung auf einer Protestveranstaltung Mar del Plata als Grabstätte der ALCA« bezeichnet.

An einer dreitägigen Gegenveranstaltung, einem Gipfel der Völker, nahmen in Mar del Plate rund 12 000 Menschen teil. In dessen Abschlusserklärung wird das sofortige und endgültige Ende der Verhandlungen über die Freihandelszone gefordert. Alle Vereinbarungen zwischen den amerikanischen Staaten sollen die Menschenrechte und die Souveränität sowie den unterschiedlichen Entwicklungsstand der Länder berücksichtigen. Die Auslandschuld solle annulliert werden. Bushs Anwesenheit in den Ländern des Kontinents wurde als unerwünscht erklärt. Ein alternativer Integrationsprozess in Anlehnung an die Alternativa Boliviaríana de las Americas (ALBA) wurde vorgeschlagen, zugleich wurde der Abzug sämtlicher US-Militärs aus der Region verlangt.

Nach Angaben der Veranstalter wurde auf dem Völkergipfel unter dem Motto »Otro America es posible – Ein anderes Amerika ist möglich« in rund 150 Foren und Konferenzen über Alternativen zur Freihandelszone ALCA, über die Militarisierung der Region durch die USA, den Umgang mit der Verschuldung und über eine gerechtere Verteilung des Reichtums und die Verringerung der Armut diskutiert.

15 000 Demonstranten zogen unter der Losung »Nein zu ALCA – Nein zu Bush« friedlich durch Mar del Plata. An der Spitze schritt auch der bolivianische Präsidentschaftskandidat und Bauernführer Evo Morales. Zur Abschlusskundgebung kam Diego Armando Maradona. Der Hauptredner war Hugo Chávez, der hier den Tod der ALCA verkündete.

Eine Straßenschlacht lieferten sich indes einige hundert Demonstranten mit den Sicherheitskräften an den Absperrungen der Sicherheitszone. Einige ausländische Firmenfilialen und Banken wurden verwüstet. Der Gipfel in Mar del Plata war der dritte nach dem 1998 in Santiago de Chile und 2001 im kanadischen Quebec. Er findet nahezu zeitgleich zu den Gipfeltreffen der amerikanischen Staats- und Regierungschefs statt.

** Aus: Neues Deutschland, 7. November 2005



Dokumentation

"Mar del Plata ist das Grab der ALCA"

Auszüge aus der Rede von Hugo Chávez Frías, Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela, zum Abschluß des »Völkergipfels« in Mar del Plata (Argentinien) am 4. November***



Wir sind heute in Mar del Plata zusammengekommen, und jeder von uns hat eine Schaufel mitgebracht. In Mar del Plata begraben wir die ALCA (»Freihandelszone der Amerikas«, jW) (...) Wir, die Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts, haben eine doppelte historische Aufgabe: Wir müssen nicht nur der ALCA das Grab schaufeln (...), sondern auch dem Modell des Kapitalismus (...). Zwar ist die ALCA tot, aber das bedeutet nicht, daß der Kapitalismus auch tot ist, deshalb sage ich mit Nachdruck: Der nächste, den wir begraben müssen, ist der Kapitalismus. (...)

Unsere zweite Aufgabe besteht darin, eine neue Zeit hervorzubringen, eine neue Geschichte, eine neue Integration: die ALBA, eine Alternativa Bolivariana para las Amércias (»Bolivarische Alternative für die Amerikas«, jW), für die Völker Amerikas, für Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden. Nur vereint können wir dies erreichen: den Kapitalismus begraben, um den Sozialismus des 21. Jahrhunderts zur Welt zu bringen, ein neues historisches sozialistisches Projekt. (...) Ich bin überzeugt, daß sich dieses Projekt schon im Bauch Amerikas befindet, jetzt müssen wir uns anstrengen, um es auf die Welt zu bringen, ihm Leben einhauchen und es gestalten. (...)

Alternativen von unten

Die Bolivarische Alternative für die Amerikas muß von unten aufgebaut werden, mit Beteiligung der Arbeiter, Indigenen, Bauern, Studenten, Frauen, Nachfahren von Afrikanern, der Fachleute und der Künstler. Alle haben wir darin unsere Aufgabe. Aber die ALBA wird nicht durch die Eliten aufgebaut, sondern von unten, von unseren eigenen Wurzeln her, mit unserem Schweiß, unserem Lehm, wie José Martí einmal gesagt hat: »Man muß radikal sein«. (...) Ich bin ein Radikaler. Laßt uns Radikale sein, radikal in unseren Prinzipien, fest verwurzelt – das Wort stammt von Wurzel: radikal revolutionär! Radikal humanistisch! Radikal patriotisch für das große Vaterland! Radikal dem Leben und den Völkern verpflichtet. Täglich radikaler! (...)

Was die ALCA versucht, ist die Konsolidierung der wirtschaftlichen Macht der großen multinationalen Konzerne und der Eliten, die die Länder lange Zeit beherrscht haben. (...) Die ALBA strebt die Befreiung der Völker an, die Umverteilung der Einkünfte unserer Völker, die Gleichheit, den Wandel des wirtschaftlichen Produktionsmodells, die soziale Integration. (...) Die Armut ist in Lateinamerika hauptsächlich aufgrund des kapitalistischen Modells und des Washingtoner Konsenses gewachsen. Vor 20 Jahren gab es in Lateinamerika 200 Millionen Arme, jetzt gibt es laut der neuesten Zahlen der CEPAL (Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik) 222 Millionen Arme. Vor 20 Jahren lebten 50 Millionen Lateinamerikaner in extremster Armut, heute sind es 100 Millionen. Heute sterben 27 von 1 000 Kindern an heilbaren Krankheiten. In Lateinamerika gibt es täglich mehr Hunger, mehr Elend, wegen des neoliberalen Modells, das unsere Völker erbarmungslos geißelt. Täglich gibt es mehr Reiche, täglich bereichern sich die Eliten mehr. (...) Durch die ALBA, durch das strategische Abkommen zwischen Kuba und Venezuela, z. B., haben wir Venezolaner es geschafft, eine Krankheit unserer Zeit zu besiegen: den Analphabetismus. In weniger als zwei Jahren haben wir in Venezuela den Analphabetismus abgeschafft, dank der Unterstützung durch die kubanische Revolution. (...) In weniger als zwei Jahren haben anderthalb Millionen Venezolaner lesen und schreiben gelernt (...), und vor einer Woche ist Venezuela von der UNESCO zum Territorium ohne Analphabetismus erklärt worden, dank der kubanischen Methode »Ich kann doch«. Dies ist die ALBA in Lateinamerika. Das ist einer der Vorschläge, die ich auf dem Gipfel in Mar del Plata einbringen werde, dem Gipfel der Präsidenten: Daß wir aufhören, von Gipfel zu Gipfel zu schreiten und Reden und noch mehr Reden zu schwingen, Erklärungen und noch mehr Erklärungen zu verfassen, sondern direkt gegen den Analphabetismus kämpfen. (...) In Lateinamerika gibt es heute 40 Millionen Analphabeten, und wenn wir den funktionalen Analphabetismus betrachten, sind es 200 Millionen.

Wie kann sich jemand vorstellen, daß wir mit dieser schrecklichen Last, die unsere Völker nach Jahrhunderten der Sklaverei, der Ausbeutung und Unterordnung mit sich herumtragen, wie kann sich jemand vorstellen, daß wir, solange wir den Analphabetismus nicht besiegen, vorankommen können? (...)

Kennedys »friedliche Revolution«

Vor 44 Jahren gab es einen Gipfel, hier ganz in der Nähe, in Punta del Este, in Uruguay, und an dieser Konferenz nahmen alle Regierungen der Region teil, auch die von Kuba. Der Vertreter Kubas war ein Argentinier, natürlich auch ein Kubaner und Lateinamerikaner: Che Guevara. (...) Der damalige Präsident der Vereinigten Staaten war John F. Kennedy. (...) Kennedy verstand allem Anschein nach wenigstens teilweise die Realität der Welt, und in einer Rede vor dem Kongreß der USA sagte er: »Es gibt eine Revolution im Süden, und die Ursache dieser Revolution ist der Hunger, ist die Armut, nicht der Kommunismus.« (...) In Punta del Este schlug Kennedy ein »Bündnis für den Fortschritt« vor. Kennedy sagte, daß man den Programmen zur Aufstandsbekämpfung eine Agrarreform zur Seite stellen müßte. Er empfahl den Präsidenten Lateinamerikas eine Agrarreform, auch Venezuela. (...) Vor kurzem traf ich im Süden von Caracas einige Männer, die bereits 80 Jahre jung waren und mir erzählten: »Chávez, ich erinnere mich, wie Kennedy hier in diesem Gestrüpp mit Rómulo Betancourt auftauchte und Landbesitz verteilte.« (...) Kennedy schlug auch eine Steuerreform vor, um von den Reichen mehr Steuern einzunehmen und die Einkünfte umzuverteilen. Kennedy sagte mit einer für seinen Standpunkt beeindruckenden Klarsicht: »Die, die der friedlichen Revolution den Weg versperren, ebnen gleichzeitig der gewaltsamen Revolution den Weg.« Und forderte die Regierung dazu auf, eine friedliche Revolution durchzuführen. (...) Vor 44 Jahren und zwei Monaten bot die Regierung der USA in Punta del Este ein »Bündnis für den Fortschritt« an, das in dieser Versammlung von allen Staaten angenommen wurde – mit Ausnahme des revolutionären Kuba, das dafür seine Gründe und Prinzipien hatte. Die Regierung Kennedys sagte 20 Millionen Dollar zu, nicht als Kredit, sondern für die Entwicklung, den Kampf gegen Hunger und Armut.

Ich werde euch hier nun etwas im geheimen verraten, was ich später in der Runde der Präsidenten sagen werde: Venezuela ist ein unterentwickeltes, armes Land, das eine sehr schwere Last trägt, ein drückendes Erbe von Armut und Ungleichheit. Dennoch haben wir aufgrund der Erhöhung der Erdölpreise (...) Petrocaribe ins Leben gerufen. Venezuela wird 14 Karibikstaaten Erdöl liefern. Wir räumen einen 40prozentigen Nachlaß auf den Preis pro Barrel ein, das Öl muß erst innerhalb eines Zeitraums von 25 Jahren bezahlt werden, die Zinsen betragen ein Prozent, die ersten drei Jahre verzichten wir auf die Tilgung der Schuld. Jeder, der rechnen kann, wird feststellen, daß diese Modalitäten eine Schenkung von nahezu 70 Prozent bedeuten (...). Außerdem kann das Öl mit Gütern und Dienstleistungen abbezahlt werden, nicht notwendigerweise mit Geld. Das ermöglichen wir, um den kleinsten, den schwächsten Ländern zu helfen, unseren Brüdern, die die meisten Schwierigkeiten haben.

Nicht nur in der Karibik, auch hier in Argentinien haben wir einen Kooperationsvertrag abgeschlossen. (...) Venezuela wird Argentinien fast acht Millionen Barrel Gasöl liefern, und Argentinien bezahlt nicht mit Geld, sondern mit Zuchtrindern zum Beispiel, oder Ärzteteams, die auf den Kampf gegen den Krebs spezialisiert sind. Auch mit der Regierung Uruguays schließen wir einen Vertrag zur Erdöllieferung ab. (...) Seit fast 100 Jahren beutet Venezuela Erdöl aus und war fast 30 Jahre lang der weltgrößte Erdölexporteur, aber wir waren eine nordamerikanische Kolonie. Alles Erdöl ging nach Norden. Zum ersten Mal seit 100 Jahren fährt ein venezolanisches Schiff mit Erdöl für das argentinische Volk zum Río de la Plata. (...) Vor drei Monaten fuhr zum ersten Mal ein venezolanischer Tanker nach Uruguay und brachte das Erdöl in eine dortige Raffinerie zur Weiterverarbeitung. (...) Wir verhandeln darüber, daß ein Teil der Rechnung mit Zement und anderen Gütern und Dienstleistungen beglichen wird, um die Schuldenlast dieser Regierungen nicht weiter zu erhöhen, und damit sie schneller ihre Sozialprogramme umsetzen können.

Argentinien haben wir Staatstitel (Bons) für fast eine Milliarde US-Dollar abgekauft. Das gab es hier noch nie, daß ein lateinamerikanisches Land von einem anderen Bons erwirbt, um soziale Entwicklungspläne zu finanzieren, und das, obwohl wir selbst eine hohe Schuldenlast zu tragen haben.

Bündnis gegen den Hunger

Aber heute werde ich einen Plan vorstellen, so wie Kennedy (...), für dieselben Länder, die hier vereint sind. (...) Ich schlage vor, daß wir ein Bündnis gegen den Hunger schmieden (...). Das »Bündnis für den Fortschritt« war ein Zehnjahresplan, von 1961 bis 1970. (...) Die Alianza Contra el Hambre, ALCHA, ist ein Bündnis gegen den Hunger, ein Plan von 2005 bis 2015, um in zehn Jahren den Hunger in unseren Ländern zu besiegen. (...) Venezuela stellt dafür von seinen eigenen Ressourcen (...) zehn Milliarden Dollar zur Verfügung (...). Ich bin mir sicher, obwohl ich Fidel Castro nicht gefragt habe (...), daß er an diesem Bündnis gegen den Hunger teilnehmen wird, genau so wie am Kampf gegen den Analphabetismus und an den Gesundheitsprogrammen. (...) Ich bin mir sicher, daß das die ALBA ist. (Alba bedeutet auch Morgendämmerung, Tagesanbruch, jW).

Laßt uns dem Sozialen die Priorität geben, laßt uns tief humanistisch handeln, laßt uns dem Leid der Menschen die Priorität geben, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, das ist die ALBA. Die ALBA ist auch das, was vor zwei Wochen in Caracas stattfand: das erste internationale Treffen der Arbeiter von selbstverwalteten Betrieben. Arbeiter aus Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay, Haiti, Kolumbien, Venezuela, aus mehr als zehn Ländern, Gewerkschaftsführer, Gewerkschaftsdachverbände haben ihre Zusammenarbeit vereinbart. Um ein Beispiel zu nennen. Es gibt ein uruguayisches Unternehmen, das Leder verarbeitet, aber keine Kredite bekommt, also über kein Kapital verfügt, um Primärmaterial einzukaufen. Venezuela hat angeboten, das Primärmaterial zu liefern, damit es von dem uruguayischen und einem venezolanischen Betrieb verarbeitet werden kann. Einem brasilianischen Unternehmen, das Plastik verarbeitet, aber aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten nicht genug Plastikartikel herstellen kann, wurde von Venezuela angeboten, Primärmaterial geliefert zu bekommen. Sie werden uns dafür Produkte zu niedrigen Kosten abgeben, und später werden wir ein strategisches Bündnis schließen, um diese Produkte auf unsere Märkte zu bringen, um die Nachfrage unserer Völker zu befriedigen.

Bei diesem Treffen entstand die Idee, Empresur (Zurückeroberte Fabriken des Südens) zu gründen. Das ist die ALBA. Die ALBA ist auch die Petrosur, ein strategisches Bündnis zwischen den südamerikanischen Erdölgesellschaften Pdvsa, Petrobrás, Ancap und Enarsa, um unser Erdöl gemeinsam auszubeuten, zu verarbeiten und zu verkaufen. Venezuela ist kurz davor, hier in Argentinien eine Raffinerie zu erwerben. Wir werden in diese Raffinierie und ein Vertriebssystem für Brennstoffe fast 100 Millionen Dollar investieren. Dasselbe in Brasilien: Wir haben mit Petrobrás ein Abkommen geschlossen und werden eine große Raffinerie in Pernambuco aufbauen, im Nordosten Brasiliens, um venezolanisches Erdöl dorthin zu verschicken und zu verarbeiten und die gesamte Bevölkerung Nordbrasiliens zu versorgen, die bislang Schwierigkeiten hatte, an Energie zu gelangen.

»Zweite Unabhängigkeit«

Compañeros und Compañeras, ich möchte euch sagen, Venezuela verfügt über die weltgrößten Erdölreserven, die achtgrößten Erdgasvorkommen – deshalb werden wir zum Ziel der imperialistischen Aggressionen. Venezuela hat Erdöl und Erdgas, um die Völker Lateinamerikas die nächsten 200 Jahre hindurch zu beliefern. Die Völker Lateinamerikas können auf die Unterstützung Venezuelas zählen, für die Entwicklung ihres Energiesektors, ihrer Gesellschaften und ihrer Technologien.

Zum Abschluß einige Grundzüge unseres Vorschlags für eine Bolivarische Alternative für die Amerikas. Telesur, das südamerikanische Fernsehen, ist bereits auf Sendung, ein Vorschlag, den wir vor ein paar Jahren gemacht haben, und es erreicht täglich mehr Menschen. (...) Das Fernsehen der ALBA, der Integration der ALBA. Denn es ist wichtig, daß wir unsere Gesichter sehen und unsere Stimmen hören, nicht das, was uns die CNN und die großen Kabelkanäle aus dem Norden vorsetzen. Daß wir unsere Gesichter sehen und unsere Traditionen bewahren, unsere Kulturen. (...)

Heute morgen habe ich militärische Ehren empfangen, als ich aus dem Flugzeug stieg, und ich habe mich mit einem argentinischen Soldaten unterhalten. Ich weiß, welche Traumatisierungen die Völker hier durch ihre Soldaten erlitten haben, aber diese Soldaten aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Venezuela, Bolivien und Ekuador müssen wieder die ursprünglichen Fahnen der Befreier dieser Länder hochhalten, der Befreiungskämpfer. (...) Denn der nordamerikanische Imperialismus ist in die Streitkräfte unserer Völker eingedrungen, hat Diktatoren ausgebildet und Soldaten das Foltern, das »Verschwindenlassen«, den Kampf gegen das eigene Volk gelehrt. (...) Oftmals handelten die Streitkräfte unserer Völker als Besatzungsmächte im eigenen Land, ich gehöre zu den venezolanischen Streitkräften, die die Fahne Bolivars gehißt und sich dem Volk angeschlossen haben, um eine Revolution zu machen.

Ich sah diesen Soldaten, das Gewehr an der Schulter, wie er mir die militärischen Ehren erwies und blieb vor ihm und einem anderen stehen und grüßte sie und sagte zu dem einen leise: »Vergiß nicht, daß dieses Gewehr, das du vor der Brust trägst, dazu dient, das argentinische Volk zu verteidigen, seine Souveränität, seine Würde.« Und ich sah in den Augen dieses Soldaten das Funkeln des Bewußtseins. Ich bin mir sicher, daß wir in dem Maße, wie sich unsere Völker entwickeln, einen Weg ebnen für die endgültige Befreiung unseres Amerikas. Wir werden täglich stärker auf die Unterstützung unserer Soldaten zählen können. (...) Denn heute geht es um die zweite Unabhängigkeit, was wir heute unternehmen, hat bereits José Martí um 1880 gesagt, als er zu den Völkern Lateinamerikas sprach: »Es schlägt die Stunde der zweiten Unabhängigkeit«. Wir brauchen alle bewußten Männer und Frauen.

SATO statt NATO?

Als ich zu dem Soldaten sprach, fragte ich mich: Warum kann es nicht wie die NATO eine SATO (»Südatlantikpakt« - jW) geben. Damit wir, falls es eines Tages wieder so etwas wie den Fall der Malwineninseln gibt, unsere Streitkräfte verbünden, um unsere Souveränität zu verteidigen, um selbst unsere Sicherheits-, Verteidigungs- und Souveränitätskonzepte zu definieren und nicht weiter vom Kommando Süd der Vereinigten Staaten abhängig zu sein.

Unabhängigkeit, sagte Martí. Unabhängigkeit sagen wir heute auf diesem dritten Gipfel der Völker. Ich schließe aus ganzem Herzen mit dem Ausspruch von Martí: »Es schlägt die Zeit der zweiten Unabhängigkeit der Völker Amerikas«. Die Zeit ist gekommen. Eine bolivarische, eine sanmartinische, eine peronistische, eine guevaristische, eine revolutionäre Umarmung euch allen. (...) Und vielen Dank für diese wunderbare Veranstaltung, ich begebe mich jetzt auf den anderen Gipfel und trage den Geist und die Worte von euch mit mir (...) Vaterland oder Tod, wir werden siegen! Es lebe Che Guevara!

*** Nach einer Rede auf dem von bis zu 50.000 Menschen besuchten »Völkergipfel« am 4. November im argentinischen Mar del Plata nahm der venezolanische Präsident Hugo Chávez auch am dortigen Treffen der Staats- und Regierungschefs der Länder Amerikas teil. Die Übersetzung basiert auf einer Mitschrift des venezolanischen Informations- und Kommunikationsministeriums.
Zusammenstellung und Übersetzung: Timo Berger. Die vollständige Rede auf Spanisch findet sich unter http://argentina.indymedia.org


Aus: junge Welt, 9. November 2005


Zurück zur Lateinamerika-Seite

Zur Venezuela-Seite

Zur Globalisierungs-Seite

Zurück zur Homepage