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"Wiedergeburt der Utopie in Südamerika"

Jahresrückblick 2012. Heute: Lateinamerika. Wahlen bestätigen den fortschrittlichen Kurs der Linksregierungen. Rechte greift zum Putsch

Von André Scheer *

Ecuadors Präsident Rafael Correa dürfte die im kommenden Februar anstehenden Wahlen in seinem Land problemlos überstehen. Darauf deutet eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Perfiles de Opinión hin, die der lateinamerikanische Fernsehsender TeleSur Mitte Dezember verbreitete. Demnach kann Correa mit knapp 63 Prozent rechnen und liegt nicht weniger als 50 Punkte vor dem Zweitplazierten, dem Unternehmer Guillermo Lasso. Der hierzulande mit Vorschußlorbeeren gefeierte Kandidat der »linken Opposition«, Alberto Acosta, liegt nur bei mageren 2,8 Prozent.

Sollten sich die Prognosen für Correa bewahrheiten, würde dies ein weiteres Mal belegen, daß der sich in Lateinamerika vollziehende Veränderungsprozeß weiter mit der Unterstützung großer Mehrheiten in der Bevölkerung rechnen kann. Das zeigte sich auch bei den Wahlen in Venezuela, als im Oktober Präsident Hugo Chávez eindrucksvoll in seinem Amt bestätigt wurde und im Dezember seine Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) die Regionalwahlen in 20 der 23 Bundesstaaten gewinnen konnte. Trotzdem stehen Venezuela möglicherweise dramatische Wochen und Monate bevor, denn durch die Erkrankung des Staatschefs müßten die Venezolaner im kommenden Jahr wieder an die Urnen gerufen werden, falls Chávez sein Amt nicht mehr ausüben kann. Anfang Dezember schlug er deshalb seinen Vizepräsidenten und Außenminister Nicolás Maduro als Nachfolger vor.

Sorge um Chávez

Nicht nur in Venezuela, sondern praktisch in ganz Südamerika wird die Krankheit Chávez’ mit Sorge beobachtet. Die wachsende Einheit Lateinamerikas wurde in den vergangenen Jahren vor allem durch die Bolivarische Republik gefördert. Im Dezember jährte sich zum ersten Mal die Gründung der Lateinamerikanischen und Karibischen Staatengemeinschaft (CELAC), deren zweites Gipfeltreffen im Januar in Chile stattfinden soll. Bereits im Juli nahm der Gemeinsame Markt des Südens (MERCOSUR) nach jahrelangem Gezerre Venezuela endlich als Vollmitglied auf. Möglich wurde dies pikanterweise durch den Putsch in Paraguay einen Monat zuvor. Die dortige rechte Parlamentsmehrheit hatte Staatschef Fernando Lugo durch ein unter irregulären Bedingungen abgehaltenes Amtsenthebungsverfahren gestürzt.

Während die Empörung über den Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten in Lateinamerika einmütig war, sprangen Deutschlands Liberale – wie schon 2009 beim Sturz des honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya – den Putschisten zur Seite. Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) machte sofort nach der Entmachtung Lugos dessen De-facto-Nachfolger Federico Franco seine Aufwartung und behauptete, »daß der Amtswechsel nach den Regeln der Verfassung abgelaufen ist«. Demgegenüber suspendierten die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) und der MERCOSUR umgehend die Mitgliedschaft Paraguays, bis dort wieder demokratische Verhältnisse hergestellt sein werden. Dadurch endete aber auch die Blockade der Aufnahme Venezuelas, denn als letztes nationales Parlament hatte der Kongreß in Asunción die Ratifizierung des Beitritts verweigert.

Wenig später, im August, überraschten in Kolumbien die FARC-Guerilla und die Regierung von Staatschef Juan Manuel Santos mit der Nachricht, in Havanna über ein Ende des jahrzehntelangen Bürgerkriegs verhandeln zu wollen. Im Oktober wurden die Gespräche dann in der norwegischen Hauptstadt Oslo offiziell eröffnet. Seither sitzen die Unterhändler beider Seiten in Havanna zusammen, um über eine politische Lösung zu beraten. Details dringen von dort kaum nach außen, allerdings scheint es Fortschritte zu geben. Einen von den FARC vorgeschlagenen und im Dezember sogar einseitig ausgerufenen Waffenstillstand verweigert das Regime in Bogotá allerdings. Trotzdem zeigte sich etwa Miguel Ángel Pascuas, der wohl letzte noch aktive Comandante aus der FARC-Gründergeneration, im Gespräch mit junge Welt vorsichtig optimistisch: »Wir sind hier, um über ein anderes Kolumbien für die Mehrheiten zu verhandeln, nicht um uns zu ergeben oder uns zu verkaufen. Hoffentlich ist die Regierung diesmal ehrlich in ihren Absichten, und wir können Abkommen erzielen, die uns auf den Weg zu einem Dialog des Friedens mit sozialer Gerechtigkeit bringen.« Das vollständige Gespräch mit dem 72jährigen Guerillero, das Hernando Calvo Ospina führte, veröffentlicht junge Welt in den nächsten Tagen. Calvo Ospina spricht zudem am 12. Januar auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin.

Auch die kolumbianischen Friedensverhandlungen spiegeln den wachsenden Einfluß der neuen Regionalorganisationen in Lateinamerika wider. Es war sicherlich kein Zufall, daß neben Norwegen die drei Länder, die derzeit die Führungstroika der CELAC bilden – Venezuela, Chile und Kuba – als Vermittler und Garanten der Gespräche auftreten. Washington ist dabei aufs Abstellgleis geschoben worden – die US-Administration wurde dem Vernehmen nach lediglich über die Verhandlungen informiert, also vor vollendete Tatsachen gestellt. Zähneknirschend begrüßte die Sprecherin des State Department, Victoria Nuland, bei einer Pressekonferenz am 28. August die von Juan Manuel Santos gerade angekündigten Gespräche. Befragt, ob dieser Kurswechsel des kolumbianischen Staatschefs nicht belege, daß die jahrelang von Washington und Bogotá geführte Bekämpfung der Guerilla gescheitert sei, vermied sie ein Dementi. Man überlasse es der kolumbianischen Regierung, welches Vorgehen sie wähle, »aber natürlich waren wir lange, lange Partner bei dem Versuch, Frieden zu bringen.«

Partner für Frieden

Tatsächliche Partner für den Frieden finden die Regierungen der Region in der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA). So war es dieser 2004 von Hugo Chávez und Fidel Castro gegründete antiimperialistische Staatenbund, der als erster seinem Mitglied Ecuador beisprang, als die britische Regierung im August mit einer Erstürmung der ecuadorianischen Botschaft in London drohte. Zuvor hatte der Mitbegründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, in der diplomatischen Vertretung Zuflucht gesucht und Asyl beantragt, das ihm Quito gewährte. Während London unter dem Druck der internationalen Empörung seine Überfallsdrohung zurückzog, muß Assange noch bis heute in der Vertretung ausharren. Auch nach sechs Monaten weigert sich das Kabinett des britischen Premiers David Cameron nach wie vor, Assange freies Geleit zu gewähren. Dieser seinerseits fürchtet, an die USA ausgeliefert zu werden, wo ihm wegen der Wikileaks-Enthüllungen der Prozeß gemacht werden könnte. Am Donnerstag teilte er in einer Ansprache vom Balkon des Botschaftsgebäudes aus mit, daß seine Organisation »Millionen« weitere Dokumente besitze. Da Journalisten immer mehr Opfer von Verfolgung und Unterdrückung würden, müsse Wikileaks für die Veröffentlichung sorgen, »denn wenn wir diese Lügen nicht aufdecken, wird die Welt niemals Zugang zu den Informationen bekommen«.

Für den ecuadorianischen Politikwissenschaftler Eduardo Santos belegt der Fall Assanges einmal mehr, »daß es in Südamerika eine Wiedergeburt der Utopien gibt«. Diese seien politisch und ideologisch sehr unterschiedlich, sagte er am vergangenen Mittwoch der Tageszeitung El Telégrafo, »einige sind sehr radikal antiimperialistisch, andere haben eher den Geruch der Sozialdemokratie«. Ecuador sei es in der Auseinandersetzung mit London gelungen, das Völkerrecht zu verteidigen: »Lateinamerika und die Karibik haben nicht die historische Perspektive aus den Augen verloren, etwas so grundsätzlich Wichtiges wie das Asylrecht zu verteidigen.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 22. Dezember 2012


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