Die Gegenoffensive beginnt
Jahresrückblick 2009. Heute: Lateinamerika. Das linke Lager wächst, aber in Honduras und Kolumbien geht das Imperium zum Angriff über
Von André Scheer *
Wird 2009 als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem das
»Roll-Back« der fortschrittlichen Entwicklungen in Lateinamerika begann?
Trotz einer Reihe von Erfolgen und gewachsenem Einfluß ist das Bündnis
der linken Regierungen und ihre Bolivarische Allianz für die Völker
Unseres Amerikas (ALBA) in die Defensive geraten.
Begonnen hatte das Jahr jedoch mit einem Erfolg. Am 15. Februar stimmten
in Venezuela mehr als 6,3 Millionen Menschen für eine fünf Punkte
umfassende Änderung der Verfassung. Der wichtigste Inhalt der im Lande
heftig umstrittenen Reform war, daß Hugo Chávez bei der nächsten
Präsidentschaftswahl 2012 erneut kandidieren darf. Auch
Parlamentsabgeordneten und den Gouverneuren der Bundesstaaten ermöglicht
die Änderung eine bislang verbotene Wiederwahl. Fast noch wichtiger als
das Ergebnis selbst war jedoch, daß sich die venezolanische Linke mit
diesem Abstimmungserfolg wieder gefangen hatte. Nach dem triumphalen
Wahlsieg von Hugo Chávez bei der Präsidentschaftswahl 2006 hatten die
bolivarischen Kräfte mehrere Schlappen hinnehmen müssen. So war 2007
eine umfangreiche Verfassungsreform bei der Volksabstimmung knapp
gescheitert und im November 2008 konnte die Opposition bei den
Regionalwahlen mehrere Bundesstaaten und die Hauptstadt Caracas für sich
gewinnen. Nun jedoch konnte die Linke wieder Millionen Menschen
mobilisieren.
ALBA wächst
Einen weiteren Erfolg feiern konnte in Ecuador Rafael Correa, der sich
bei der durch die Verabschiedung der neuen Verfassung im September 2008
notwendig gewordenen Neuwahl des Staatspräsidenten klar gegen seine
rechten Konkurrenten durchsetzen konnte. In El Salvador beendeten
Mauricio Funes und die frühere Guerillaorganisation FMLN am 1. Juni die
jahrzehntelange Herrschaft rechter Parteien. Und in Bolivien wurde
Anfang Dezember Evo Morales wiedergewählt, seine Bewegung zum
Sozialismus (MAS) erreichte im Parlament eine Zwei-Drittel-Mehrheit der
Sitze.
Auch das antiimperialistische Staatenbündnis ALBA, dessen Gründung sich
2009 zum fünften Mal jährte, wuchs auf mittlerweile neun Mitglieder an.
Ecuador trat nach langem Zögern bei, und auch die Karibikstaaten San
Vicente und die Grenadinen sowie Antigua und Barbuda schlossen sich der
Gemeinschaft von Kuba, Venezuela, Bolivien, Nicaragua, Honduras und
Dominica an. Die gewachsene Kraft der Allianz zeigte sich prompt beim
Gipfeltreffen der amerikanischen Staatschefs im April in Trinidad und
Tobago. Während die ALBA-Staaten die Verabschiedung einer nichtssagenden
Abschlußerklärung blockierten, setzten sie gemeinsam mit nahezu allen
anderen Regierungen Lateinamerikas ein Ende des Ausschlusses Kubas von
diesen Veranstaltungen durch. Evo Morales betonte, dies müsse der letzte
Gipfel gewesen sein, an dem Kuba nicht habe teilnehmen dürfen, und Hugo
Chávez schlug vor, sich das nächste Mal in Havanna zu treffen. Formell
vollzogen wurde das Ende der Isolation der sozialistischen Insel dann im
Juni, als eine Konferenz der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS)
im honduranischen San Pedro Sula den 1962 verabschiedeten Ausschluß
Kubas offiziell aufhob.
Nur wenige Tage nach dieser Entscheidung wurde Honduras jedoch
Schauplatz einer Tragödie, die überwunden geglaubte Zeiten zurückkehren
ließ. Am 28. Juni überfielen vermummte Soldaten im Morgengrauen die
Residenz des demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya,
verschleppten ihn und setzten ihn in ein Flugzeug, das den Staatschef
nach Costa Rica transportierte. Das honduranische Parlament wurde zu
einer Sondersitzung zusammengetrommelt, den Abgeordneten ein gefälschtes
Rücktrittsschreiben Zelayas vorgelegt, und diese wählten den
Parlamentspräsidenten Roberto Micheletti zum neuen Staatschef -
»einstimmig«, wie es hieß. Doch die als Unterstützer des Präsidenten,
der in der zweiten Hälfte seiner offiziell im Januar zu Ende gehenden
Amtszeit einen Linksruck vollzogen und sein Land in ALBA geführt hatte,
bekannten Abgeordneten waren gar nicht erst eingeladen worden. Um die
Lücken im Plenum nicht sichtbar werden zu lassen, nahmen Soldaten und
Journalisten ihre Plätze ein.
Proteste in Honduras
Doch womit die Putschisten nicht gerechnet hatten, war eine riesige
Protestwelle. Über alle politischen Differenzen hinweg bildete sich aus
Parteien, Gewerkschaften und Basisorganisationen eine breite
Widerstandsbewegung, die über Monate hinweg mit Großdemonstrationen,
Straßenblockaden und Streiks eine Stabilisierung des Putschregimes
verhinderte. Auf internationaler Ebene wurden die Putschisten isoliert,
die Mitgliedschaft von Honduras in der OAS und anderen internationalen
Organisationen wurde suspendiert und nur die Vertreter der rechtmäßigen
Regierung anerkannt. Im September gelang es Zelaya dann nach mehreren
vergeblichen Versuchen, heimlich nach Honduras zurückzukehren. In der
brasilianischen Botschaft in der Hauptstadt Tegucigalpa fand er
Unterschlupf und hält sich bis heute dort auf.
Trotzdem gelang es den Putschisten, sich an der Macht festzusetzen. Dazu
trug auch die Haltung der USA bei, die sich zwar in Worten auf die Seite
der rechtmäßigen Regierung stellte, zugleich jedoch wirklich wirksame
Maßnahmen wie die Einstellung der Militärhilfe für Honduras verweigerte.
So konnte am 29. November unter Kontrolle des Regimes eine Wahlfarce
durchgeführt werden, aus der Porfirio Lobo von der Nationalen Partei als
Sieger hervorging. Die USA, Kolumbien, Panama und Costa Rica erkannten
diese Wahlfarce an. So konnte die »Smart Power«, wie die Publizistin Eva
Golinger die Außenpolitik des neuen US-Präsidenten Barack Obama
bezeichnete, in Honduras einen ersten Sieg gegen die Linksentwicklung in
Lateinamerika feiern.
Ebenfalls gegen die linken Regierungen gerichtet ist die Installation
von sieben US-Militärbasen in Kolumbien. Ein entsprechendes Abkommen
zwischen Bogotá und Washington wurde im November unterzeichnet, während
praktisch alle anderen Regierungen Südamerikas diese neuen Stützpunkte
als Bedrohung empfinden. Besonders Caracas wies darauf hin, daß die
US-Truppen von den Basen aus innerhalb von zwanzig Minuten
venezolanisches Gebiet erreichen können. Vor diesem Hintergrund sowie
aufgrund mehrerer Grenzzwischenfälle verschlechterten sich die
Beziehungen zwischen Kolumbien und Venezuela weiter. Hinzu kam, daß sich
die Guerilla von den Rückschlägen, die sie 2008 erlitten hatte, offenbar
erholen konnte. Im Dezember wurde bekannt, daß sich die Führungen der
Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und der Nationalen
Befreiungsarmee (ELN) getroffen haben, um ihren Zwist beizulegen. In
einer anschließend veröffentlichten Erklärung verpflichten sich beide,
ihre Konfrontation zu beenden und Differenzen solidarisch zu klären.
Lateinamerika steuert also auf eine Kraftprobe zu. Die neue
US-Administration von Barack Obama will den einstigen Hinterhof offenbar
wieder zur Räson bringen und die Entwicklung neuer Gesellschaftsmodelle
aufhalten. Mit der im Januar drohenden Rückkehr der Rechten an die
Regierung in Chile könnte Washington dafür einen weiteren Stützpunkt in
Südamerika bekommen.
* Aus: junge Welt, 2. Januar 2010
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