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Großdemo und Reformen

Kubas Arbeiter sehen sich an ihrem Feiertag neuen Herausforderungen gegenüber: Mit weniger Leuten mehr produzieren

Von Tobias Kriele, Havanna *

Wohl nirgendwo sonst hat der 1. Mai heute noch einen solchen Massencharakter als Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse wie in Kuba. Der kubanische Gewerkschaftsbund CTC hat auch in diesem Jahr zu großen Maidemonstrationen in Havanna und allen größeren Städten des Landes aufgerufen, und wohl ein Drittel der Bevölkerung wird wieder auf der Straße sein. The same procedure as every year? Nicht ganz.

»¡Unidos en el deber!« (»In der Pflicht vereint!«) lautet das Motto der diesjährigen Maidemonstration, eine Anspielung auf die Herausforderungen, der sich die kubanische Arbeiterbewegung derzeit gegenübersieht. Kubas Ökonomie hat ein strukturelles Problem, das unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise nicht mehr zu ignorieren ist. Es wird Veränderungen bei Produktion und Verteilung geben müssen, und dabei wird notwendigerweise das Kriterium Effizienz im Mittelpunkt stehen. »Die wichtigste Aufgabe ist heute der wirtschaftliche Kampf«, lautet die aktuelle Leitlinie, die der kubanische Präsident Raúl Castro am 4. April bei seiner Rede vor dem Kongreß des Kommunistischen Jugendverbandes UJC ausgegeben hat. Für die kubanische Arbeiterbewegung bedeutet das, mit weniger Beschäftigten mehr zu leisten, denn eine Erhöhung der Produktivität ist die Voraussetzung für eine leistungsbezogene Anhebung des Lohnniveaus bei gleichzeitiger Einschränkung der staatlichen lohnunabhängigen Gratisleistungen. Bei Betriebsversammlungen zeigt sich regelmäßig die Unzufriedenheit der Arbeiter damit, daß ihr Einsatz in der kubanischen Gesellschaft nicht mehr honoriert wird. Im Alltagsleben hat dies zu einer wachsenden Arbeitsabstinenz geführt. Die Führung der Revolution zeigt sich jetzt entschlossen, korrigierende Maßnahmen zu treffen. Das setzt zunächst einmal Disziplin und Einsatz der Arbeiterklasse voraus, soll aber gleichzeitig auch deren gesellschaftliche Rolle wieder aufwerten.

Ihre Neubewertung in der Kubanischen Revolution ist aber keine rein ökonomische Frage. Die nahezu unbegrenzten Bildungsmöglichkeiten haben zu einer Entfremdung der Jugendlichen von den Produktionsprozessen in Landwirtschaft und Industrie geführt. Eine ganze Generation von Nachwuchskadern gelangte aus den Universitäten direkt in die Funktionärslaufbahn, ohne je Erfahrungen in der Produktion gesammelt zu haben. Die Betonung des Bildungssektors und die Proklamation des »Kampfes der Ideen« in der Sonderperiode der neunziger Jahre haben bewirkt, daß die historische Rolle der Arbeiter und Bauern in Kuba in den Hintergrund geriet. Mittlerweile setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, daß diese mangelnde Anbindung an die Arbeiterklasse ein Grund für ideologische und politische Defizite unter den nachkommenden Generationen ist. Nicht ohne Grund beschloß die UJC deshalb bei ihrem Kongreß, daß jeder Funktionär mindestens fünf Jahre Berufspraxis nachzuweisen oder nachzuholen habe. Auch für den Kongreß der Kommunistischen Partei Kubas, der wohl im kommenden Jahr stattfinden wird, werden Signale für eine stärkere Konzentration auf die Belange der Arbeiterklasse erwartet.

Die mehr als 500 internationalen Gäste der Maidemonstration in Havanna werden Zeugen einer Premiere sein. Zum ersten Mal soll es einen reinen Frauenblock geben, der die Notwendigkeit einer stärkeren politischen Beteiligung der Compañeras, die mehr als die Hälfte der produktiven Werktätigen stellen, unterstreichen soll.

Die notwendigen Veränderungen innerhalb der kubanischen Gesellschaft werden jedoch durch den verschärften Druck von außen erschwert. Die Blockadepolitik der USA hat sich unter Obama nicht verändert und zeigt weiter ihre verheerende Wirkung auf die kubanische Wirtschaft. Die »Miami Five«, die fünf seit mehr als elf Jahren in den USA inhaftierten Kubaner, sitzen weiterhin stellvertretend für das gesamte Volk in Geiselhaft. Und schließlich hat die Europäische Union sich zum Zugpferd einer weltweiten Kampagne gegen die Insel gemacht, obwohl sich die Vorwürfe angeblicher Menschenrechtsverletzungen längst als unhaltbar erwiesen haben. Der US-gestützte Putsch in Honduras erinnerte die Kubaner außerdem daran, daß auch die Bedrohung durch eine Militärintervention weiter aktuell ist. »¡Unidad!« (»Einheit!«), dieses Grundprinzip des kubanischen Unabhängigkeitskampfes, wird deshalb auch auf den diesjährigen Maidemonstrationen allgegenwärtig sein. Die Verteidigung der Revolution nach außen bei gleichzeitiger Einführung des Leistungsprinzips im Inneren: Am 1. Mai 2010 steht die kubanische Arbeiterklasse vor besonderen Herausforderungen.

* Aus: junge Welt, 29. April 2010

Dokumentiert: Aufruf zum 1. Mai

Der kubanische Gewerkschaftsbund CTC veröffentlichte am 26. April seinen Aufruf zum 1. Mai 2010:

Arbeiterinnen und Arbeiter,

diesen 1. Mai erreichen wir zu einem Zeitpunkt, an dem die Feinde der Revolution mit Unterstützung der großen Massenmedien und mit der Komplizenschaft ihrer aus Fonds der US-Regierung bezahlten Agenten im Inland eine verlogene Diffamierungskampagne losgetreten haben, an der sich auch ihre europäischen Partner beteiligen, um die Welt zu belügen, indem sie uns als eine Nation darstellen, die weder die Menschenrechte noch das Leben respektiert.

Wir Arbeiter haben niemals dem Medienterror oder der Erpressung durch irgendein Land oder eine Gruppe von Nationen nachgegeben, wie mächtig sie auch sein mögen. (...)

Am 1. Mai werden wir Kubaner massenhaft marschieren, nicht nur um den Internationalen Tag der Arbeiter zu feiern, sondern auch als Demonstration der Unterstützung für die Revolution und der Verpflichtung, aktiv und bewußt die bereits begonnenen Veränderungen unseres Wirtschaftsmodells zu unterstützen. Wir sind uns bewußt, daß dies die Garantie darstellt, den Sozialismus in unserem Heimatland fortzusetzen und die nationale Unabhängigkeit und Souveränität zu bewahren.

Wir bekräftigen außerdem die Entscheidung, uns mit Eifer der Erholung der Wirtschaft zu widmen, indem wir die Produktion und die Produktivität steigern, das Prinzip der sozialistischen Verteilung anwenden, die Beschäftigung neu ordnen, Importe ersetzen und Exporte steigern, das Einsparen von Ressourcen jeder Art befördern und entschlossen Disziplinlosigkeiten, Diebstählen und Erscheinungsformen der Korruption entgegentreten.

An diesem 1. Mai gibt es viele Gründe dafür, daß alle an der Demonstration teilnehmen und ihre fröhliche und kämpferische Beteiligung zeigen, denn kein Geld der Welt kann die Würde eines patriotischen und internationalistischen Volkes kaufen, das voller Freude im Vertrauen auf die eigenen Kräfte und seine erwiesene Widerstandsfähigkeit sowie die Gewißheit des gewählten Weges marschiert. Bis hierher zu kommen war nur möglich durch die Einheit aller Organisationen und der ganzen Gesellschaft.

Am 1. Mai werden wir auf die uns rechtmäßig gehörenden Straßen und Plätze strömen, um unsere umfassende Unterstützung für die Revolution, die Partei, Fidel und Raúl zu bekräftigen. Das wird die kategorische Antwort sein, die heute das Heimatland von uns erwartet.

Alle zur Demonstration!

Gegen die Einmischung der Yankees und der Europäischen Union: Einheit!

Es lebe der 1.Mai!

Dokumentiert in der "jungen Welt", 29. April 2010




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