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"Fidel und Raúl haben ihre Rollen verändert"

Kubas Vizeagrarminister Alcides López Labrada sieht seinen Sektor vor großer Herausforderung

Von Martin Ling *

Exakt vor zwei Jahren ließ Fidel Castro eine Erklärung verlesen: Aus gesundheitlichen Gründen übergebe er seine Ämter »vorübergehend« an seinen Bruder Raúl. Seit diesem Frühjahr ist Raúl Castro offiziell Fidels Nachfolger. Sein Hauptaugenmerk gilt derzeit der Revitalisierung des Agrarsektors.

»Wer hat gesagt, dass Fidel sich in die zweite Reihe zurückgezogen hat?« Was hierzulande als eine selbstverständliche Einschätzung gilt, stellt sich aus kubanischer Sicht anders dar. »Klar, er war krank, aber längst ist er wieder als 'Soldat der Ideen' aktiv, arbeitet, liest, studiert und ist in alle wichtigen Entscheidungen eingebunden«, betont Alcides López Labrada gegenüber ND. »Fidel steht mit Raúl gemeinsam in der ersten Reihe, sie kämpfen zusammen wie bisher, nur mit veränderten Rollen«, schildert Kubas Vizeminister für Landwirtschaft seine Sicht der Dinge. Er ist gerade auf Einladung von Cuba Sí in Deutschland unterwegs und nahm am Sonnabend im Stadtpark Berlin-Lichtenberg an der alljährlichen »Fiesta de Solidaridad« teil, die 2008 auf den Jahrestag des Sturms auf die Moncada-Kaserne fiel: den 26. Juli 1953, Ausgangspunkt der Revolution am 1. Januar 1959.

In wenigen Monaten begeht Kuba den 50. Jahrestag seiner Revolution und López Labrada arbeitet in dem Sektor, der mit einer großen Herausforderung konfrontiert ist: den rapide steigenden Nahrungsmittelpreisen auf dem Weltmarkt. Ein Problem für die Welternährung und für Kuba. 76 Prozent der Nahrungsmittel müsse Kuba derzeit importieren, erklärt López Labrada. Die Preisentwicklung konterkariert Kubas seit 2005 verstärkt unternommene Anstrengungen, die Importabhängigkeit zu verringern. López Labrada verdeutlicht das Problem: »2005 beliefen sich die Nahrungsmittelimporte auf 1,8 Milliarden Dollar. 2007 zeigte die Strategie zur Verringerung der Importe Wirkung: Die Importkosten beliefen sich auf 1,5 Milliarden US-Dollar. 2008 müsste Kuba wegen des Aufkommens von Biotreibstoffen und der hohen Erdölpreise, die auch die Nahrungsmittelpreise treiben, eine Milliarde US-Dollar zusätzlich für dieselbe Menge an Nahrungsmitteln berappen.« Eine gewaltige Last für die nicht gerade in Devisen schwimmende Insel.

Auch Raúl Castro ließ daran in seiner Rede in Santiago de Cuba am 26. Juli keinen Zweifel: Die Regierung werde sich darum bemühen, die Auswirkungen der internationalen Energie- und Lebensmittelkrise für die kubanische Bevölkerung »auf ein Minimum« zu reduzieren. Gleichzeitig nahm er die Bevölkerung in die Pflicht: Es müsse mehr gespart, mehr gearbeitet und besonders die Produktion von Lebensmitteln müsse effizienter gemacht werden.

Der Plan dafür steht bereits: »Die Mittel werden denen zur Verfügung gestellt, die effizient wirtschaften, sei es eine staatliche Farm, eine Kooperative oder ein kleiner Bauer«, gab Raúl Castro als Marschroute aus und kündigte die Übergabe von Land an Interessierte in Kürze an.

Nach der vor zehn Tagen erlassenen neuen Verordnung können Privatpersonen bis zu 13,42 Hektar Land für zunächst zehn Jahre pachten. Private Landwirte, die bereits über Nutzflächen verfügen, dürfen ihren Besitz auf maximal 40,26 Hektar erhöhen. Außerdem soll ein Teil der brach liegenden Ackerflächen an staatliche Betriebe und Kooperativen gehen.

Dass eine Wiederbelebung des Agrarsektors Not tut, legen nicht nur die hohen Nahrungsmittelpreise nahe. Zwischen 1998 und 2007 nahm die landwirtschaftlich genutzte Fläche um 33 Prozent ab, so dass nun 51 Prozent brach liegen.

»Wir müssen uns wieder dem Land zuwenden«, meint López Labrada, der davon überzeugt ist, dass es genügend Menschen -- auch jüngere -- gibt, selbst in den Städten, die sich für ein Leben auf dem Land begeistern könnten, wenn die Bedingungen dort wieder attraktiver würden.

Die hohen Lebensmittelpreise auf dem Weltmarkt sieht López Labrada deswegen nicht nur als Risiko, sondern auch als Chance. »Hohe Preise sind eine gute Gelegenheit, um den Agrarsektor attraktiver und vitaler zu machen.« Das ist derzeit wohl die drängendste Herausforderung in Kuba, wiewohl nicht die einzige. Auch Transport und Wohnungsbau haben trotz Verbesserungen noch erheblichen Nachholbedarf.

Zwei Jahre nach Fidel Castros Erkrankung hat sich in Kuba einiges geändert, anderes nicht: Entscheidungen werden weiter im engsten Kreis besprochen. Das letzte Wort hatte früher Fidel, jetzt hat es offenbar Raúl.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Juli 2008


"Bei uns muß niemand Hunger leiden"

Trotz wirtschaftlicher Probleme konnte Kuba die Versorgung mit Nahrungsmitteln aufrechterhalten. Dazu trägt auch die regionale Zusammenarbeit bei. Ein Gespräch mit Alcides López Labrada

Eine der ersten Maßnahmen des kubanischen Präsidenten Raúl Castro nach dessen Amtsantritt im Februar war eine Reform der Landwirtschaft. Warum war das nötig?

Kuba verfügt heute über 6,7 Millionen Hektar Agrarland, aber rund die Hälfte dieser Fläche wird nicht bestellt oder nur unzureichend genutzt. Ziel ist, die Nutzung der brachliegenden Flächen zu fördern. Aus diesem Grund wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Zugriff auf diesen fruchtbaren Boden erleichtert. Zugleich knüpft diese Politik an vergangene Maßnahmen an. Die erste Agrarreform in Kuba hat 1959, nach der Revolution, stattgefunden. Damals wurde das Land denen gegeben, die es bearbeiteten. Zugleich wurde eine Obergrenze von 402 Hektar definiert. Im Jahr 1963 fand eine zweite Bodenreform statt. Um mehr Familien den Zugang zu eigenem Land zu ermöglichen, wurde die Obergrenze auf 67 Hektar reduziert, was für Kuba immer noch eine Menge Land ist. Nach dem Fall des Sozialismus in Europa kam dann die dritte Reform ...

... und zwar im Jahr 1993. Damals wurden die Basiseinheiten der Kooperativen Produktion, die UBPC, geschaffen. Wie sieht deren Bilanz heute aus?

Es war ein positiver Schritt. 42 Prozent des fruchtbaren Landes wurden vom Staat an die landwirtschaftlichen Kooperativen übergeben. Dieser Ansatz ist bis heute erfolgreich. Und nun, in diesem Jahr, wurde die vierte Bodenreform seit dem Sieg der Revolution durchgeführt. Jede Kubanerin und jeder Kubaner hat damit das Recht, bis zu 40,26 Hektar Land überlassen zu bekommen.

Fidel Castro hat über die Kooperativen vor Jahren gesagt: »Die staatlichen Unternehmen waren progressiver als die UBPC, doch die UBPC sind realistischer«. Bedeutete das nicht eine -- wenn auch erzwungene -- Abkehr vom sozialistischen Modell?

Von seinem dialektischen Standpunkt aus hat Fidel damals, Mitte der 90er Jahre, erkannt, daß die Bedingungen in Kuba sich verändert haben. Die für uns vorteilhaften Handelsabkommen mit dem sozialistischen Lager und vor allem mit der UdSSR existierten nicht mehr. Rund 2,7 Millionen Hektar Land wurden damals der Obhut von rund 2400 Kooperativen übergeben. Trotzdem behielten wir ein sozialistisches Prinzip in der Landwirtschaft bei: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seiner Leistung. Deswegen geht das Zitat von Fidel ja weiter. Er fügte an: »... aber sie sind in vollem Maße sozialistisch.« Es ging also nicht um eine Abkehr vom sozialistischen Modell, sondern darum, dieses Modell an die Realität anzupassen.

Haiti wurde früher in diesem Jahr von Hungerunruhen erschüttert. Auch in Südamerika geht die Angst vor einer Hungerkrise um. Wo steht Kuba?

In der aktuellen Krise bleibt niemand außen vor, noch nicht einmal die Industriestaaten. Kuba ist in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. Auch wir sind vom Anstieg der Preise für Lebensmittel und Energie betroffen. Der große Unterschied ist, daß wir auf die Menschen zählen können, um die Krise zu lösen, und die Regierung, die das Problem tatsächlich angehen will.

Die Nahrungsmittelkrise in Haiti ist auchein Ergebnis der neoliberalen »Strukturanpassungen«. Wäre es zynisch zu sagen, daß die Isolation Kuba in den 1990er Jahren vor solchen Konsequenzen bewahrt hat?

Ich würde nicht sagen, daß Kuba isoliert war, sondern unabhängig von dem neoliberalen System. In Kuba konnten den Menschen die Güter des Grundbedarfs garantiert werden. Natürlich hätten alle gerne, daß der Warenkorb umfangreicher ist. Dennoch muß bei uns niemand Hunger leiden. In Kuba bekommen wir diese Entwicklungen sehr wohl mit, etwa den Anstieg der Reispreise. Aber uns betrifft das nicht. In Haiti hat sich der Preis für Reis indes verdreifacht.

Welche Rolle spielt die regionale Integration?

In den vergangenen Jahren sind in Kuba zahlreiche Lebensmittelunternehmen in Kooperation mit Venezuela, dem zweiten Gründungsmitglied der ALBA, entstanden. Geplant ist, eine gemeinsame Fischfangflotte im Pazifik aufzubauen. Was uns dabei sehr hilft, sind die günstigen Preise für Treibstoff aus Venezuela. Und das ist eine Grundidee: Auch Kuba bietet vielen Ländern seine solidarische Hilfe an. Bei der Alphabetisierung etwa.

Auch in Deutschland existieren zahlreiche solidarische Hilfsprogramme wie das Projekt von Cuba Sí »Milch für Kubas Kinder«. Welchen Stellenwert haben diese Initiativen heute im Vergleich zu den 1990er Jahren?

Die größte Leistung erbringt natürlich immer die revolutionäre Regierung, aber die Solidaritätsbewegung leistet einen wichtigen ergänzenden Beitrag. Cuba Sí zum Beispiel sind wir sehr dankbar für die Hilfe, die sie uns zukommen ließen. Sie haben uns wirklich in unseren schwersten Momenten beigestanden. Unser Wille ist, daß sich diese Zusammenarbeit intensiviert. Und unser Besuch hier in Berlin ist ein Beleg dafür.

** Alcides López Labrada ist Vizeminister für Landwirtschaft Kubas

Interview: Harald Neuber

Aus: junge Welt, 4. August 2008


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