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"Wir importieren sogar Tomatensoße"

Ein Gespräch über die Rolle von Gewerkschaften in Kuba, private Geschäfte und Werbung für die Landarbeit *


In Kuba sind mehr als 98 Prozent der Beschäftigten Gewerkschaftsmitglieder. Das wird man fast automatisch mit dem Eintritt ins Berufsleben. Die größten Einzelgewerkschaften im Dachverband Central de Trabajadores de Cuba (CTC) sind die Gewerkschaft des Gesundheitswesens, gefolgt von der Gewerkschaft des Bildungswesens, also von Schulen, Lehrern und Universitäten. Über die Lage der Gewerkschaften in Kuba und ihre Aufgabe im Sozialismus sprach nd-Redakteur Jörg Meyer mit dem kubanischen Germanistiklehrer »Pepin«.

Rose Alvarez Romagera ist Germanistiklehrer an der Universität Santiago de Cuba und wird von allen »Pepin« genannt. In den 80er Jahren war der heute 58-Jährige Sekretär der Bildungsgewerkschaft SNTEC. »Aber heute machen das die Jüngeren«, sagt er.



Ist das Verhältnis von CTC und seinen Mitgliedsgewerkschaften vergleichbar mit dem DGB in Deutschland?

Nein. Der CTC ist die Dachorganisation, und dann kommen die Branchengewerkschaften. Wir arbeiten zwar direkt mit unseren jeweiligen Branchengewerkschaften zusammen, aber der CTC leitet methodologisch alle Branchengewerkschaften. Die Branchengewerkschaften sind quasi die Fachbereiche des CTC.

Frei nach Lenin sind die Gewerkschaften der »Transmissionsriemen« zwischen Partei und Arbeiterklasse. Wie ist das Verhältnis der Kommunistischen Partei Cubas zum CTC?

Die Gewerkschafter werden von den Arbeitern in den Betrieben, Fabriken und Schulen zur Wahl vorgeschlagen. Die dann gewählten Gewerkschaftssekretäre werden freigestellt und arbeiten als professionelle Gewerkschafter in ihrer Branche. Die Partei hat damit nichts zu tun, und man muss auch nicht in der Partei sein, um Gewerkschaftssekretär zu werden.

Und bei höheren Funktionären?

Die meisten Kader der Gewerkschaft sind Mitglieder der Kommunistischen Partei – ich denke um 95 Prozent aller professionellen Kader.

Wie hoch sind die Löhne?

Wir haben in Kuba einen Mindestlohn. Die Arbeiter, die am wenigsten verdienen, bekommen 225 Pesos, der Durchschnittslohn liegt bei rund 470 Pesos. Es gibt Arbeiter, die verdienen mehr. Wer beispielsweise in der Tabakfabrik für den Export im Akkord arbeitet, verdient rund 1200 Pesos im Monat und bekommt noch einen Teil des Lohns in CUC, also in Devisen.

Wer verdient am Wenigsten?

Eigentlich die ungelernten Arbeiter, aber Ungelernte, die in der landwirtschaftlichen Produktion arbeiten, verdienen sehr gut, weil wir besonders auf dem Land Arbeitskräfte brauchen.

Welche Möglichkeiten haben die Arbeiter, für höhere Löhne zu kämpfen?

Das ist interessant (lacht). Was heißt »kämpfen«? Wir protestieren ja unentwegt für höhere Löhne. Auch die politische Führung weiß das. Staatspräsident Raul Castro sagt immer: »Ich weiß, die armen Lehrer verdienen so wenig.« Aber die wirtschaftliche Lage erlaubt nicht, dass wir ein höheres Gehalt bekommen. In der Zeit, als die UdSSR und die DDR uns unterstützt haben, hatte ich ein Gehalt von 310 Pesos. Das war in den 80er Jahren viel mehr als heute. Heute verdiene ich gut 864 Pesos im Monat. Das reicht nicht.

Den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit gibt es auf Kuba nicht?

Jein. Wir haben Joint Ventures, und deren Verwalter und Geschäftsführer sind Kapitalisten. Am Anfang haben sie etwas komisch geguckt, als es hieß: Du bekommst jetzt die Gewerkschaft in deinen Betrieb. Aber das hat sich schnell gelegt. Die Arbeiter in den Joint Ventures, die zu 51 Prozent dem Staat gehören, arbeiten zu den gleichen Bedingungen wie in kubanischen Betrieben.

Welche Aufgabe haben die Gewerkschaften auf Kuba? Der Kampf um höhere Löhne scheidet ja aus.

Das stimmt. Auf Kuba haben wir keinen Kampf gegen die Kapitalisten, weil wir keine Kapitalisten haben. Aufgaben der Gewerkschaften sind, darauf zu achten, dass die Bestimmungen für den Gesundheitsschutz eingehalten werden, dass die Arbeiter pünktlich sind. Die Gewerkschaften sorgen auch für die Produktionssteigerung über Forschung und Verbesserung der Arbeitsabläufe.
Die Gewerkschaft hat betriebliche Macht, weil sie den Chef einer Fabrik stürzen kann, wenn er seine Arbeit schlecht macht. Es gab einmal einen Firmenboss, der hat die Prämie für die Arbeiter benutzt, um zu investieren. Der war sofort weg von dem Posten.

Anfang des Jahres wurden mehr selbstständige Berufe zugelassen. Was bedeutet das?

Es ist für Ausländer schwer zu verstehen, wie Kuba, wo viel improvisiert wird, funktioniert. Es gibt genügend Arbeitsplätze, auf dem Bau oder auf dem Land. Aber dort wollen die Leute nicht arbeiten. Auch Polizisten oder Lehrer werden gesucht. Aber es gibt viele Leute, die lieber privat Geschäfte machen. Die fahren aufs Land, kaufen ein Schwein, schlachten das Tier, verkaufen das Fleisch und verdienen mehr als ich ...

Wir hatten früher sechs Arbeiter in der Fabrik, wo drei Arbeiter gebraucht wurden, nur um zu sagen: Wir haben keine Arbeitslosigkeit. Der Staat hat gemerkt, dass es so nicht weitergeht. Die Produktivität musste rauf. Es wurden nur noch die Leute eingestellt, die wirklich gebraucht wurden. Geschätzt eine halbe Million Arbeiter wurde gekündigt. Viele haben sich darüber gefreut, weil sie ihre eigenen Geschäfte machen und privat arbeiten konnten. Aber das war illegal, weil sie keine Steuern bezahlt haben und auch keine Rentenansprüche hatten. Das ging von Automechanikern bis zu Obstbauern. Der Staat hat dann gesagt: »Ihr bekommt später Rente, und dafür zahlt ihr Steuern.« Und die Gewerkschaft hat gesagt: »Wir organisieren euch, und dafür zahlt ihr Beiträge.« So funktioniert es eben.

Wie viele Menschen sind heute in Kuba erwerbslos?

Die offizielle Erwerbslosenquote weiß ich nicht, aber ich schätze, über 25 Prozent. Ich habe aber auch eine Zahl gehört von 116 000 Arbeitslosen im erwerbsfähigen Alter.

Wie steht es mit der Berufsausbildung? Man hört in erster Linie von Hochqualifizierten oder von der mangelnden Bereitschaft, auf dem Land zu arbeiten.

Sicher, wir haben auch Berufsschulen. Auf den Aspekt wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit. In den letzten zehn Jahren haben wir gesagt: Wir brauchen Ingenieure, wir brauchen Ärzte und Journalisten. Aber dadurch sind viele Handwerksberufe verloren gegangen. Wir stehen da vor großen Herausforderungen, diese Berufe wieder zu fördern. Das heißt Straßenbauer, Zimmerer, Schreiner, Maurer, Landwirte ... Die Berufsschulen machen viel Werbung. Es werden Fahrten in Betriebe oder aufs Land organisiert, damit die Jugendlichen sehen, wie es dort ist. Es fängt langsam an zu funktionieren, aber es ist noch viel zu tun.

Wie kann es denn passieren, dass man nach zehn Jahren merkt: Hoppla, wir haben keine Maurer mehr. Das verstehe ich nicht.

Ich verstehe das auch nicht wirklich. Es heißt: Wir brauchen Polizisten. Also gehen die Jungen in die Stadt, verdienen 1000 Pesos und machen nichts. Oder: In den 90er Jahren hatten wir plötzlich keine Englischlehrer mehr, weil alle in den Tourismus gegangen sind. Dann hat die Regierung die Löhne für Lehrer erhöht. Zwar war das gut, ich habe auch eine Erhöhung bekommen, aber auf die Zukunft gesehen, war das nicht gut. Die Regierung hat nicht zu allen Zeiten die beste Politik gemacht. Aber ich glaube, jetzt sind wir auf einem guten Weg.

Kuba ist stark auf den Export angewiesen. Wo liegen die größten Probleme in der Wirtschaft?

Die liegen in der Landwirtschaft. Wir haben die besten Bedingungen und könnten sogar drei Ernten im Jahr einfahren. Aber wir importieren sogar Tomatensoße aus China. Verrückt, oder? Wir haben Zucker aus Brasilien gekauft. Wir müssen diese Importe auf ein Minimum reduzieren. Wir geben sehr viel Geld dafür aus. Andere Produktionszweige wie etwa Nickel oder Kupfer funktionieren. Da exportieren wir. Und es gibt Erdöl, was in Zukunft wichtig sein wird. Aber wir können das Öl selber nicht fördern, dazu fehlt uns die Technologie. Dafür machen wir Joint Ventures mit Brasilien und auch Indien.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 13. April 2012


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