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Stürmische Monate

Rückblick 2010. Heute: Kuba. Havanna reagiert mit drastischen Reformen auf Krise. Erster Parteitag seit 1997 im April 2011

Von André Scheer *

Von Unwettern ist Kuba im zu Ende gehenden Jahr weitgehend verschont geblieben; doch politisch waren es zwölf stürmische Monate, und weitere werden folgen. Im April kritisierte der kubanische Präsident Raúl Castro, daß die staatlichen Unternehmen um etwa eine Million Menschen überbesetzt seien. Größtes Problem seien die sogenannten »aufgeblähten Arbeitsplätze«, auf denen sich zwei oder mehr Beschäftigte die Arbeit eines einzigen teilen. Im August folgte dann die Ankündigung drastischer Maßnahmen, deren Details die Regierung mit dem Gewerkschaftsbund CTC aushandeln werde. Dieser wiederum veröffentlichte Mitte September in seiner Zeitung Trabajadores den Plan, bis März 2011 eine halbe Million Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen. »Unser Staat kann und darf nicht weiter Unternehmen mit einer aufgeblähten Zahl von Arbeitsplätzen unterhalten«, hieß es in der vom Nationalen Sekretariat des CTC unterzeichneten Erklärung. Das »Prinzip der sozialistischen Verteilung« müsse wieder durchgesetzt werden, wonach jeder »nach dem Maß und der Qualität seiner geleisteten Arbeit« zu bezahlen sei.

Während international manche Medien frohlockten, Havanna wolle den Kapitalismus wieder einführen, betonte die kubanische Regierung immer wieder, niemand werde seinem Schicksal überlassen. Wer im Zuge der Wirtschaftsreformen seinen Arbeitsplatz verliere, könne in anderen Bereichen wieder angestellt werden, in denen Arbeitskräfte dringend benötigt werden. Außerdem wurden zahlreiche Restriktionen aufgehoben, die wirtschaftliche Tätigkeiten bislang dem Staat vorbehielten. Künftig dürfen zum Beispiel Maurer, Tischler, Elektriker und Uhrmacher ebenso auf eigene Rechnung arbeiten wie Töpfer, Friseure, Fotografen oder Übersetzer.

Keine Privatisierung

Doch eine Privatisierung bislang staatlicher Betriebe ist damit nicht verbunden. »Das System der sozialistischen Planung wird die Hauptform zur Lenkung der nationalen Wirtschaft bleiben, während es sich in seinen methodologischen und organisatorischen Aspekten verändern muß«, heißt es in einem Anfang November veröffentlichten Papier, das seit Wochen intensiv in Kuba diskutiert wird. Auf gut 30 Seiten wird darin beschrieben, wie die Wirtschaft der Insel in ihren verschiedenen Bereichen künftig organisiert werden soll.

So soll die Produktion von Arzneimitteln verstärkt werden, weil deren Export Gewinne verspricht. Die Industrie wird exportorientiert ausgerichtet, während Importe zurückgefahren werden, um Devisen zu sparen. Die derzeit existierende Doppelwährung – der nicht konvertible Peso cubano neben dem an den US-Dollar gekoppelten CUC – soll überwunden werden. Das setze jedoch eine deutliche Zunahme der Produktivität sowie effizientere Vertriebswege in der kubanischen Wirtschaft voraus, wird in dem Papier unterstrichen.

Dieses »Projekt für Richtlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik« ist das bislang wichtigste Dokument, das die kubanische Führung mit Blick auf den für kommenden April einberufenen sechsten Parteitag der Kommunistischen Partei (PCC) vorgelegt hat. Dieser erste Kongreß seit 1997 soll sich ausschließlich um die Wirtschaftslage kümmern, kündigte Raúl Castro am 8. November an. Die ebenfalls anstehenden Personalentscheidungen bleiben einer Parteikonferenz vorbehalten, die noch im Laufe des Jahres 2011 stattfinden soll.

Formal steht noch immer Fidel Castro als Erster Sekretär des Zentralkomitees an der Spitze der Partei. Bei einem Treffen mit kubanischen Studenten machte dieser am 17. November jedoch klar, daß er sich nicht mehr in dieser Funktion sieht. In den Monaten zuvor war der »Comandante en Jefe« wieder mehrfach öffentlich aufgetreten, was in Kuba und international Spekulationen auslöste, wonach er zumindest in einige Ämter zurückkehren könnte. Als ihn einer der Jugendlichen bei der Veranstaltung jedoch in seiner Parteifunktion ansprach, unterstrich Castro, daß er nach seiner Erkrankung »keine Sekunde gezögert« habe, alle seine Funktionen abzugeben: »Ich bin nur ein Soldat der Ideen.«

Personalprobleme

Die Personalfindung für die künftige Parteispitze bleibt jedoch kompliziert. Die Absetzung des damaligen Vizepräsidenten Carlos Lage und Außenministers Felipe Pérez Roque im März 2009 steckt der Organisation noch in den Knochen. Beide hatten als wahrscheinliche Nachfolger der »alten Garde« gegolten. Zum Verhängnis wurde ihnen jedoch eine ausgelassene Feier mit einem spanischen Geschäftsmann, während der sie über das gesellschaftliche System ihres Landes herzogen. Das Gespräch wurde insgeheim mitgeschnitten und anschließend bei internen Parteiversammlungen vorgeführt.

Fidel Castro kommentierte dies in einer seiner »Reflexionen« mit den Worten: »Die Honigsüße der Macht, für die sie kein Opfer bringen mußten, hat in ihnen Ambitionen erweckt, die sie dazu brachten, eine unwürdige Rolle einzunehmen. Der äußere Feind hat sich in bezug auf sie falsche Hoffnungen gemacht.« Unklar ist seither, wer die nötige Autorität haben könnte, um die Generation, die vor einem halben Jahrhundert die Revolution erkämpft hatte, abzulösen. Daß dies auf der Parteikonferenz 2011 jedoch auf der Tagesordnung stehen wird, haben sowohl Fidel als auch Raúl Castro mehrfach betont.

Frage und Antwort

Für Verwirrung sorgte im September auch die Veröffentlichung eines Interviews, das Fidel Castro dem US-amerikanischen Journalisten Jeffrey Goldberg gewährt hatte. Seine Aussage, das kubanische Modell funktioniere »nicht einmal für uns selbst«, sorgte weltweit für Aufsehen. Fidel selbst versuchte kurz darauf, die Verwirrung aufzulösen. Die Frage und die Antwort hätten sich lediglich auf den »Export der Revolution« in andere Länder bezogen, der Kuba seit Jahrzehnten immer wieder vorgeworfen wird. »Meine Idee, die alle kennen, ist, daß das kapitalistische System weder für die Vereinigten Staaten noch für die Welt taugt, die es von einer Krise zur nächsten führt. Wie könnte ein solches System für ein sozialistisches Land wie Kuba nützlich sein?«

Zwar steht Kuba auch in den kommenden Monaten vor großen Herausforderungen, die die Reformen mit sich bringen. In Miami, Washington oder Brüssel gehegte Hoffnungen, daß das kubanische System an den aktuellen Schwierigkeiten zerbrechen werde, dürften sich jedoch auch 2011 wie seit mehr als einem halben Jahrhundert als Irrtum herausstellen.

Darauf hat Mitte Dezember bereits US-Filmemacher Michael Moore hingewiesen. In seinem Internetblog zitierte er aus einem US-Geheimdokument, wonach die Unzufriedenheit in Kuba sich auf alle Provinzen ausgedehnt habe, der gesamte Osten bereits »vor Haß« gegen das Castro-Regime brenne und es eine große, noch unter der Decke gehaltene Rebellion gäbe. Arbeiter und Soldaten würden sich nicht rühren, um das Regime vor einem Sturz zu bewahren. Dann wies er darauf hin, daß dieser Bericht vom 31. März 1961 stammte – drei Wochen vor der US-gesteuerten Invasion in der Schweinebucht. Diese Niederlage der von der CIA ausgebildeten, finanzierten und angeleiteten Söldner jährt sich im April 2011 zum fünfzigsten Mal.

* Aus: junge Welt, 28. Dezember 2010


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