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Sicherung der Revolution

Vor 20 Jahren beschloß Kuba Maßnahmen zur ökonomischen Stabilisierung

Von Volker Hermsdorf *

Das Überleben des kubanischen Sozialismus stand vor 20 Jahren auf Messers Schneide. Am 28. Dezember 1993 segneten die Abgeordneten nach einer zweitägigen Parlamentssitzung in Havanna ein Maßnahmenbündel ab, mit dem das Ruder herumgerissen und das Land auf einen stabilen Kurs gebracht werden sollte. Etliche Veränderungen waren unter dem Druck des wirtschaftlichen Absturzes bereits Monate zuvor eingeleitet worden. Trotz unterschiedlicher Bewertungen ist heute unbestritten, daß diese Maßnahmen das kubanische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell davor bewahrt haben, gemeinsam mit der Sowjetunion und den ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas unterzugehen.

Das erste sozialistische Land Amerikas hatte von einem Tag auf den anderen seine wichtigsten Handelspartner verloren. Bis dahin hatte es 85 Prozent des Außenhandels mit Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) abgewickelt: Erdöl und andere Brennstoffe, Maschinen, Ersatzteile und elektrische Geräte sowie ein Großteil der Nahrungsmittel wurden von dort bezogen. Als die Lieferungen ausblieben, konnten viele Betriebe nicht mehr produzieren. Bis 1993 brach die Zuckerproduktion um 50 Prozent ein. 80 Prozent der Industrieanlagen standen still. Ein Teufelskreis, der dazu führte, daß die Importe von 8,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 1989 auf 2,2 Milliarden im Jahr 1992 fielen.

Verheerende Lage

Die Situation der Bevölkerung schien hoffnungslos. Lebensmittel wurden knapp, der Personen- und Güterverkehr brach zusammen, die Versorgung mit Medikamenten konnte nicht mehr garantiert werden, Betriebe und Haushalte litten unter täglichen Stromabschaltungen, Wasser kam nur noch alle paar Tage für wenige Stunden aus den Leitungen. Der Traum der USA, die in den 1960er Jahren erfolglos versucht hatten, Vietnam »zurück in die Steinzeit zu bomben«, schien sich knapp 30 Jahre später in Kuba zu erfüllen. »Als die UdSSR und der sozialistische Block zusammenbrachen, hätte niemand auch nur einen Pfifferling auf das Überleben der Kubanischen Revolution gegeben«, gestand Fidel Castro später in seinen von dem spanischen Journalisten Ignacio Ramonet aufgeschriebenen Memoiren.

Als das Land ökonomisch am Boden lag, holten die USA zu einem Tiefschlag aus. Im Oktober 1992 verabschiedete Washington das von Robert Torricelli initiierte und nach ihm benannte Gesetz, mit dem die US-Blockade gegen Kuba verschärft wurde. Der »Torricelli Act« droht Drittländern, die zu Kuba wirtschaftliche Beziehungen unterhalten, Restriktionen an.

Neben dem Ausfall der bisherigen Handelspartner und der aggressiven Politik seiner Feinde machten Naturkatastrophen dem Land zu schaffen. Im Jahr 1992 hatte eine lange Dürreperiode die Wasservorräte in den Stauseen auf eine kritische Marke sinken lassen und die landwirtschaftlichen Erträge weiter verringert. Nachdem heftige Regenfälle im Januar 1993 den größten Teil des Zuckerrohrs vernichtet hatten, wurde die Karibik im März von einem »Jahrhundertsturm« heimgesucht. Nur zwei Monate später zog der tropische Taifun »One« über den Osten und die Zentralregion. Sintflutartiger Regen überschwemmte große Teile des Landes. Das Ergebnis war wieder verheerend: 1860 Gebäude waren dem Erdboden gleich gemacht, 16500 schwer beschädigt worden. Der Bestand an Zuckerrohr, Zitrusfrüchten, Tabakpflanzen, Gemüse und Kaffee war vernichtet.

In den Jahren 1992 und 1993 wurde klar, daß die im Zusammenhang mit der bereits im August 1990 von der Regierung ausgerufenen »Sonderperiode in Friedenszeiten« (Período especial en tiempo de paz) verabschiedeten Maßnahmen, die vor allem auf Einsparungen beim Verbrauch von Öl und Elektrizität abzielten, nicht ausreichten, um den wirtschaftlichen Zusammenbruch abzuwenden.

Legaler Devisenbesitz

Als größtes Problem bezeichnete Fidel Castro die Devisenknappheit. Mit der Entwicklung des Schwarzmarkts wuchs in der Bevölkerung die Nachfrage nach Devisen, obwohl deren Besitz strafbar war. Schätzungen zufolge waren neben der offiziellen nationalen Währung, dem Peso Cubano (CUP), im Jahr 1993 rund 500 Millionen US-Dollar illegal im Umlauf. Gleichzeitig unterlag der CUP einem galoppierenden Wertverlust. Zwischen 1989 und 1993 war der Wechselkurs für einen Dollar auf dem Schwarzmarkt von sieben CUP auf bis zu 140 CUP gestiegen.

Die im Februar 1993 gewählten Abgeordneten der neuen Nationalversammlung (Parlament) mußten unter Zeitdruck nach Wegen suchen, um den weiteren Verfall zu bremsen und die Wirtschaft zu stabilisieren. Um die seit Monaten kursierenden Gerüchte zu beenden, kündigte Fidel Castro am 26. Juli, fünf Monate vor der nächsten Parlamentsvollversammlung, als erste Maßnahme die Legalisierung des Devisenbesitzes an. Damit konnte das illegale Dollarvermögen in den Wirtschaftskreislauf eingebracht werden. Zudem durften im Ausland lebende Kubaner ihre Verwandten und Freunde auf der Insel nun offiziell mit Geldtransfers unterstützen. Die Bevölkerung profitierte von der Einrichtung staatlicher Devisenläden, in denen Importwaren zu festgesetzten Preisen, die meist unter denen des Schwarzmarktes lagen, erhältlich waren.

Weitere Maßnahmen folgten: Im September wurden rund 200 private Tätigkeiten zugelassen, um das Angebot an Gütern und Dienstleistungen zu erweitern und Arbeitsplätze zu schaffen. Innerhalb von zwei Jahren waren über 200000 Menschen im Sektor der »Trabajo por cuenta propia« (Arbeit auf eigene Rechnung) tätig. Überall entstanden Paladares (Privatrestaurants), Friseursalons, Nagelstudios, Tischlereien und private Transportanbieter. Zugleich wurde die Landwirtschaft reformiert. Um die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln, wurde ein Teil der Staatsbetriebe in selbständige Kooperativen, die Unidades Básicas de Produción Cooperativa, überführt, die ihre über dem Plan liegenden Erträge auf freien Bauernmärkten verkaufen durften. Diese »Mercados Agropecuarios« standen auch privaten Kleinbauern zur Verfügung. All das führte zu einer langsamen Entspannung des Binnenmarktes.

Devisenknappheit, veraltete Industrieanlagen und fehlende internationale Handelspartner erforderten jedoch weitere Veränderungen. Die Lösung sollten der Einstieg in den Massentourismus, die Öffnung des Landes für ausländische Investoren und die Schaffung von Joint Ventures mit kubanischen Staatsunternehmen bringen. Zudem wurden ein neues Investitionsgesetz und Zollregelungen verabschiedet, die den Im- und Export erleichterten.

Die Summe der Maßnahmen zeigte Wirkung. Nachdem das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 1990 und 1993 um knapp 50 Prozent gefallen war, wurde 1994 wieder ein geringes Wachstum von 0,7 Prozent gemeldet. Im folgenden Jahr stieg das BIP auf 2,5 Prozent und 1996 wurden sogar 7,8 Prozent erreicht. Die sozialistische Volkswirtschaft stabilisierte sich zwar noch auf einem niedrigen Niveau, doch die Talsohle war durchschritten.

»Die einzigen Wunder sind die, die von Menschen vollbracht werden«

Kaum Notiz nahmen die internationalen Medien am 26. Juli 1993 von den Feiern zum 40. Jahrestag des Sturms auf die Moncada-Kaserne, der in Kuba als Startsignal für den bewaffneten revolutionären Kampf gilt. Was der Comandante en Jefe, Fidel Castro, den rund 2400 Zuhörern im Theater »Heredia« von Santiago de Cuba mitteilte, war dennoch eine der folgenschwersten Neuigkeiten des Jahres.

Er hätte lieber – wie sonst – auf einem großen Platz vor vielen Menschen aus der Region gesprochen, leitete Castro seine Rede ein. Es sei aber derzeit unmöglich so viele Zuhörer zu transportieren, denn der Kraftstoff müsse in Devisen bezahlt werden, die das Land für Wichtigeres brauche. Nach dem Untergang der Sowjetunion müsse Kuba alles für harte Währungen einkaufen: »Lebensmittel, Medikamente, Öl und Benzin, einfach alles.« Aber die Deviseneinnahmen reichten dafür nicht aus. »Ich sage dies nicht, um euch mutlos zu machen, sondern damit ihr die Wahrheit kennt«, sagte der Partei-, Staats- und Regierungschef und fragte: »Welches Land war je mit einer derartigen Situation konfrontiert? Was können wir angesichts der totalen Wirtschaftsblockade tun, um nicht unterzugehen?«

Als erste Maßnahmen kündigte der Comandante in seiner im Fernsehen übertragenen Rede die Freigabe des Dollarbesitzes, die Zulassung privater Tätigkeiten, das Werben um ausländische Investitionen und den Einstieg in den Massentourismus an. »Diese Maßnahmen gefallen uns nicht, einige sind unausstehlich, werden unser Leben, unsere Gesellschaft verändern«, sagte Castro. »Aber es gibt keine Wunder – die einzigen Wunder sind die, die von den Menschen mit ihrer Arbeit und ihrer Intelligenz vollbracht werden.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 28. Dezember 2013


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