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Korsika und die französische Regierung

Friedensprozess mit unsicherem Ausgang

Neben Nordirland und dem Baskenland gibt es noch eine Region in (West-)Europa, die sich am liebsten vom Mutterland trennen, mindestens aber weitgehende Autonomierechte erringen will. Die Rede ist von Korsika. Im Sommer 2000 sind vielfache Initiativen entfaltet worden, um das Dauerproblem zu lösen. Doch die von Paris angebotene Lösung ist innenpolitisch höchst umstritten. Nachfolgend ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung:

Der korsische Knoten

Paris muss erkennen, dass es die Probleme der Mittelmeerinsel nicht lösen kann / Von Rudolph Chimelli

Wenn Frankreichs Politik im tiefen Sommerschlaf liegt, hält ein Problem die Regierung wach: Korsika. Kurz vor den Ferien hatte Premier Lionel Jospin ein Projekt vorgelegt, das den offiziell so bezeichneten "Friedensprozess" durch Herstellung des "bürgerlichen Friedens" krönen sollte - ganz so, als ob es sich für Paris nicht um die Bekämpfung einer kleinen mafiösen Minderheit von Desperados handelte, sondern um eine Auseinandersetzung mit der Inselbevölkerung. Nun muss Jospin zurückrudern.

Eine Amnestie für die Mörder des Präfekten Claude Erignac werde es "niemals" geben, sagte der Regierungschef der Zeitschrift Nouvel Observateur. Eine Amnestie für andere Gewalttäter - nach Lesart der Nationalisten "politische Gefangene" - stehe "nicht auf der Tagesordnung". Die Verwirklichung der für Korsika vorgesehenen erweiterten Kompetenzen machte er davon abhängig, dass die Gewalt aufhört. Und anderen Regionen Frankreichs ähnliche Zugeständnisse zu machen, kommt für Jospin "nicht in Frage". Er sprach auf der Atlantikinsel Re, seinem Urlaubsquartier, und es lässt sich schon jetzt absehen, dass Korsikas "einmalige Situation" für bretonische, baskische oder sonstige Autonomisten kein Argument sein wird.

Das korsische Regionalparlament hatte Jospins Plan im Juli gebilligt. Er soll im Rahmen einer Verfassungsreform bis zum Jahr 2004 verwirklicht werden. Vorgesehen ist unter anderem, dass der Unterricht in korsischer Sprache "obligatorisch" wird. Ferner soll das Regionalparlament die Befugnis erhalten, Gesetze, die von der Nationalversammlung in Paris verabschiedet worden sind, den örtlichen Gegebenheiten anzupassen.

Überzeugte Anhänger des republikanischen Einheitsstaates sehen in solchen Formeln ein Sakrileg. Um ihren Wortführer in der Regierung, Innenminister Jean-Pierre Chevčnement, wucherten Rücktrittsgerüchte. Diese wurden freilich dementiert. Die satirische Zeitschrift Le Canard enchaîné zitiert dazu einen Mitarbeiter Jospins mit der Analyse, entweder die Gewalt nehme erneut zu und der Plan sei überholt, oder es trete Frieden ein, weil die Nationalisten sich der Kultur des Dialogs anschlössen: In beiden Fällen könne Chevčnement bleiben.

Prompt lieferten Extremisten den Anlass dafür, dass Jospin seine Bedingungen neu formulierte. Sie erschossen Anfang August Jean-Michel Rossi, den einstigen Ideologen der FLNC "Befreiungsfront, historischer Kanal" und ehemaligen Führer der nationalistischen Cuncolta. Rossi, der seit dem Mord an Erignac nicht mehr an die Unabhängigkeit glaubte, hatte sich aus der Politik zurückgezogen. Aber er hatte als Autor an einem Enthüllungsbuch mitgewirkt, das die mafiösen Verwicklungen der korsischen Nationalistenszene offen legte.

Wenige Tage danach wurde ein Sprengstoffanschlag auf das Gebäude der "Agentur für wirtschaftliche Entwicklung Korsikas" verübt. Es handelte sich um ein doppelt symbolisches Ziel, denn die Agentur wird zwar von Paris zur Verwirklichung der Regierungsstrategie finanziell großzügig ausgestattet, aber sie untersteht dem Regionalparlament. Erstmals gingen Attentäter gegen eine korsische Institution vor. Ihr Leiter hatte für Jospins Projekt gestimmt.

Während der vergangenen 25 Jahre haben rechte wie linke Pariser Regierungen versucht, sich durch Geheimverhandlungen mit den Nationalisten Ruhe auf Korsika zu erkaufen. Doch immer verschafften Konzessionen, Subventionen und Begnadigungen nur Atempausen. Stets zeigte sich, dass Extremisten das Tempo angeben. Diesmal muss Premierminister Jospin die Erfahrung machen, dass es nur von begrenztem Nutzen ist, sich mit den gemäßigten Kräften unter korsischen Autonomisten und Separatisten zu arrangieren. Es scheint auch nichts zu helfen, ihr Lager durch weitere Zugeständnisse zu stärken. Offensichtlich entziehen sich erneut radikale Gruppen dem Einfluss der traditionellen Organisationen. Die Gewalttäter wären erst lahm zu legen, wenn die Korsen von ihnen abrückten. Zwar sind 83 Prozent der Inselbewohner gegen eine Unabhängigkeit, aber immer wenn etwas passiert, hat niemand hingesehen.
Aus: Süddeutsche Zeitung vom 18.08.2000

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