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Ende eines kalten Friedens

Nordkorea setzt ebenfalls auf Stärke und spielt erneut die nukleare Karte

Von Rainer Werning*

So weit ist die Führung der Demokratischen Volksrepublik Korea noch nie gegangen. War in Pjöngjang zuvor lediglich vom Recht des Landes die Rede, über eine "militärische Abschreckungskraft" zu verfügen, so erklärte nun das nordkoreanische Außenministerium am 10. Februar: "Wir haben Nuklearwaffen zur Selbstverteidigung hergestellt, um mit der immer unverhohleneren Politik der Bush-Regierung zur Isolierung und Erstickung (Nordkoreas - d. A.) fertig zu werden. (...) Die heutige Realität beweist, dass nur mächtige Stärke Gerechtigkeit und Wahrheit schützen können." Seither ist aus westlicher Perspektive der mittlerweile dritte Atomkonflikt auf der koreanischen Halbinsel eingeläutet.

"Chirurgischer Eingriff" in die Atomanlage von Yongbyon

Der erste schwere Dissens zwischen Washington und Pjöngjang war Anfang der neunziger Jahre durch die Vermittlung des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter beigelegt worden. Im Oktober 1994 hatten die USA und Nordkorea in Genf das Agreed Framework vereinbart. Nach diesem "Rahmenabkommen" verzichtete Pjöngjang auf sein laufendes Nuklearprogramm zum Bau von Kernkraftwerken, während die USA zusicherten, den Nordkoreanern als Gegenleistung jährlich 500.000 Tonnen Schweröl zu liefern und die Souveränität des Landes zu respektieren. Sicherheitsgarantien, die Nordkorea seinerzeit als Vorstufe eines möglichen Friedensvertrages mit den USA wertete und mit der Bereitschaft honorierte, sich wieder voll und ganz dem Kontrollsystem der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) zu unterwerfen. Die Normalisierung zwischen beiden Staaten verlief ab 1995 derart reibungslos, dass sich die damalige Außenministerin Madeleine Albright und General Cho Myoung-Rok, die Nummer drei in der Hierarchie der Volksrepublik, gegenseitig Besuche abstatten konnten.

Erst als im Januar 2001 George W. Bush ins Weiße Haus einzog, klang dieses Tauwetter schlagartig ab. Die vom amerikanischen Präsidenten Ende Januar 2002 erstmals gebrauchte Formulierung von Nordkorea als "Teil einer Achse des Bösen" erboste die politische Führung in Pjöngjang. Der zweite Atomkonflikt war nicht mehr aufzuhalten, als James Kelly, Abteilungsleiter für Ostasien im State Department, Mitte Oktober 2002 Pjöngjang besuchte. Entgegen den Erwartungen der Gastgeber, die Visite könne eine Wende im bilateralen Verhältnis einleiten und zum Framework zurückfinden lassen, hinterließ das Treffen zwischen dem arrogant auftretenden Kelly und Vizeaußenminister Kang Suk-Ju einen Scherbenhaufen. Knapp ein Jahr später, im August 2003, konstatierte eine Autorengruppe des Staatlichen Instituts für die Wiedervereinigung des Vaterlandes in Pjöngjang: "Die USA verprügeln wie ein Straßenräuber rücksichtslos schwache Gegner im Kosovo, in Afghanistan und im Irak, nur gegenüber Nordkorea vermeiden sie den ›Präventivschlag‹ - nicht aus Gnade, sondern dank unserer militärischen Abschreckungskraft. Sie garantiert Eigenständigkeit und Frieden auf der koreanischen Halbinsel und widerspricht nicht der von Nord- und Südkorea 1992 unterzeichneten ›Gemeinsamen Erklärung zur Denuklearisierung‹, die ihrerseits den vollständigen Abzug der in Südkorea dislozierten amerikanischen Kernwaffen zur Voraussetzung hat." Das hier informell angedeutete Junktim, nur ein Abzug des US-Nuklearpotenzials aus Südkorea werde zu einem Verzicht auf das Nuklearprogramm des Nordens führen, wurde von den Falken in der US-Administration - kurz vor dem Präventivschlag gegen den Irak - mit der Behauptung quittiert: Nordkorea sei eine weitaus größere Gefahr als der Irak Saddams. Man müsse daher an eine Seeblockade ebenso wie an einen "chirurgischen Eingriff" in die Atomanlage von Yongbyon denken. Nach der Einnahme von Bagdad war es dann jedoch General Gary Luck, einst Oberkommandierender der US-Streitkräfte in Südkorea, der warnte, im Falle einer Irak ähnlichen Operation gegen Nordkorea müsse mit Hunderttausenden Toten gerechnet werden, und damit offenbar zunächst Gehör fand.

Warum nun wurde die Erklärung des nordkoreanischen Außenministeriums gerade jetzt lanciert? Weshalb vor allem brüskiert Pjöngjang die chinesische Regierung? Was zweifellos der Fall ist, wenn die von Peking intendierte "Runde der Sechs", in der Südkorea, Japan, Russland, die USA und China bisher mit den Nordkoreanern verhandelten, bis auf weiteres boykottiert werden soll.

Die zeitliche Nähe zum Beginn der zweiten Amtszeit von George Bush ist offenkundig. Wenngleich der in seiner Antrittsrede direkte Attacken gegen Pjöngjang vermieden hatte, war es Außenministerin Rice, die der Volksrepublik den wenig schmeichelhaften Titel "Vorposten der Tyrannei" verlieh und damit andeutete, die USA seien weiterhin dazu entschlossen, auch diesen Teil "der Achse des Bösen" nicht aus den Augen zu lassen. Da es unter diesen Umständen, wenig sinnvoll erschien, um die Entsendung neutraler Inspektoren zu bitten oder sich auf internationale Rechtsnormen zu berufen, dürfte das isolierte Regime in Pjöngjang entschieden haben, die nukleare Karte zu spielen, um mit den USA auf gleicher Augenhöhe verhandeln zu können. Dabei erscheint es vom politischen Effekt her fast zweitrangig, ob tatsächlich ein Atomarsenal vorhanden ist, das eine "starke militärische Abschreckungskraft" besitzt.

Garantien für das Überleben von Staat und Gesellschaft

Auch innenpolitisch ist das Signal eindeutig, nach der Formel "ein starker Staat und eine Armee zuerst!" hat sich die Führung im Interessenkonflikt zwischen Militärpotenzial und Lebensstandard unmissverständlich erklärt. Obgleich die Volksrepublik einen für ihre Möglichkeiten exorbitant hohen Anteil von 30 Prozent des Bruttoinlandprodukts in den Unterhalt der Streitkräfte investiert, entspricht diese Summe gerade einem Drittel der entsprechenden Ausgaben in Südkorea, wo überdies mit modernsten Waffen ausgerüstete 37.000 GIs stationiert sind. Atomare Abschreckungsmittel haben nach der in Pjöngjang geltenden Lesart den Vorteil, kostengünstiger als konventionelle Waffen zu sein - so könnten Ressourcen genutzt werden, um die Wirtschaft zu beleben. Allerdings werden dazu Erdöllieferungen aus China unverzichtbar bleiben, die Peking durchaus nutzen könnte, um Pjöngjang zu veranlassen, irgendwann an den Verhandlungstisch der sechs zurückzukehren. Kim Jong-Il weiß nur zu gut, dass es derzeit keinen besseren Vermittler zwischen den USA und Nordkorea geben kann als China, den "älteren Bruder".

Vermutlich schien es dem "Geliebte Führer" angezeigt, im 60. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und einer demütigenden japanischen Fremdherrschaft mit der Nuklearoption in symbolträchtiger Weise auf die Werte Unabhängigkeit und Antikolonialismus zu verweisen - den Garantien für das (Über-)Leben von Staat und Gesellschaft. Außerdem wurde so die Armee als wichtigste staatliche Institution Nordkoreas hofiert, der Kim Jong-Il auch dadurch zu gefallen weiß, dass er - was in letzter Zeit häufig geschieht - ausländische Gäste nicht als Staatschef, sondern in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Nationalen Verteidigungskommission empfängt.

Die Atomarsenale weltweit

LandAnzahl der Systeme
Russlandca. 19.500
USAca. 10.350
China420
Frankreich 350
Großbritannien200
Israel200-400
Indien55-110
Pakistan55-90
Nordkorea6-9 (geschätzt)
Gesamtca. 31.500

Quelle: Arms Control Association, Bulletin oft the Atomic Scientist


* Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des Korea Verband e.V. im Asienhaus (Essen) und Ko-Herausgeber des Buches Wohin steuert Nordkorea? Soziale Verhältnisse, Entwicklungstendenzen und Perspektiven, Köln 2004: PapyRossa Verlag.

Aus: Freitag 07, 18. Februar 2005a


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