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Ein Hauch von Kaltem Krieg

In Südkorea fürchtet man inzwischen die "Schutzmacht" USA mehr als den "Atompoker" Pjöngjangs

Der Ostasien-Experte Rainer Wernig schrieb im "Freitag" vom 18. Juli 2003 einen Hintergrundartikel über die angespannte Situation auf der koreanischen Halbinsel (Überschrift: "Endstation in Dorasan"). Wir dokumentieren den Beitrag, in dem sich am Ende auch eine kurze Gegenüberstellung der beiden koranischen Staaten in Zahlen befindet.


Von Rainer Werning

Panmunjom heißt der unwirtliche Ort im Herzen Koreas auf der Höhe des 38. Breitengrades, wo vor 50 Jahren das Ende des dreijährigen Koreakrieges besiegelt wurde.

Auch wenn die Kriegsgegner damals - am 27. Juli 1953 - ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten, Frieden gibt es auf der koreanischen Halbinsel bis heute nicht.

Die Zugfahrt von Südkoreas lärmender Megacity Seoul ins nördliche Dorasan ist eine Reise in die Surrealität. Nur etwa 50 Kilometer trennen die zwölf Millionen Einwohner der Metropole eines weltoffenen OECD-Landes von den Minenfeldern und Bunkern des Kalten Krieges. Der ist im unwirtlichen Dorasan so präsent, dass selbst Hunde von einem omnipräsenten Sicherheitspersonal argwöhnisch beäugt und ins Visier genommen werden. Ein Jahrzehnt nach dem Ende der West-Ost-Konfrontation in Europa durchzieht die koreanische Halbinsel hier noch immer eine 240 Kilometer lange "demilitarisierte Zone".

Dorasan ist zweierlei: ein vom südkoreanischen Staat mit Hilfe von Beton und Glas umgesetztes Versprechen und ein Bahnhof mit kafkaesken Zügen. Auf den Plattformen von Dorasan-Station herrscht statt quirligem Treiben martialische Grimmigkeit, denn Tickets sind hier nur in einer Richtung - gen Süden - lösbar. Erst Mitte Juni verlegten südkoreanische Bautrupps die letzten Gleise der Seoul-Dorasan-Trasse. Hätten ihre nordkoreanischen Kollegen in gleichem Tempo mitgehalten und die knapp 15 Kilometer bis nach Kaesong ebenfalls vollendet, wie das vor drei Jahren beim ersten Zusammentreffen der Staatschefs aus Nord und Süd vereinbart wurde, könnte die Zugfahrt 50 Jahre nach Kriegsende theoretisch über Nordkoreas Kapitale Pjöngjang weiter nach Europa führen. Theoretisch, wohl verstanden.

Von Pusan nach Paris

Am Seouler Hauptbahnhof jedenfalls lebt diese Vision. Ein überdimensionales Poster zeigt auf dem Vorplatz eine ungewöhnliche Landkarte. Neben den beiden koreanischen Staaten sind darauf China, Russland und ein Teil Europas abgebildet. Wenigstens die Plakatmaler lassen sich hinreißen, farbenfroh eine Eisenbahntrasse zu zeichnen, die vom südkoreanischen Hafen Pusan über Seoul, Dorasan und Pjöngjang in die nordkoreanische Grenzstadt Sinuiju führt, vom chinesischen Dandong weiter nordwestlich in das transsibirische Netz mündet und sich ab Moskau gabelt - eine Route führt von dort nach Skandinavien, die andere bis Paris. Dahinter steckt ein Konzept, das chinesische und südkoreanische Politiker bereits vor Jahren als das einer "modernen Seidenstraße" skizzierten. Was gut klingt und als Alternative zum transpazifischen Übergewicht Südkoreas Chancen hätte, scheitert an der Politik. Genauer: an der gegenwärtigen Außenpolitik Washingtons, und erst in zweiter Linie an Seoul und Pjöngjang.

Schmiergelder an Pjöngjang

Neun von zehn südkoreanischen Hochschülern würden heute Nordkoreaner in ihrer Nachbarschaft als Freunde und Kollegen willkommen heißen - so das Ergebnis einer zu Jahresbeginn im Auftrag des Vereinigungsministeriums in Seoul veröffentlichten Umfrage an Universitäten und Gymnasien in der Seoul-Kyonggi Provinz. Der Erhebung zufolge würden auch 55 Prozent der Befragten eine/n Nordkoreaner/in heiraten. Knapp 90 Prozent der Studenten erklärten, sie hätten gern Nordkoreaner als "enge Freunde". 88 Prozent der Befragten wollten Nordkorea besuchen, sollten die geltenden Reisebeschränkungen fallen. 19,8 Prozent gaben sogar an, sie könnten sich vorstellen, in Nordkorea zu leben.

Ein stupendes Resultat, zeigt es doch: Das von der westlichen Supermacht und ihren südkoreanischen Statthaltern seit dem Koreakrieg geschürte Feindbild findet keinen Humus mehr. Wenngleich die Mehrheit der südkoreanischen Bevölkerung lange Zeit die Präsenz amerikanischer Truppen als Sicherheitsfaktor begrüßte, wird dies heute weitaus differenzierter gesehen. Auch gilt ein direkter Nord-Süd-Dialog ohne Einmischung von außen als wünschenswert. Dabei wird die Option einer Vereinigung heute weitaus realistischer beurteilt. Schwankten die Südkoreaner noch vor Jahren zwischen Vorsicht und Euphorie, ist spätestens nach dem ernüchternden deutschen "Aufbau Ost" die Illusion einer raschen "Vereinnahmung" des Nordens verflogen. Nicht allein wegen der für den Süden exorbitanten Kosten, die binnen eines Jahrzehnts auf 1,2 Billionen Dollar veranschlagt werden, sondern auch mit Blick auf die absehbaren sozialen Verwerfungen, mit denen angesichts des schroffen Systemunterschiedes zwischen beiden Ländern zu rechnen wäre.

Eigentlich hätte aus all dem der neue Mann im Blauen Haus zu Seoul, der Präsidentenresidenz des seit Jahresanfang regierenden Roh Moo Hyun, politisches Kapital schlagen können. Roh, einst ein Menschenrechtsanwalt, der zeitweilig selbst im Gefängnis saß, war als Hoffnungsträger der Jugend und kritischer Intellektueller gewählt worden. Unter anderem hatte er für eine selbstbewusstere Politik gegenüber den USA plädiert und angekündigt, den Stationierungsvertrag der US-Streitkräfte in Korea (SOFA) im Sinne des Gastgebers zu ändern. Zudem bekannte er sich zur Fortsetzung der von seinem Vorgänger Kim Dae Jung verfolgten "Sonnenscheinpolitik" gegenüber dem Norden.

Die Bush-Administration reagierte allergisch, so dass Roh postwendend den Militärschlag gegen den Irak befürwortete und eigene Hundertschaften in Aussicht stellte - nicht zur Erbauung seiner Wähler, die sehr wohl begreifen, welches Exempel in Bagdad statuiert wird und nicht erneut in Kriegsangst gestürzt werden wollen. Die Stimmung ist eindeutig: Wer die derzeitige US-Regierung zum Freund hat, braucht um Feinde nicht besorgt zu sei. Zwar behauptet James A. Kelly, Unterstaatssekretär im U.S. State Department, ihm gegenüber habe Pjöngjang den Besitz von Atomwaffen zugegeben. Doch Diplomaten in Seoul und amerikanische Korea-Experten wie Professor Bruce Cumings (University of Chicago) verneinen dies und vermuten eine diplomatische Zwecklüge im Vertrauen auf die Psychologie der Abschreckung.

Es kann nicht überraschen, dass mit dem nicht einmal ansatzweise beigelegten Atomstreit auch die "Sonnenscheinpolitik" weiter in Misskredit gerät. Rohs Vorgänger Kim - so der Vorwurf eines Untersuchungsausschusses in Seoul - soll mit Schmiergeldern an Pjöngjang (teils kaschiert als Nordkorea-Investitionen des mächtigen Hyundai-Konzerns) dem historischen Zusammentreffen mit Kim Jong Il im Juni 2000 auf die Sprünge geholfen haben. Dafür erhielt im gleichen Jahr aber - symbolträchtig - nur der südliche Kim den Friedensnobelpreis.

Zwei Welten im Vergleich

NordkoreaSüdkorea
Bevölkerung21,1 Millionen45,5 Millionen
Fläche121.000 km299.000 km2
Pro-Kopf-Einkommen/Jahrkeine Daten10.800 Dollar
Armeebestand1,1 Millionen675.000
Milizen/Zivilverteidigung3,5 Millionen3,5 Millionen
Panzer/Kriegsschiffe3.000/302.500/45
Alphabetisierungsrate98 Prozent97 Prozent
Lebenserwartungkeine Daten73,2 Jahre


Aus: Freitag: Die Ost-West-Wochenzeitung 30, 18. Juli 2003


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