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Schußwechsel an der Grenze

Nord- und Südkorea bezichtigen sich gegenseitig der militärischen Provokation

Von Knut Mellenthin *

Nord- und Südkorea haben sich am Dienstag mit Artillerie beschossen. Einige Medien sprachen von einem der schwersten Zwischenfälle seit dem Krieg von 1950–1953. Beide Staaten machen sich gegenseitig für den Beginn des Schußwechsels verantwortlich. Die Regierung in Pjöngjang ließ durch die amtliche Nachrichtenagentur erklären: »Trotz unserer wiederholten Warnungen feuerte Südkorea seit 1 Uhr nachmittags (Ortszeit) Dutzende Granaten ab (…), und wir haben daraufhin sofort zu einer starken militärischen Reaktion gegriffen.« Später drohte der Oberkommandierende der nordkoreanischen Streitkräfte mit »gnadenlosen militärischen Angriffen ohne zu zögern, wenn der südkoreanische Feind es wagt, auch nur 0,001 Millimeter weit in unser Seegebiet einzudringen.«

Seoul behauptet hingegen, nordkoreanische Artillerie habe um 2.30 Uhr mit dem Beschuß der Küstengewässer begonnen. Einige Granaten seien auf der Insel Jeonpjeong eingeschlagen, wo sich ein südkoreanischer Flottenstützpunkt befindet. Dabei seien ein oder zwei Marinesoldaten getötet und drei weitere schwer verletzt worden. Außerdem seien mehrere Häuser zerstört worden. Südkorea habe das Feuer mit etwa 80 Artillerieschüssen erwidert.

Beide Darstellungen sind nicht ganz so gegensätzlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Die Seegrenze zwischen beiden Teilen Koreas wurde 1953 von der UNO, die unter der Dominanz der USA selbst Kriegspartei gewesen war, einseitig festgelegt. Dieser Grenzverlauf widerspricht allen internationalen Gepflogenheiten. Die Regierung in Pjöngjang hat die von der UNO willkürlich gezogene Linie niemals anerkannt und sieht die Grenze etliche Kilometer weiter südlich. Jeonpjeong befindet sich dieser Interpretation zufolge auf nordkoreanischem Territorium. Das umstrittene Seegebiet ist in südkoreanische Militärübungen einbezogen, die am Montag begannen und noch bis zum 30. November dauern sollen. Beteiligt sind 70000 Soldaten aller Waffengattungen. Südkorea hat zugegeben, daß dabei mit scharfer Artilleriemunition geschossen wurde, allerdings angeblich nur in Richtung Westen, also seewärts.

Die Regierung in Seoul trat nach dem Zwischenfall zu einer Sitzung in einem unterirdischen Bunker zusammen und drohte mit »strenger Vergeltung gegen alle weiteren Provokationen«. Die Streitkräfte wurden in höchste Alarmbereitschaft versetzt und zusätzliche Kampfflugzeuge an die Grenze verlegt.

Die Lage war ohnehin schon angespannt, nachdem US-Medien am Wochenende berichtet hatten, daß die Volksrepublik im Norden in Jongbjon eine Anlage zur Urananreicherung betreibt. Angeblich war die Einrichtung zwei amerikanischen Atomwissenschaftlern am 12. November vorgeführt worden. Diese hatten nach eigener Darstellung jedoch zunächst nur die Regierung in Washington unterrichtet. Nach Aussagen von Siegfried Hecker, Professor an der Stanford-Universität, sind in Jongbjon bereits 2000 Zentrifugen in Betrieb.

Wenn Heckers Bericht zutrifft, könnte Nordkorea rein theoretisch irgendwann auch waffenfähiges Uran produzieren. Ihre ersten Atomwaffen hatte die Volksrepublik aus dem Plutonium verbrauchter Reaktor-Brennstäbe hergestellt. Die Einladung an US-amerikanische Wissenschaftler zur Besichtigung der Anreicherungsfabrik würde allerdings nicht auf geheime militärische Absichten hindeuten, sondern wäre eher ein Anzeichen für Nordkoreas Interesse an einer politischen Verständigung. Washington lehnt die von Pjöngjang und Peking vorgeschlagene Wiederaufnahme der Sechser-Gespräche ab, solange die Volksrepublik nicht weitgehende Vorbedingungen hinsichtlich ihres Atomprogramms erfüllt.

* Aus: junge Welt, 24. November 2010


Spannungsfall

Von Roland Etzel **

Granaten sollen von Nord- nach Südkorea geschossen worden sein, zwei Soldaten sind tot. Die Klage ist groß und die Angst der Menschen vor Krieg verständlich. Die von der Regierung in Seoul geäußerte Empörung – in die der Westen unisono eingestimmt hat – wäre allerdings plausibler gewesen mit einer Antwort auf den Vorhalt des Nordens, die ersten Geschosse gestern seien von Süd nach Nord geflogen und erst dann auch umgekehrt.

Es ist ein Grenzzwischenfall, wie er nicht das erste Mal passierte in den vielen Jahrzehnten des Nichtfriedens an dieser letzten Grenze des kalten Krieges. Bei mancher Äußerung westlicher Politiker drängt sich allerdings der Eindruck auf, sie bewege weniger die Sorge um Frieden als der Gedanke an Bestrafung des Nordens. Dort, in der KDVR, hat man bisher zur Aufklärung nicht übermäßig beigetragen. Die sparsamen Verlautbarungen aus Pjöngjang zur Sache sind zur Deeskalation offenbar weder gedacht noch geeignet.

Der Schusswechsel hat aber eine politische Vorgeschichte, die nicht ausgespart werden kann. Lee Myung Bak, Präsident der Republik im Süden, hatte 2008 erklärt, dass es vorbei sei mit der »Sonnenscheinpolitik«, also der Annäherung an den Norden. Seitdem wurde der Ton schärfer, es kranken die gemeinsamen Wirtschaftszonen, und es regnet wieder Propaganda-Flugblätter über dem Norden. Das lässt Soldatenfinger am Abzug nervöser werden – egal, wer nun zuerst gefeuert hat.

* Aus: Neues Deutschland, 24. November 2010 (Kommentar)


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