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Männer in der Sonne und im Gras

Zehn Jahre Bürgerkrieg im Kongo sind zu Ende - jedenfalls auf dem Papier

Den folgenden Text haben wir der Wochenzeitung "Freitag" entnommen.


Von Anja Bengelstorff

Nur raus aus dieser gespenstischen Stille hoch über der Stadt, aber der Fahrstuhl kommt nicht. Im Halbdunkel vor dem Aufzug diskutieren zwei Männer mit gedämpften Stimmen, ihre Blicke auf die Fremden gerichtet. In den leeren, labyrinthartigen Gängen des Informationsministeriums hoch über Kinshasa stinkt es nach Urin und Agonie. Kein geschäftiges von-Büro-zu-Büro-Laufen, nirgends klingelnde Telefone oder Fax-Geräte. In den Treppenfluren brennt kein Licht, viele Stufen sind zerbrochen. Endlich Schritte, eine große Frau in wehendem bunten Kleid rauscht heran. Mit der flachen Hand schlägt sie kräftig gegen die geschlossene Tür des Fahrstuhlschachts. Plötzlich kündigt ein Surren den Aufzug an. Später sitzen auf der riesigen Terrasse vor dem Wolkenkratzer ein paar Männer in der Sonne. Von irgendwoher weht Lingala-Musik herüber. Der Kongo wartet.

Das Verwaltungshochhaus ist in der Cité de la Voix du Peuple das einzige mehrstöckige Gebäude weit und breit. Seit Amtseinführung der Übergangsregierung vor einigen Wochen residiert im 18. Stock das Informationsministerium. Journalisten warten hier in einem mit löchrigen grünen Sofas bestückten Büro unter der Aufsicht eines Angestellten, der in einer Bibel blättert, auf die Chance, eine Arbeitserlaubnis kaufen zu können. Die Höhe erlaubt einen wunderbaren Blick über die Stadt, das riesige Volksstadion, die grünen Freiflächen und Parks, die flachen Hütten der Kinoises und Kinois, der Einwohner von Kinshasa. Der Blick nach innen dagegen fällt ins Nichts: Büros mit schäbigen Tischen, auf denen ein einziger Bleistift liegt. Aktenregale mit Ordnern, auf deren Rücken die Beschriftung längst verblichen ist. Von aufgerissenen Decken hängen Kabel herunter, in der Wandverkleidung fehlen ganze Platten.

Der Angestellte im Journalisten-Office legt seine in Leder gebundene Bibel behutsam unter den Tisch und rückt mit der Nachricht heraus, der Direktor für Allgemeine Dienste komme erst in zwei Stunden, aber das Antragsformular könne man schon mitnehmen - 20 Dollar für zwei halbleere Blätter.

Das Ministeriums wirkt wie ein Abziehbild der gesamten Demokratischen Republik Kongo: Von weitem betrachtet ist das Riesenreich, beinahe so groß wie Westeuropa, mit Bodenschätzen wie Diamanten, Gold, Erdöl, Tropenhölzern und Mineralien reich gesegnet, und doch herrscht allenthalben bitterer Mangel. Der Kongo ist besonders während der vergangenen Jahre von den verschiedensten Paten gewaltsam ausgeplündert worden. Hinzu kam ein latenter Bürgerkrieg. 1994 trug ihn die flüchtige Hutu-Elite aus Ruanda in das Land, nachdem sie die Mitschuld am Tod von einer Million Menschen - Angehörigen der ruandischen Tutsi-Ethnie - auf sich geladen hatte. Nach Schätzungen starben im Kongo selbst im zurückliegenden Jahrzehnt 2,5 Millionen Menschen infolge der Kampfhandlungen, auf der Flucht, durch Hunger und Seuchen.

Keine Strafe Gottes, kein Fluch

Im Hospital St. Joseph an der Rue Limeté herrscht Andrang in der Ambulanz für Augenerkrankungen. Etwa 50 Eltern warten mit ihren Kindern auf Holzbänken vor einem einfachen Zweckbau, fertiggestellt von der deutschen Christoffel Blindenmission (CBM) mitten im Krieg. Die Vormittagssonne brennt. Es hat sich herumgesprochen, dass Augenärzte von der Universitätsklinik Rostock für eine Woche in Kinshasa praktizieren, um komplizierte Fälle von grauem Star bei Kindern zu operieren und bei früheren Aufenthalten schon behandelte Patienten zu untersuchen.

Die achtjährige Sarah kann ein Augenlid nur halb anheben: Wenn operieren, dann jetzt, entscheidet Professor Rudolf Guthoff vom deutschen Ärzteteam, damit das Auge sehen lernt. Georgette Mbanganas zwei kleinen Töchtern geht es sichtlich besser als beim vormaligen Besuch. Viel lebhafter seien die beiden tauben Mädchen nach der Katarakt-Operation, erzählt die Mutter, "sie können jetzt im Haushalt helfen." Einen Vater gibt es nicht mehr, der hat die 36-Jährige mit ihren fünf Kindern im Stich gelassen.

Bei einem von der Christoffel Blindenmission mitfinanzierten Projekt durchkämmt die Gemeindeschwester Astrid Mumwisis die ärmsten Distrikte Kinshasas, immer auf der Suche nach Kindern, die von ihren Familien vernachlässigt, versteckt, misshandelt werden. "Ein blindes Kind muss nicht blind bleiben", redet sie auf die Eltern ein, beschwört und bittet. "Ein blindes Kind kann dank einer Operation ein ganz normales Kind sein. Keine Strafe Gottes, kein Fluch." Reicht das Geld für eine Operation nicht, gibt die Mission den Rest dazu. In Deutschland kosten vergleichbare Behandlungen etwa 750 Euro.

Im Kongo müsste ein Augenarzt statistisch gesehen 1,34 Millionen Menschen behandeln - von den 41 Medizinern dieser Sparte des nationalen Gesundheitsdienstes praktizieren 26 nur in Kinshasa. So entfällt jede Prophylaxe, bei den meisten Augenerkrankungen müsste sie darin bestehen, für eine Vitamin A reiche Ernährung zu sorgen und bei Schwangeren eine Infektion mit Röteln oder Malaria zu vermeiden.

Warum von Joachim Mulebas acht Kindern drei blind geboren wurden, weiß er nicht. Der 50-Jährige kommt zur Begrüßung aus seiner Blechhütte nahe am Fluss, der regelmäßig über die Ufer tritt und seine kümmerliche Behausung wegschwemmt. Auf dem Arm trägt der Gelegenheitsarbeiter sein Jüngstes, ein Jahr alt, aber mit den Augen stimmt etwas nicht. Astrid Mumwisis, die Gemeindeschwester, erzählt von zwei Jungen aus der Nachbarschaft, die nach einer Augenoperation nun zum ersten Mal eine normale Schule besuchen könnten, Muleba bleibt skeptisch. Anfang der neunziger Jahre, "als noch Sese-Seko Mobutu regierte, das Reptil", wie sich Muleba erinnert, sei er erst Lehrer und dann sogar Aufseher in einer Fabrik gewesen. Leider habe er diesen Job bald verloren. Könnte er jetzt, unter der neuen Regierung, nicht wieder Schüler unterrichten? "Das lohnt sich nicht", winkt Muleba ab, "Gelegenheitsarbeit bringt nicht viel, aber immer noch mehr als ein Lehrergehalt."

Es gibt keine Jobs im Kongo, wo das Pro-Kopf-Einkommen 67 Dollar im Jahr beträgt. Ein halbwegs regelmäßiges Einkommen bringt wenigstens Mulebas Frau nach Hause, die auf dem Markt Gemüse verkauft. Und in Zukunft? "Da weiß ich nur", sagt Muleba kalt, "dass ich 60 Dollar Schulgeld im Jahr für die Kinder bald nicht mehr bezahlen kann."

Nur Gutes, einfach das Beste

Die Übergangsregierung ist nicht zuletzt das Verdienst des jungen Präsidenten, der vor zweieinhalb Jahren nach dem Attentat auf seinen Vater Laurent-Désiré Kabila dessen Amt übernommen hat. 2005 soll es Wahlen geben, würden sie heute abgehalten, dürfte Joseph Kabila mit großer Wahrscheinlichkeit wiedergewählt werden. Als er die Präsidentschaft übernahm, tat er etwas für seine Popularität und reiste durch das Land, fragte die Kongolesen nach ihren Wünschen, änderte die Währungspolitik und verlangsamte die Inflation, die zeitweise bis zu 7.000 Prozent betragen hatte. Man trug große und immer größere Stapel kongolesischer Francs nach Hause, und es reichte für zwei Tage. Eine ganze Generation von Kongolesen hat nie eine stabile Währung erlebt.

Kaum merklich bewegt sich etwas. Als im vergangenen Jahr die Friedensgespräche in Südafrika zu scheitern drohten, taten sich zum ersten Mal in Kinshasa Gruppen von Kongolesen zusammen und drohten den Abgesandten: Solltet ihr ohne Vertrag zurückkehren, kommt ihr nicht aus dem Airport heraus. Es funktionierte. Ausländische Investoren trauen sich wieder nach Kinshasa, auch wenn für innerkongolesische Darlehen der Nationalbank nach wie vor die Geldreserven fehlen. Die Hauptstadt wird regelmäßig mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff versorgt, allerdings liegt Kinshasa Tausende Kilometer vom Krisenherd Ituri im Nordosten und von der Region Nord-Kivu entfernt, in der die bisherigen Bürgerkriegsarmeen nach wie vor ihre jeweiligen Einflusssphären haben.

Zwei weitere Besuche im Informationsministerium kosten 100 Dollar, doch irgendwann hat Serge Mukenge Shabantu, der Direktor für Allgemeine Dienste, endlich eine Arbeitserlaubnis erteilt. Von sieben Arbeitstagen in Kinshasa sind noch drei übrig. Jovial empfängt der Direktor die Antragstellerin in einem Büro mit weichem Teppich und einem riesigen Aktenstapel auf dem Schreibtisch. Nur Gutes, einfach das Beste, solle die Journalistin schreiben über seine Regierung, antichambriert er mit der Attitüde des Bonvivants, der an den Genuss von Macht gewöhnt ist. Jetzt sei Frieden, und die einstigen Feinde säßen nun am gleichen Tisch. Dann winkt er seinen Gast hinaus.

Auf der Terrasse vor dem Hochhaus sitzen wieder Männer in der Sonne oder liegen im Gras. Andere schlendern zum nächsten Gebäude herüber. Der Kongo wartet.


Das Friedensabkommen

Nach monatelangen Verhandlungen unterzeichneten die kongolesische Rebellenformationen und die Regierung von Joseph Kabila im Dezember 2002 ein Friedensabkommen, das für maximal zweieinhalb Jahre eine interimistische Administration und danach allgemeine Wahlen vorsieht.

Wichtigste Vertragsparteien sind neben der Regierung das von Uganda unterstützte Mouvement de Libération du Congo (MLC) und das von Ruanda protegierte Rassemblement Congolais pour la Démocratie (RCD-Goma); neben diesen großen Formationen sind auch weniger bedeutende Gruppierungen wie das RCD-Mouvement de Libération, das RCD-National wie die Milizen der Mai-Mai eingebunden. Außerhalb dieses Konsenses stehen die Stammesmilizen der Hema und Lendu, die sich im Nordosten noch immer in einem latenten Guerillakrieg befinden.

Praktisch war der Kongo zuletzt dreigeteilt: Auf der einen Seite hatten Ruanda und die Rebellengruppe RCD den Osten besetzt, ugandische Truppen und die ihnen angeschlossenen Milizen des MLC den Norden - den Süden und Westen kontrollierte die Zentralregierung von Joseph Kabila, unterstützt von regulären Armeeeinheiten aus Simbabwe und Angola. Die vier Stellvertreter der Präsident Kabila, der gerade 32 Jahre alt ist, kommen aus den beiden großen Rebellenbewegungen und der politischen Opposition. Die 28 Ministerien wurden unter den Vertragsparteien aufgeteilt.


Aus: Freitag 45, 31. Oktober 2003


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