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"Viele wurden zu Opfern von Scheinprozessen"

In Kolumbien gibt es rund 9500 politische Gefangene, vorwiegend Studenten, Gewerkschafter, Bauern. Ein Gespräch mit Jhon Fredy León Gonzalez *


Jhon Fredy León Gonzalez ist Mitglied der Rechtshilfevereinigung »Corporación Solidaridad Jurídica« in der sozialen und politischen Bewegung »Marcha Patriótica« in Kolumbien. Er versucht, weltweit auf die Situation politischer Gefangener in Kolumbien aufmerksam zu machen.


In Havanna verhandeln die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und die kolumbianische Regierung über ein Friedensabkommen. Sprechen sie dort auch über die politischen Gefangenen in Kolumbien?

Auf der Tagesordnung für das Abkommen taucht das Thema »politische Gefangene« nicht als gesonderter Punkt auf. Ein Teil unserer Arbeit als soziale und politische Bewegung »Marcha Patriótica« besteht darin, die Notwendigkeit aufzuzeigen, darüber zu verhandeln. Wir denken, es kann kein Friedensabkommen geben, ohne das Problem der politischen Gefangenen in Kolumbien zu lösen – aller politischen Gefangenen, nicht nur der inhaftierten FARC-Mitglieder. Ein Punkt auf der Tagesordnung ist die Ausweitung der Demokratie in Kolumbien.

Wer sitzt in Kolumbien als politischer Gefangener im Gefängnis?

Einige waren Kämpfer in den Volksaufständen, die Mehrheit gehört aber den politischen Massenorganisationen an, die in verschiedenen Bereichen die Opposition im Lande stellen – der Studentenbewegung, den Gewerkschaften oder den Bauernorganisationen. In Kolumbien gibt es etwa 9500 politische Gefangene in rund 140 Haftanstalten, doch der Staat negiert ihre Existenz. Ihre Einkerkerung widerspiegelt die Verschärfung des politischen und bewaffneten Konflikts.Viele sind Opfer von Scheinprozessen geworden, allein deswegen, weil sie in Gebieten wohnen, in denen die bewaffnete Auseinandersetzung stattfindet. Sie werden dafür verurteilt, daß sie angeblich mit den Aufständischen kollaborieren und diese unterstützen.

Wie ist die Situation in den Gefängnissen?

Die Häftlinge sind zusammengepfercht, die Gefängnisse zu 40 Prozent überbelegt. Permanent werden grundlegende Rechte verletzt, manchmal wird sogar der Rechtsbeistand verweigert. Das Nationale Gefängnisinstitut INPEC und die rechten Paramilitärs arbeiten in den Gefängnissen zusammen. Die politischen Gefangenen werden mit Häftlingen in eine Zelle gesteckt, die den Paramilitärs oder der Mafia angehören. Das kann sie in gefährliche Situationen bringen. Ein weiteres Problem ist die Privatisierung der Gefängnisse, die gerade stattfindet. Die Verwaltung liegt dann nicht mehr bei den staatlichen Stellen, sondern wird an Dritte abgegeben. Um Kosten zu sparen, werden die Grundrechte noch weniger eingehalten.

Ist es nicht ein Widerspruch, daß sich das Kabinett auf der einen Seite als Regierung präsentiert, die Frieden will und den Verhandlungsprozeß vorantreibt, auf der anderen Seite aber Mitglieder sozialer Bewegungen inhaftiert?

Natürlich. In Kolumbien wirkt es so, als gäbe es gar keinen Friedensprozeß. Während die Regierung in Havanna über die Agrarreform verhandelt, unterdrückt sie in Kolumbien die Bauernorganisationen. Während sie in Havanna über die politische Partizipation diskutiert, werden die sozialen Bewegungen in Kolumbien kriminalisiert. Während sie auf Kuba von Frieden spricht, verfolgt sie in Kolumbien eine Politik der Wiederbewaffung gegen soziale Bewegungen, rüstet ihre Armee technisch auf und schafft einen Rechtsrahmen, um die Verfolgung der Opposition zu erleichtern. Die Regierung hat es geschafft, auf internationaler Ebene das Bild zu etablieren, sie sei demokratisch und wolle Frieden. Was in Kolumbien passiert, zeigt aber das Gegenteil.

Gibt es eine Bewegung gegen die politische Repression?

Wir haben auf nationaler und internationaler Ebene die Kampagne »Yo Te Nombro Libertad« (Ich rufe dich, Freiheit) für die Freilassung der politischen Gefangenen in Kolumbien gestartet. Sie soll in erster Linie die internationale Gemeinschaft auf deren Existenz aufmerksam machen und Mittel finden, um die Regierung so unter Druck zu setzen, daß sie sie freiläßt. Es gibt in Kolumbien übrigens auch eine Gefangenenbewegung, die die grundlegenden Forderungen der Inhaftierten vertritt.

Interview: Lena Kreymann

* Aus: junge Welt, Montag, 26. Mai 2014


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