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Brüchiger Frieden

Werner Hörtner hat ein Buch über die jüngste Geschichte Kolumbiens geschrieben

Von Gerd Bedszent *

Der seit Jahrzehnten in Kolumbien tobende Bürgerkrieg kostete etwa 220000 Menschenleben. In Europa machte er selten Schlagzeilen. Wenn überhaupt, wurde das Land als Hochburg der Drogenmafia geschildert. Das ist nicht falsch, aber nur die halbe Wahrheit.

Der österreichische Journalist Werner Hörtner gilt als ausgewiesener Experte für das Land. Er hat unter dem Titel »Kolumbien am Scheideweg« kürzlich sein zweites Buch über die jüngere Geschichte des süd­amerikanischen Staates veröffentlicht. Hörtner sieht in der ungerechten Landverteilung infolge der europäischen Eroberung im 16. Jahrhundert die strukturelle Ursache für die in den vergangenen Jahrzehnten ausufernde Gewalt. In Kolumbien habe sich dieses für Lateinamerika typische soziale Problem verschärft, da der zwischen Konservativen und Liberalen tobende Bürgerkrieg der »Violencia« (1948 bis 1957) zu massiven Vertreibungen und zu Landraub geführt habe. Aus ursprünglich von der Liberalen Partei gegründeten bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen formierten sich 1964 die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC). Sie näherten sich der Kommunistischen Partei an und bildeten deren bewaffneten Arm. Aus Überlebenden einer linken Studentenrevolte entstand 1965 zudem mit Unterstützung Kubas die Ejército de Liberación Nacional – die Nationale Befreiungsarmee (ELN). Zwei weitere später gegründete Guerillaorganisationen haben sich wieder aufgelöst.

Gesellschaft infiltriert

Hörtner schildert, wie es auf der Gegenseite zu einer Verschmelzung von konservativem Großgrundbesitz mit einer neureichen und besonders brutal agierenden Kaste von Drogenbaronen kam. Als deren bewaffnete Vollstrecker formierten sich paramilitärische Verbände, die vordergründig gegen die linke Guerilla, vor allem aber gegen Gewerkschaften, Bauernvereinigungen, linke Parteien und Nichtregierungsorganisationen vorgingen. Nebenher sicherten sie die Transportwege des in Kolumbien produzierten Kokains in Richtung USA.

Sie wurden von Teilen der Armee und Polizei unterstützt, so daß es nie zu einer wirksamen Bekämpfung der organisierten Kriminalität kam und größere Teile der kolumbianischen Gesellschaft infiltriert werden konnten. So schreibt Hörtner zum Beispiel zum Hintergrund der spektakulären Erschießung des Drogenbosses Pablo Escobar 1993: Dieser habe offen eine Separation der von ihm kontrollierten Region aus dem kolumbianischen Staat angestrebt und damit selbst in den Augen seiner heimlichen Gönner den Bogen überspannt.

Der Autor idealisiert die linken Guerillagruppen nicht. Er wirft ihnen unter anderem vor, durch die lange Zeit betriebenen Lösegelderpressungen von entführten Angehörigen der Oberschicht indirekt die Entstehung der Paramilitärs begünstigt zu haben. Allerdings wurde – wie Hörtner schreibt – der Aufbau paramilitärischer Verbände in Kolumbien durch US-Geheimdienste schon 1959 betrieben, als von einer linken Guerilla noch keine Rede sein konnte. Außerdem vertritt der Autor die Auffassung, daß die übergroße Mehrheit der im Bürgerkrieg begangenen Verbrechen zweifelsfrei auf das Konto der Paramilitärs geht. Da letztere jeden Bauern umbrachten, der auch nur im Verdacht stand, mit der Linken zu sympathisieren, konnten sie das Umfeld der Guerilla entscheidend schwächen und ihr die Kontrolle über verschiedene Regionen abringen. Deren Zerschlagung gelang jedoch nicht.

Kopfprämien für Guerilleros

Ein eigenes Kapitel ist der Kumpanei von in Kolumbien agierenden internationalen Konzernen mit den paramilitärischen Banden gewidmet: Chiquita, Nestlé, Coca-Cola … Die Geschäftsführungen finanzierten Paramilitärs, und diese beseitigten unliebsame Gewerkschaftsaktivisten. Beides hat selbstverständlich offiziell nichts miteinander zu tun.

Einen Großteil des Buches widmet Hörtner der Präsidentschaft von Álvaro Uribe Vélez (2002–2010), einem rechtsradikalen Hardliner, der sich als Saubermann gab. Er versprach, die Paramilitärs zu demobilisieren, mit der Guerilla aufzuräumen und den Bürgerkrieg zu beenden. Anhand zahlreicher Skandale weist Hörtner nach, daß Uribe bis über den Hals im Drogensumpf steckte und in ungezählte Verbrechen der Paramilitärs verwickelt war. Ein besonders schönes Beispiel: 2011 wurde bei einem Schlag gegen den Kopf der Drogenmafia auch die Nichte des nunmehrigen Expräsidenten festgenommen. Binnen kurzem verschwand sie spurlos aus der Haft, und mit ihr verschwanden auch sämtliche Akten zum Fall.

Uribe löste in seiner Regierungszeit zwar die meisten paramilitärischen Banden auf und lieferte mehrere Führer in die USA aus, wo sie wegen Drogenvergehen verurteilt wurden. Die Menschenrechtsverletzungen der Bandenchefs kamen vor US-Gerichten jedoch nie zur Sprache. Seinen Soldaten versprach Uribe Kopfprämien für getötete Guerilleros. Daraufhin gingen diese dazu über, völlig Unschuldige zu töten. Das Buch enthält ein besonders böses Beispiel, wie Militärs Arbeitslose unter falschen Vorspiegelungen anwarben und sie dann als im Gefecht gefallene Gegner präsentierten.

Uribe konnte 2010 aufgrund eines Gerichtsbeschlusses nicht zur Wiederwahl antreten. Sein Nachfolger Juan Manuel Santos entschloß sich zu einem moderaten Kurs und nahm Verhandlungen mit der Guerilla auf. Das Buch schließt mit der Hoffnung auf ein Ende des Bürgerkrieges. Nach Beendigung des Manuskripts wurde tatsächlich zwischen Regierung und FARC-Guerilla ein Vertrag abgeschlossen.

Der Autor weist in einigen Kapiteln darauf hin, daß der sich anbahnende Frieden ohne eine grundlegende Lösung der Landfrage brüchig bleibt. 2012 wurde ein entsprechendes Gesetz erlassen. Ob dessen Verwirklichung gelingt, ist derzeit noch offen. Für das Jahr 2012 gab das UN-Flüchtlingshilfswerk für Kolumbien die Zahl von 4,9 Millionen Binnenflüchtlingen an. 2011 besaßen 1,15 Prozent der Landeigentümer 52,2 Prozent des kultivierbaren Bodens.

Werner Hörtner: Kolumbien am Scheideweg. Ein Land zwischen Krieg und Frieden. Rotpunktverlag, Zürich 2013, 292 Seiten, 27 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 2. Juni 2014


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