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Kolumbien: Die Stille vor dem Schuss

In der Region Arauca kann viel über die "Neuen Kriege" gelernt werden

Von Raul Zelik*

Seit die Theorie über die »Neuen Kriege« kursiert, ist viel von der Asymmetrie bewaffneter Konflikte die Rede. Partisanen, Warlords und Terroristen, meint der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, würden den zwischenstaatlichen Charakter von Kriegen aufheben und für deren Verrohung sorgen. Ethnisch-religiöser Fanatismus und Wirtschaftsinteressen von Warlords bestimmten die Dynamik von Konflikten.

Das nordostkolumbianische Saravena empfiehlt sich zum Praxistest für derartige Analysen, denn über Arauca, der Region um die feucht-heiße Kleinstadt nahe der venezolanischen Grenze, lastet mehr als nur ein Schatten des kolumbianischen Bürgerkrieges. Allein in der Gemeinde Tame wurden seit 2002 fast 1.000 Menschen von Paramilitärs ermordet, bei gerade einmal 60.000 Einwohnern. Verglichen damit mutet augenblicklich die Lage in Saravena geradezu friedlich an. Zwar patrouillieren ständig Motorradstaffeln der Armee durch die Straßen, doch ist keine unmittelbare Bedrohung zu spüren. Die Stadt bietet – vom durch einen Bombenanschlag zerstörten Gemeindeamt abgesehen – ein gelassen idyllisches Bild, die Uniformierten greifen anders als vor anderthalb Jahren (s. Freitag 43/2003) nicht mehr bei jeder Bewegung hektisch nach ihren Gewehren.

Auf der Fahrt ins nahe gelegene Reservat der U´wa-Indígenas zeichnen sich am Horizont die Konturen des mehr als 5.000 Meter hohen Nevado de Cocuy ab, während Chicharra-Insekten in der Morgenhitze zirpen und Fliegenschwärme sich zu summenden Wolken ballen. »An dieser Stelle ist einmal die Öl-Pipeline gesprengt worden« – Felipe [1], ein U´wa-Indígena, deutet auf einen grauen, unbewachsenen Fleck am Rand einer Viehweide. »Da wächst drei Jahre lang nichts mehr«, er zuckt mit den Schultern. »Seit hier mehr Militärs als früher stationiert sind, gibt es allerdings kaum noch Anschläge.«

Dass dennoch in Arauca der Bürgerkrieg weiter köchelt, hat im wesentlichen drei Ursachen: Die Bevölkerung der Region hat aus eigener Kraft ein alternatives Sozialversorgungssystem aufgebaut, das die Regierung des Präsidenten Uribe offenkundig als Herausforderung wahrnimmt. Die strategisch wichtige Grenze zu Venezuela liegt nur wenige Kilometer entfernt – und es gibt in dieser Gegend beträchtliche Ölvorkommen. Die Guerilla, vorzugsweise die guevaristische ELN [2], attackiert seit bald zwei Jahrzehnten immer wieder Trassen und Förderanlagen. Es gab Jahre, in denen die vom Mannesmann-Konzern gebaute Pipeline Caño Limón- Coveñas bis zu 100 Mal gesprengt wurde – mit ernsten Folgen für die Umwelt.

Felipe ist sichtlich besorgt, weil demnächst weitere Ölvorkommen erschlossen werden sollen. »Oxy und Repsol wollen bei uns bohren – sollte es dazu kommen, werden wir sterben, so wie die Guahivos an der Lagune del Lipa.« Die Fischfanggebiete dieser indianischen Gemeinschaft sind schwer verseucht oder nicht mehr zugänglich, da mehrere hundert Quadratkilometer Oxy übereignet worden sind und die Armee dafür sorgt, dass Kolumbianer das Gelände der US-Firma nicht mehr betreten können.

Nicht zuletzt in deutschen Medien wird die Lage der Indígenas häufig als Indiz dafür gedeutet, dass Kolumbiens asymmetrischer Krieg zu einer fatalen Symmetrie zurückgekehrt sei, weil Paramilitärs, Armee und Guerilla gleichermaßen wenig Rücksicht auf die indianische Bevölkerung nähmen. Diese Lesart blendet nonchalant aus, dass sich beispielsweise die U´was weniger durch sporadisch aufflackernde Gefechte bedroht fühlen als den Verlust ihrer Lebensgrundlagen, die ein ganz profaner kapitalistischer Alltag zerstört.

Hinter jeder staatlichen Handlung lauert der Ausnahmezustand

Während Felipe noch über das Vordringen des spanischen Repsol-Konzerns klagt, wird der Krieg dann plötzlich doch sichtbar. Wie aus dem Nichts tauchen aus einem Waldstück plötzlich Bewaffnete auf. Nach einer Schrecksekunde scheint unser Fahrer sichtlich erleichtert, dass es sich nicht um Guerilleros handelt. Die Rebellen sind Ausländern gegenüber häufig noch viel misstrauischer als Regierungssoldaten. Und so lassen uns denn auch die Militärs schon nach wenigen Minuten passieren.

Ismael, ein U´wa-Führer, der 2003 die Vergewaltigung und Ermordung einer schwangeren Guahivo-Indígena durch Soldaten öffentlich gemacht hat, begleitet uns nach Saravena zurück und lässt durchblicken, dass er täglich mit seiner Festnahme rechnen müsse. Er fühle sich ausgeliefert, da die Soldaten nur auf eine günstige Gelegenheit warteten, um ihn zu verhaften. An seiner Lage wird ersichtlich, wie absurd feinsinnige Differenzierungen in der Debatte über »Neue Kriege« sind und der Realität widersprechen. Eine reguläre und irreguläre Kriegführung stehen sich in Kolumbien nicht gegenüber, sondern sind eng miteinander verflochten. Es ist so ähnlich, wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben beschrieben hat: Hinter jeder staatlichen Handlung lauert der Ausnahmezustand.

Dass man dank der Überlegungen Agambens zur Symbiose von Rechtsordnung, Gewalt und Unrecht einen Krieg wie den kolumbianischen weitaus besser versteht als mit Münklers Thesen von der Entstaatlichung bewaffneter Konflikte, offenbart der folgende Tag. Im »Haus der sozialen Organisationen« von Saravena grassiert der »Schrecken des Gesetzes«. Die Büros von Gewerkschaften und Bauernverbänden stehen leer. Die Vorsitzenden der Regionalsektion des Gewerkschaftsverbandes CUT, des Menschenrechtskomitees Joel Sierra, der Jugendorganisation ASOJER, der Krankenhausgewerkschaft ANTHOC sowie des Bauernverbandes ADUC sind ausnahmslos deportiert.

Alirio Martínez, der legendäre Kleinbauernführer Araucas, den ich hier während meiner letzten Reise traf, ist mittlerweile tot. Gemeinsam mit zwei Gewerkschaftern wurde er im August 2004 von einer Armee-Einheit unweit von Saravena standrechtlich erschossen (s. Freitag 35/2004). Kolumbiens Vizepräsident Francisco Santos rechtfertigte die Exekution zunächst als legitime Maßnahme im Anti-Guerilla-Kampf. Internationaler Druck erzwang wenig später Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Nun sitzen vier Soldaten wegen Mordverdachts im Gefängnis und gegen den Bataillonskommandeur läuft ein Disziplinarverfahren.

Juan Carlos Torregraza vom Menschenrechtskomitee Joel Sierra ist damit erkennbar zufrieden. Der aus Barranquilla an der Karibikküste stammende Anwalt harrt mit einigen wenigen im »Haus der sozialen Organisationen« aus. Er kam nach Saravena, als die Repressionswelle schon begonnen hatte, und wusste, worauf er sich einließ. Seit drei Jahren gönnt der kolumbianische Staat den sozialen Bewegungen Araucas keine Atempause. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt im August 2002 hatte Präsident Uribe über die Gemeinden des Departments den Ausnahmezustand verhängt. Dies wurde zwar vom Obersten Gericht für illegal erklärt, doch behinderte das die Verhaftungswelle der Armee nicht im Geringsten. Ende 2003 begann die Polizei außerdem, ganze Landstriche mit Herbiziden zu besprühen. Eine Operation, die sich – so Torregraza – keineswegs nur gegen Koka-Felder gerichtet, sondern auch zur Zerstörung von Plantagen geführt habe. Schließlich folgten das Massaker von Flor Amarillo sowie die Ermordung von Alirio Martínez und seiner Begleiter.

Auf meine Frage, wie eindeutig die Verbindungen zwischen den Sicherheitskräften und Todesschwadronen seien, erwidert Torregraza, es gebe für ihn überhaupt keinen Zweifel an einer Mitverantwortung des Militärs an den begangenen Verbrechen. »Wir sprechen von vier Straßenzügen in Saravena, in denen die Sicherheitskräfte jede Bewegung kontrollieren. Wenn Fremde auftauchen und Morde begehen – wie kann man das in einer Kleinstadt übersehen? Noch dazu, wenn Kolumbianer betroffen sind, die ein Armeekommandeur zuvor als Subversive beschimpft und im lokalen Radiosender als ›Guerilleros‹ bezeichnet hat?«

Der eigene verletzliche Körper und eine gewaltige Kriegsmaschine

In unser Gespräch platzt die Nachricht, dass Eduardo Sogamoso, der Vorsitzende der Jugendorganisation ASOJER, verhaftet worden sei. Am Vormittag hatte er noch mit uns gesprochen.

Ich begleite daraufhin die Menschenrechtlerin Antonia Restrepo, um beim zuständigen Armeeoffizier die Freilassung Sogamosos zu erwirken. Der Besuch auf dem Militärposten beginnt mit einer handfesten Überraschung: Unterwegs begegnen uns zwei in Zivil gekleidete US-Amerikaner, während dem Bataillonskommandeur ein US-Offizier assistiert, der sich als »Señor González« vorstellt. Der junge, zweisprachige Latino trägt ein Abzeichen der Airborne- Fallschirmspringer und hilft bei der Übersetzung. Zwar ist bekannt, dass die nordamerikanische Militärpräsenz in Kolumbien auch Saravena umfasst – Washington stellte gerade 100 Millionen US-Dollar zum Schutz der Pipelines zur Verfügung und lässt einheimische Truppenkontingente in Arauca trainieren – aber dass sich die Amerikaner so offen zeigen, verblüfft einigermaßen.

Ob die US-Hilfe für die Regierung Uribe auch dem irregulären Krieg gegen die sozialen Bewegungen zugute kommt, steht außer Zweifel. Wie das im Einzelnen geschieht, danach sollte man Bataillonskommandeur Medina jedoch besser nicht fragen. Der Coronel behandelt uns höflich, erhebt aber schwere Vorwürfe: Viele Journalisten erfreuten sich reger Kontakte mit der Guerilla, es gäbe NGOs, die vom Terrorismus infiltriert und eine Gefahr seien. Um uns »die ganze Wahrheit zu zeigen«, führt er auf seinem Laptop Fotos von Anschlägen vor. »Warum berichtet man in Europa nicht darüber?« Dass dies durchaus geschieht, will Medina nicht hören und winkt ab. Schließlich fällt der wie eine Drohung klingende Satz: »Die Menschenrechtsorganisationen müssen begreifen, dass ihnen die Menschenrechte nicht allein gehören.«

Nach drei Stunden verlassen wir mit dem ASOJER-Vorsitzenden Eduardo Sogamoso das Bataillon. Er ist tatsächlich – wie von Coronel Medina versprochen – nicht misshandelt worden.

Wieder stellt sich ein trügerisches Bild von Ruhe und Friedens ein, über der Savanne leuchtet ein orangefarbener Sonnenball, das Quaken von Kröten erfüllt den Abend, aber Sogamosos Erleichterung hält sich in Grenzen. Zum zweiten Mal in einer Woche ist er verhaftet worden, derartige »Feststellungen der Personalien« seien häufig erste Anzeichen für eine Deportation oder Schlimmeres, meint er.

Das wichtigste Merkmal der asymmetrischen Kriege, möchte man einem ihrer Apologeten wie Herfried Münkler erwidern, ist die Ohnmacht der Opfer – auf der einen Seite der eigene verletzliche Körper, auf der anderen eine gewaltige Kriegsmaschine.

[1] Name von der Redaktion geändert.
[2] Ejercito de Liberación Nacional


Chronik eines »Neuen Krieges«



Juli 1998 – Der kurz zuvor gewählte Präsident Andrés Pastrana trifft mit Manuel Marulanda erstmals einen Kommandanten des Guerilla-Verbandes Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC), um einen nationalen Versöhnungsdialog zu eröffnen und den Bürgerkrieg zu beenden.

November 1998 – Die Armee zieht sich aus einem 42.0000 Quadratkilometer großen Territorium zurück, das zur ersten »befriedeten Zone« erklärt wird. Die Einrichtung weiterer »Enklaven ohne Militärpräsenz« scheitert am Widerstand der Streitkräfte.

September 1999 – Die USA sagen der Regierung in Bogotá militärische und finanzielle Hilfen bis 2002 zu, um den »Drogenanbau und -handel gemeinsam zu bekämpfen«, wie es heißt. Alle Maßnahmen des Anti-Drogen- und Anti- Guerilla-Krieges werden im Plan Colombia zusammengefasst.

Januar 2002 – Die Verhandlungen zwischen der Regierung und der Guerilla der FARC sind endgültig gescheitert. Eine Vermittlung durch den UN-Sondergesandten James Lemovne bleibt erfolglos.

August 2002 – Die Amtseinführung des neuen Präsidenten Alvaro Uribe Vélez führt zu einem verschärften Anti-Terror- Kampf. Der Plan Colombia wird verlängert, der Bürgerkrieg mit unverminderter Härte fortgesetzt.

Dezember 2002 – Die Regierung Uribe verkündet offiziell einen Waffenstillstand mit den rechten Paramilitärs der Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) – bis Ende 2005 ist eine Demobilisierung von 15.000 Mann vorgesehen, die teilweise in die Streitkräfte eingegliedert werden sollen.

Oktober 2003 – Ein von Präsident Uribe angesetztes Referendum über 15 Änderungen der Verfassung, mit denen das politische System Kolumbiens erneuert werden soll, scheitert an zu geringer Wahlbeteiligung.

Januar 2005 – Alvaro Uribe bekräftigt seine Absicht, noch in diesem Jahr die politische Rehabilitierung der rechten Paramilitärs abzuschließen, ohne dass es zu einer strafrechtlichen Ahndung ihrer Verbrechen kommen soll.



* Aus: Freitag 19, 13. Mai 2005


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