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Schweres Erbe

Wenige Wochen vor ihrem Abtritt verschärft Kolumbiens Regierung ihre Angriffe auf Venezuela

Von André Scheer *

Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) soll sich am Donnerstag nach dem Willen der kolumbianischen Regierung mit der angeblichen Präsenz führender Aktivisten der Guerillaorganisationen FARC und ELN in Venezuela befassen. Dazu will Bogotá ein Dossier mit zehn Videos, den Aussagen von zwölf ehemaligen Guerilleros, rund 20 Fotoaufnahmen und Koordinaten von angeblichen Stützpunkten auf venezolanischem Staatsgebiet vorlegen.

Bereits am vergangenen Donnerstag hatte die Regierung des scheidenden Staatschefs Álvaro Uribe bei einer Pressekonferenz erklärt, sie verfüge über »Beweise« für die Präsenz der Guerilla in Venezuela. Zu den dort georteten Kämpfern gehörten auch Iván Márquez, der mutmaßliche Chef des Nordwest- und Karibikblocks der FARC, sowie der im vergangenen Jahr aus kolumbianischer Haft entflohene ELN-Kommandeur »Pablito«. Allerdings räumte die Regierung zugleich ein, daß es sich keineswegs um aktuelle Dokumente handele, sondern diese schon bis zu vier Jahre alt seien.

Venezuela reagierte auf die erneuten Anschuldigungen mit einem scharfen Dementi und rief seinen Botschafter zu Konsultationen zurück. Auch ein völliger Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Nachbarland wurde in Caracas nicht ausgeschlossen. Das jedoch war Beobachtern zufolge gerade das Ziel der erneuten Angriffe aus Bogotá. Erst am Mittwoch hatte der designierte Staatschef Juan ­Manuel Santos erste Schritte unternommen, um die angespannten Beziehungen zum Nachbarland zu normalisieren, indem er Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez zu seiner Amtseinführung am 7. August einlud. Auf die Pressekonferenz reagierte Santos verschnupft, vermied es aber, die noch amtierende Regierung offen zu kritisieren. Auch sein künftiger Vizepräsident Angelino Garzón sagte, man müsse die Entscheidungen der derzeitigen Regierung respektieren. Er kündigte allerdings zugleich an, Santos werde nach Wegen suchen, den direkten Kontakt zum Nachbarland wiederherzustellen, um die Beziehungen mit Venezuela zu verbessern. Vor allem wirtschaftlich trifft Kolumbien die Krise mit dem Nachbarland hart. Experten bezifferten die Exportausfälle kolumbianischer Unternehmen im Handel mit Venezuela allein in den vergangenen Monaten auf rund sechs Milliarden US-Dollar.

Kolumbiens Expräsident Ernesto Samper zeigte sich gegenüber dem Rundfunksender Caracol besorgt darüber, daß es offenbar ein Interesse daran gebe, den von Santos initiierten Prozeß einer Entspannung mit Venezuela zu behindern. Auch sein Nachfolger Andrés Pastrana kritisierte, daß die Regierung weniger als drei Wochen vor ihrem Ausscheiden Beweise präsentiere, über die sie seit mehr als sechs Jahren verfüge, die zuvor jedoch nicht einmal dem Beratenden Regierungsausschuß für auswärtige Beziehungen vorgelegt worden seien.

Der Vizepräsident der venezolanischen Gruppe im Lateinamerikanischen Parlament, Carolus Wimmer, bezeichnete die Vorwürfe aus Bogotá als »absurd und dumm«: »Die Regierung von Uribe sagt, daß sich Teile und Führer der FARC in Venezuela aufhalten und war sogar in der Lage, ihren genauen Aufenthaltsort zu ermitteln, aber in mehr als 50 Jahren ist ihr dies im eigenen Land nicht gelungen.« Für Venezuelas Regierung stellen die Angriffe aus Bogotá vor allem einen weiteren Versuch dar, die Situation im Vorfeld der Parlamentswahlen im September zu destabilisieren. »Der US-Imperialismus, die venezolanische Bourgeoisie und ihre Verbündeten in Kolumbien haben Angst vor einem Erfolg der Revolution, denn dieser könnte der Anfang vom Ende des Modells sein, das sie verfechten«, sagte Präsident Hugo Chávez.

Unterdessen hat sich der Erzbischof von Caracas, Jorge Urosa, am Dienstag geweigert, vor dem venezolanischen Parlament Stellung zu seinen Vorwürfen gegen die Regierung zu nehmen. Der Kardinal hatte dem Präsidenten und den Parlamentariern vorgeworfen, eine »marxistisch-kommunistische Linie« zu verfolgen und dadurch die Verfassung des Landes zu verletzen. In einem Schreiben an Parlamentspräsidentin Cilia Flores erklärte Urosa, die Bedingungen für einen »nutzbringenden Dialog« seien nicht gegeben. Diese wies das als »haltlose Ausrede« zurück. Urosas Sicherheit und der seinem Amt entsprechende respektvolle Umgang seien garantiert gewesen.

* Aus: junge Welt, 21. Juli 2010


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