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"Der Staat regiert immer noch mit Terror und Mord"

Gespräch mit Yuri Neira Salamanca. Über die Ermordung seines Sohnes durch eine Spezialeinheit der kolumbianischen Polizei, die Straffreiheit der Täter und die Hoffnung auf Frieden *




Was geschah am 1. Mai 2005?

Damals ist mein Sohn zusammen mit Hunderttausenden Menschen in Bogotá auf die Straße gegangen, um am internationalen Tag der Arbeit zu demonstrieren. Seit Jahren greift die Polizei diese Manifestationen an, damit die Leute nicht an ihr Ziel kommen. 2005 war das nicht anders. An der Kreuzung, an der sich Nicolas befand, mitten im Zentrum von Bogotá, gab es keine Ausschreitungen. Dennoch setzte die Polizei Tränengas ein, eine völlig überdimensionierte Menge sehr aggressiven Reizgases. Eine Gasgranate landete nahe bei Nicolas. Als das Gas austrat, konnte er nicht mehr atmen. Nicolas war 15 Jahre alt, 1,50 Meter groß, wog 40 Kilo und hatte Asthma seit seinem sechsten Lebensmonat. Er war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen, es kamen acht Männer der Esmad (Escuadron Movil Antidisturbios – d. Red.), die speziell für den Kampf trainiert sind, große, schwere Männer. Sie schnappten sich Nicolas, schlugen ihn auf den Kopf und zertrümmerten seinen Schädel, so daß er bewußtlos zu Boden fiel. Dann traten sie weiter auf ihn ein und brachen ihm Rippen und das Schulterblatt. Später leisteten die Polizisten keine erste Hilfe, statt dessen bildeten sie einen Kreis um ihn und ließen ihn mitten auf der Straße verbluten. Sie unternahmen keinen Versuch, sein Leben zu retten. Nach sechs Tagen im Koma starb Nicolas.

Wer ist die Esmad und warum haben die Polizisten das getan?

Die Esmad wurde am 24. Februar 1999 als eine Sondereinheit der Polizei gegründet. Heute verfügt sie über 12000 Männer und Frauen. Ihre Einheiten sind in allen wichtigen Städten des Landes stationiert, und sie haben mobile Trupps, die auf den Straßen von Bogotá oder den Landstraßen eingesetzt werden. Es handelt sich um Polizisten, aber sie agieren unabhängig vom Polizeiapparat, denn sie werden vom Verteidigungsministerium befehligt.

Die Esmad ist der repressive Arm des Staates. Immer, wenn sie auf Demonstrationen eingesetzt wird, gibt es Ausschreitungen in Bogotá. Das war auch damals 2005 nicht anders. Diese Polizisten brauchen keine Motive, es reicht, daß sich jemand auf einer Demonstration befindet. Ihre Absicht war zu zeigen, daß sie Mörder sind, daß sie umbringen können, wen sie wollen, selbst ein Kind wie an jenem Tag.

Gab es Zeugen?

Vor der Generalstaatsanwaltschaft haben Augenzeugen ausgesagt, aber einer von ihnen wurde bereits umgebracht. Acht weitere stehen unter Schutz, weil sie bedroht werden und auf sie bereits Attentate verübt wurden. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission hat die kolumbianischen Regierung aufgefordert, die Zeugen zu schützen. Aber trotz einer Vielzahl von Beweisen gegen die Polizei hat der zuständige Staatsanwalt, Luis Ernesto Orduz, nichts unternommen, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es scheint, daß ihn Gerechtigkeit nicht interessiert. Schon gar nicht, wenn es um Mitglieder der Polizei geht.

Weiß man, wer die Täter sind?

Wir haben die Namen und Dienstnummern von 20 Männern sowie zwei Zugführern und einem Befehlshaber ermittelt und der Staatsanwaltschaft übergeben, und wir haben einige Informationen aus den Polizeiberichten. Es gibt einen Polizisten der Esmad, der den Mord am Studenten Oscar Salas am 8. März 2006 an der Nationalen Universität miterlebt hat. Der Beamte hat den Dienst quittiert und gegenüber einer Gruppe von Anwälten und im Fernsehen ausgesagt. Er belastete z. B. einen Kommandeur der Esmad, Julio César Torrijos Devia, schwer. Demnach war Torrijos bei den Morden an Jhonny Silva und Oscar Salas dabei und hat eine weltweit verbotene Munition verwendet, die »Recalzada« (eine Tränengaskartusche, die mit Schießpulver und Glaskugeln gefüllt ist – d. Red.). Er sei der Anstifter dieser drei Morde gewesen, vor allem des Mordes an Nicolas. Dieser Kommandant wurde nicht vom Dienst suspendiert, sondern zum Polizeimajor befördert (Torrijos war Zugführer beim Esmad. Wegen des Todes von Nicolas Neira wurde er zunächst wegen Verletzung der Dienstaufsichtspflicht für zehn Jahre aus dem Polizeidienst entfernt; er konnte das Urteil jedoch erfolgreich anfechten und wurde dann zum Major befördert – d. Red.). Bei einer Polizeikontrolle (im Januar 2011 – d. Red.) wurden bei ihm 103 Kilo Kokain gefunden. Er befindet sich in Arrest und verhandelt gerade mit der Staatsanwaltschaft über einen Strafnachlaß.

Wir wissen also, wer sie sind, die Generalstaatsanwaltschaft weiß es und auch die Richter wissen, welche Polizisten und Polizeiführer in den Mord an Nicolas David verwickelt sind.

Was ist aus den Ermittlungen geworden?

Die Staatsanwaltschaft hat sich schützend vor die Polizei gestellt und wollte den Fall nicht bearbeiten. Es hat sich nichts getan, und in diesem Jahr haben wir eine Aktion gemacht. Die Mutter von Oscar Salas und ich haben uns am Eingang zur Generalstaatsanwaltschaft angekettet. Wir haben erreicht, daß wir angehört wurden. Und da viel Presse da war, kam Bewegung in die beiden Fälle. Ohne solche Aktionen lägen die Akten bei Orduz noch immer herum, was ich wörtlich meine: Sie lagen dort die ganze Zeit auf dem Fußboden. Aber jetzt sind sieben Jahre vergangen und das erlaubt uns nach internationalem Recht, die Interamerikanische Kommis¬sion für Menschenrechte CIDH anzurufen und dort zu erklären, daß es im Fall von Nicolas Straflosigkeit in Kolumbien gibt. Das haben wir getan.

Waren Sie schon vor Nicolas‘ Tod als Menschenrechtsverteidiger aktiv?

Ich hab mich nicht schwerpunktmäßig mit Menschenrechten beschäftigt, aber oft mit Nicolas über dieses Thema gesprochen und ihn auf diesen Weg gebracht. Deshalb fühle ich mich auch moralisch mitverantwortlich für seinen Tod. Ich habe ihm sozusagen beigebracht, sich für Menschenrechte zu interessieren, an andere zu denken, und da seine Eltern Arbeiter sind, hatte er beschlossen, an der Maidemonstration teilzunehmen. In Wirklichkeit ist Nicolas der Aktivist. Er wurde Anarchist, er machte beim Schwarzen Block, den »Schwarzen Fahnen« mit. Mit seiner Ermordung habe ich die Fahne von ihm übernommen.

Warum kann die Esmad so unkontrolliert agieren?

Niemand konnte sie identifizieren, weil sie sich vermummt haben. Als sechs Jahre nach dem Mord an Nicolas Dienstnummern eingeführt wurden, haben viele von ihnen diese Nummern getauscht oder falsche verwendet, damit sie nicht identifiziert werden können. So konnten sie ungestraft ihre illegalen Aktionen durchführen.

Aber auch die Aufsichtsstellen unternehmen nichts. Wenn sich z. B. jemand über die Taten der Esmad bei der Ombudsstelle für Menschenrechte beschwerte, geschah nie etwas. Der Ombudsmann für Menschenrechte wird in Kolumbien paradoxerweise vom Staatspräsidenten ernannt und der ernennt nur einen Freund. Der wird nicht die Rechte der Bevölkerung vertreten, sondern die der Regierung und der Eliten. Es gab sehr viele Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei in der Zeit, in der Vólmar Pérez staatlicher Ombudsmann für Menschenrechte war (von 2003 bis August 2012 – d. Red.). Er wurde von Expräsident Álvaro Uribe Veléz ernannt.

Ähnliches gilt für die Staatsanwaltschaft. Dort gibt es niemanden, der den Mut hat, gegen die Polizei zu ermitteln. Denn die Staatsanwälte werden von der Polizei beschützt. Eine Form, für diesen Schutz zu bezahlen, ist, nicht gegen sie zu ermitteln. Wurde doch einmal damit begonnen, endeten unter dem extrem rechten Generalstaatsanwalt Alejandro Ordóñez Maldonado alle Untersuchungen höchstens in einer milden Strafe. Die Esmad fühlt sich gut geschützt, weil sie weiß, daß die Behörden niemals ernsthaft gegen sie ermitteln.

Woher kommt die Zahl von 50 Menschen, die von der Esmad ermordet worden sein sollen? Warum hat es keine Untersuchungen gegeben?

Die Zahlen kommen aus der Presse. Wenn es zum Beispiel in Medellín eine Demonstration gibt und die Medien schreiben, daß es dabei einen toten Studenten gab, registrieren wir das. Die Presse verschleiert zwar viel und dasselbe gilt für die Rechtsmedizin, die etwa behauptet, der Betreffende sei an den Folgen eines Sturzes gestorben. Sie sagen nie, daß jemand durch einen Schuß starb, durch einen Querschläger oder durch eine Tränengaskartusche, die ihm in den Magen geschossen wurde. Aber wir haben die Daten durch unsere eigenen Untersuchungen. Es gibt Me¬dienberichte, es gibt Webseiten wie die von MOVICE (kolumbianische Organisation für die Opfer staatlicher Gewalt – d. Red.) oder dem Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo. Immer wenn die Esmad eingesetzt wird und es Tote gibt, wissen wir, warum. Aus allen diesen gesammelten Berichten wissen wir, daß über 50 Personen von der Esmad ermordet worden sind.

Ein Problem ist, daß die Angehörigen keine Anzeige erstatten wollen. Sie werden sofort bedroht oder lassen sich auf einen Deal ein. Die Polizei ruft an und erklärt, die Leute sollten keinen Ärger machen: Keine Presse, keine Anwälte. Da heißt es: »Wir zahlen soundso viele Millionen Pesos Entschädigung. Wenn Sie die Presse informieren oder öffentlich darüber reden, zahlen wir gar nichts oder Sie kriegen Ärger mit uns.« Viele bedrohte Menschen sind in mein Büro gekommen, um mich zu informieren. Die Polizei macht ihre Arbeit gut – wenn es um Drohungen geht. Deshalb wollen die Leute nicht reden, wollen keine Anzeige erstatten.

Was wollen Sie erreichen? Sollen die Täter bestraft werden?

Ich will die Wahrheit wissen: Wer hat ihn umgebracht? Warum wurde er umgebracht? Wer hat den Befehl gegeben, Demonstranten zu ermorden? Wie viele Behördenvertreter wissen von diesen Morden und sitzen weiter an ihrem Schreibtisch? Wie viele Funktionäre wissen von diesen Morden oder gaben den Befehl und bekamen dafür Orden oder Privilegien? Das ist ein Teil meines Kampfes. Mit meiner Arbeit will ich auch erreichen, daß die Esmad komplett aufgelöst wird.

Ich strebe eigentlich keine Bestrafung an. In Kolumbien werden 90 Prozent der kriminellen Taten nicht verfolgt bzw. bleiben die Täter straffrei. Da ist es sehr schwer, so etwas zu fordern. Entschädigung? Das ist unmöglich. Wenn sie mein Haus abbrennen, können sie mir ein anderes geben. Aber wenn mein einziger Sohn ermordet wird, wie wollen sie mich da entschädigen? 100 Pesos? Eine Million Pesos? Hundert Millionen Pesos? Das kann man nie wiedergutmachen.

Außerdem will ich Leben retten. Ich konnte das Leben meines einzigen Sohnes nicht retten, also versuche ich, die Leben von anderen zu retten, von Kindern, Jugendlichen, Bauern, Indigenen. Ich versuche, ihnen wichtige Informationen und juristische Möglichkeiten zu vermitteln. Ich habe ihnen immer gesagt, daß ich für sie eine Waffe, das Denken, habe. Und ich gebe ihnen Munition, ihr Herz. Wenn sie diese Waffe verwenden, werden wir gewinnen. So sehe ich meine Aufgabe mit der Stiftung Nicolas Neira, mit der Nationalen Opfervereinigung und gemeinsam mit Tausenden Kolumbianerinnen und Kolumbianern, die auf Frieden hoffen und darauf, daß es keine mörderische oder repressive Polizei mehr gibt.

Wie waren die Reaktionen von Staat und Polizei auf Ihre Tätigkeit und die Ihrer Stiftung?

Sie haben so reagiert wie sie es gelernt haben: 25 willkürliche Festnahmen mit Folter, vier Attentate, eine Razzia, zwei Exile. Und Hunderte telefonische und schriftliche Drohungen. Das ist die normale und typische Reaktion der kolumbianischen Polizei. Und das ist nicht nur mir so ergangen. Alle Menschenrechtsverteidiger haben dieselbe Antwort der Polizei erhalten. Werden allerdings internationale Organisationen eingeschaltet, bieten die Behörden Kolumbiens Schutz an und präsentieren sich vor der Weltöffentlichkeit als die Besten. Doch ihre Taten und unsere Untersuchungen haben gezeigt, daß das Irreführung ist. 2011 wurde z. B. ein 15jähriger Sprayer in den Rücken geschossen, einen anderen haben sie angezündet. In Bogotá werden Jugendliche wegen eines Irokesenhaarschnitts, wege kaputter Hosen oder Piercings festgenommen und geschlagen. Ein Polizeigeneral, der drei Jahre lang der Sicherheitschef von Präsident Uribe war, hat gerade gestanden, jahrelang für die Paramilitärs gearbeitet zu haben.

Hat sich unter dem neuen Präsidenten Juan Manuel Santos Calderón etwas geändert?

Ja, aber nur in der Sprache, in der Form des Dialogs. Präsident Uribe behandelte die Bevölkerung wie Vieh oder wie die Angestellten seiner Farm. Der neue Präsident ist ein anderer Typ. Er ist wohlerzogen und höflich, aber er führt das Land auf ähnlich repressive Weise. MOVICE hat gerade eine Bilanz über das erste Jahr von Santos als Präsident veröffentlicht. Daraus geht hervor, daß sich die Situation nicht wirklich verändert hat. Es herrscht ein anderer Ton, das Erscheinungsbild ist neu, aber der Staat regiert immer noch mit Terror und Mord.

Nun gibt es das neue Landrückgabegesetz, außerdem sind Friedensverhandlungen mit den Guerillaorganisationen geplant. Wie denken Sie darüber?

Sowohl das Opfergesetz als auch das Landrückgabegesetz sind große Schritte, weil anerkannt wird, daß es überhaupt einen Konflikt gibt. Allerdings wurden viele Hürden errichtet, um zu verhindern, daß jemand tatsächlich sein geraubtes Land zurückerhält. Zum Beispiel gibt es jetzt offiziell keine Paramilitärs mehr, sondern sie heißen jetzt »Bacrim«, was »kriminelle Banden« bedeutet. Die Behörden sagen also zu den Leuten: Ihr könnt das Land nicht wieder haben, denn es wurde nicht von Paramilitärs – wie es das Rückgabegesetz vorsieht –, sondern von Kriminellen enteignet.

Über den Frieden zu sprechen ist sehr wichtig, denn wir befinden uns schon seit mehr als fünf Jahrzehnten im Krieg. Das kolumbianische Volk ist müde, es wird Zeit, ihn zu beenden. Wir müssen dazulernen, denn unsere Generation und die vor uns haben immer nur im Krieg gelebt, kennen den Frieden nicht. Wir alle hoffen, daß er erreicht wird.

Denken Sie, daß das mit diesen Verhandlungen möglich ist?

Wir schaffen es, wenn es den politischen Willen und soziale Gerechtigkeit gibt. Man darf nicht vergessen: Es gab bereits drei Friedensprozesse, die gescheitert sind, weil sich die Regierung oder die Armee nicht an die Vereinbarungen gehalten haben. Sie haben kein Interesse, denn Krieg ist stets auch ein gutes Geschäft sind. Im Frieden funktioniert die ganze Militärökonomie nicht mehr. Dazu kommen ausländische Interessen. Aber die sozialen Organisationen und das Volk wollen Frieden. Ich persönlich hoffe, daß vielleicht bald entsprechende Verträge unterzeichnet werden. Aber der Weg wird sehr weit sein, denn es müssen sich viele kulturelle, politische und soziale Verhaltensweisen ändern.

Sie leben im Exil. Wie soll es weitergehen?

Ich lebe im Ausland, weil ich das alles sage. Und öffentlich mache, daß die Polizei mordet, weil ich nachweise, daß es Straflosigkeit für Täter gibt, Paramilitärs und keinen politischen Willen, den Fall von Nicolas zu lösen. Ich prangere öffentlich an, daß Staatsanwalt Orduz sein Gehalt nicht verdient, weil er seine Arbeit nicht macht.

Deswegen bin ich in Kolumbien bedroht worden und ich mußte zum zweiten Mal das Land verlassen, um mein Leben zu retten. Aber eines ist klar: Ich werde zurückkommen. Ich weiß nicht wann, am liebsten schon morgen. Ich hoffe, noch in diesem Jahr bei meinen Leuten zu sein, sonst spätestens im Januar oder Februar 2013. Klar ist, daß ich weiter anklage, solange es keine Gerechtigkeit gibt.

* Yuri Neira Salamanca ist in Menschenrechtsorganisationen Kolumbiens aktiv. Seit einem Attentat auf ihn, lebt er im spanischen Exil. Sein 15jähriger Sohn Nicolas wurde am 1. Mai 2005 in Bogotá von Mitgliedern einer Spezialeinheit der Polizei zu Tode geprügelt.

Interview: Darius Ossami

Aus: junge Welt, Samstag, 29. September 2012


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