Kolumbien: Der lange schmutzige Krieg
Ein Hintergrundbericht über die Ursachen der Gewalt
Nachfolgende Analyse wurde vor der Präsidentschaftswahl im Mai 2002 geschrieben. Inzwischen ist der parteilose rechtskonservative Álvaro Uribe, der den paramilitärischen Milizen sehr nahe steht, als Sieger aus der Wahl hervorgegangen. Eine Zunahme der innergesellschaftlichen Konflikte und der bewaffneten Gewalt ist das Einzige, was im Moment mit relativer Sicherheit zu prognostizieren ist.
Als am 27. Mai 1964 die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Fuerzas Armadas
Revolucionarias de Colombia) gegründet wurden, waren sie die Antwort auf die
fortwährenden Aggressionen der kolumbianischen Oligarchie gegen die sozialen und
gewerkschaftlichen Bewegungen in dem südamerikanischen Land; keineswegs aber
waren die FARC der Ausgangspunkt einer Welle der Gewalt, die das Land seit Langem
durchzieht.
Wer sich für die Geschichte der politischen Auseinandersetzungen in Kolumbien interessiert,
kommt nicht umhin weiter zurückzugehen. Weiter noch als bis zum Mord am
Präsidentschaftskandidaten der Liberalen, Jorge Eliécer Gaitán am 9. April 1948 in der
Hauptstadt Bogotá. Eine erstklassige Beschreibung der Auseinandersetzungen des frühen
20. Jahrhunderts lieferte Gabriel García Márquez in seinem Roman "Cien Ańos de Soledad"
(Hundert Jahre Einsamkeit), in dem er unter Anwendung des "Magischer Realismus" genannten
lateinamerikanischen Literaturprinzips die Entwicklung der Klassenkämpfe am Beispiel einer
Siedlerfamilie durch mehrere Generationen schildert.
Aufgegriffen werden muss zunächst der Kampf des "Libertador" Simón Bolívar um die Befreiung
der nördlichen Andenstaaten von der spanischen Kolonisation. Nach seinem endgültigen Sieg
1821 in Venezuela erobert Bolívar im gleichen Jahr auch Bogotá und proklamiert als Präsident
den Staat Großkolumbien, der aus Venezuela und Neu-Granada (etwa die heutigen Staaten
Kolumbien und Panama) bestand. Nach der Befreiung des Vizekönigreichs Quito (heute Ecuador),
Perus und Hoch-Perus (heute Bolivien) im Jahr 1824 will Bolívar seine Vision der Einheit
Lateinamerikas durchsetzen, scheitert aber an internen Widerständen und den
sozioökonomischen Strukturen. Großkolumbien zersplittert 1830 und die neugegründete
Konservative Partei sorgt mit ihrer strikt zentralistischen Politik zunächst für die Verteidigung
der Besitztümer von Kirche und Sklavenhaltern. Verteidigerin der Rechte der armen
Landbevölkerung wird die Liberale Partei, die fast die gesamte zweite Hälfte des
19. Jahrhunderts herrscht, nach ihrer Ablösung durch die Konservativen 1886 jedoch brutal
verfolgt wird. Die Auseinandersetzungen führen zu einem klassischen Zwei-Parteien-System,
das bis heute anhält. Als Folge der inneren Schwäche nach dem Bürgerkrieg 1899 verliert
Kolumbien 1903 die Provinz Panama. Nach mehr als vierzigjähriger Herrschaft der Konservativen
übernehmen 1930 wiederum die Liberalen, die eine dezentralistische Politik verfolgen, die Macht.
1936 wird der erste ernsthafte Versuch einer Landreform durchgeführt. Das "Gesetz 200" der
Liberalen Partei ist Folge von Landbesetzungen von Bauern und Indianern mit der Unterstützung
der im Juli 1930 gegründeten Kommunistischen Partei (PCC), mit denen ein Bruch mit dem
Großgrundbesitzermodell durchgesetzt werden sollte.
Der Ursprung der Gewalt
Dass fast alle Regierungswechsel durch Wahlen zustande kamen und Staatsstreiche die
Ausnahme blieben, bringt Kolumbien bis heute den Ruf der "ältesten Demokratie Lateinamerikas"
ein. Diese Sicht aber nimmt weder die Umstände des Zustandekommens von Wahlergebnissen
noch die jeweils brutale Unterdrückung der politischen Gegner und insbesondere des Landvolkes
zur Kenntnis. Höhepunkt ist der Bürgerkrieg 1948, als im sogenannten "Bogotazo" Jorge Eliécer
Gaitán, als Rechtsanwalt Verteidiger von Arbeitern und Bauern, ermordet wurde. Der
Präsidentschaftskandidat der Liberalen Partei zog sich in dem Maße den Hass der Oligarchie, die
in den Führungsgremien beider großer Parteien vertreten war, zu, wie er im Volk sozialistischen
und antiimperialistischen Ideen Raum gab. Seine Ermordung durch die Oligarchie zog ab 1948
eine Epoche nach sich, die in Kolumbien kurz und treffend als "Violencia" (Gewalt) bezeichnet
wird. Hier liegt der Ursprung der paramilitärischen Todesschwadrone, die von den
Großgrundbesitzern als Privatarmee zur Vertreibung der Bäuerinnen und Bauern von deren
Ländereien eingesetzt wurden und bis heute verantwortlich für zahlreiche Massaker unter den
Landarbeitern sind. Und hier liegt auch der Ursprung des organisierten und infolgedessen auch
bewaffneten Widerstands der Bäuerinnen und Bauern, nachdem Teile der Liberalen sowie die
Kommunistische Partei 1949 zur Organisierung der Volksverteidigung aufgerufen hatten. Es galt
die These der PCC, dass gegen die terroristische "Blut-und-Feuer"-Politik der Regierung die
organisierte Selbstverteidigung der Massen stehen müsse. Es bildeten sich bewaffnete Gruppen
aus der Basis der Liberalen und aus der PCC, d. h. liberale und kommunistische Guerillas, die
Vorläufer der heutigen Guerillas sind. Das Militär des konservativen Präsidenten Ospina ging hart
gegen die Bauernorganisationen vor, der Stützpunkt Davis wurde 1953 bombardiert. Die
Grundlage für diesen Krieg gegen das eigene Volk hatten die Konservativen auf der
9. Panamerikanischen Konferenz 1948 in Bogotá gelegt, als im Zeichen des begonnenen Kalten
Kriegs die Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) gegründet wurde und die
antikommunistische Strategie der "Kontinentalverteidigung" begründet wurde.
Diktatoren und Pentagon gegen das Volk
Am 13. Juni 1953 riss der General Rojas Pinilla die Macht an sich und versprach, die "Violencia"
zu beenden. Der Waffengebrauch sollte allein dem Staat vorbehalten sein, weshalb
Verhandlungen zur Reintegration der bewaffneten Gruppen geführt wurden. Weite Teile der
liberalen Guerilla, deren Kampf mehr von parteipolitischen als von systemüberwindenden
Erwägungen geprägt war, legten die Waffen nieder. Der Diktator hielt seine Versprechen nicht,
viele Guerilleros wurden trotz einer Amnestie erschossen und Rojas verbot die Kommunistische
Partei.
Unruhen im ganzen Land und das erneute Anwachsen der Guerillabewegung zum Teil auch von
Seiten der Liberalen führen 1957 zum Sturz des Diktators Rojas, nachdem auch die Führungen
der Konservativen und der Liberalen Partei ihre Interessen nicht mehr vertreten sahen. Sie
vereinbarten, sich in der Ausübung der Macht alle vier Jahre abzuwechseln; wieder wurde eine
Amnestie für die bewaffneten Gruppen ausgerufen, aber der damit verbundenen Niederlegung
der Waffen schlossen sich die kommunistischen Guerillas nicht an. Die Präsidentschaft von
Alberto Lleras richtet die Aggressionen der Oligarchie unter Zuhilfenahme einiger liberaler
Gruppen nun gegen die 1955 gegründete selbstverwaltete Zone Marquetalia. Aus anderen
liberalen Gruppen entstand die Revolutionäre Liberale Bewegung (MRL), die zunächst der
Kommunistischen Partei und der kubanischen Revolution nahe stand. Unter anderem aus ihr ging
1965 das Heer zur Nationalen Befreiung (Ejército de Liberación Nacional) hervor.
Mit der Ausrufung des "Plan LASO" (Latin-American Security Operation) durch das Pentagon
wird im Mai 1964 auch der Startschuss zum Angriff des Militärs auf Marquetalia gegeben, das als
agrarisch-politisches Projekt immer einflussreicher wurde. Erstmals geht das Militär unter
Präsident Guillermo León Valencia mit der Strategie eines langandauerndes Krieges und
entsprechender Ausrüstung gegen die Selbstverteidigung der Bauern vor, nachdem diese
wiederholt paramilitärische Angriffe zurückschlagen konnte. Wenige Tage nach Beginn des
Angriffs, dessen Dauer kurz sein sollte, der aber bis heute nicht abgeschlossen ist und jedes
Jahr etwa 30 000 Kolumbianerinnen und Kolumbianern das Leben kostet, werden aus den
verschiedenen Selbstverteidigungsgruppen die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens
gegründet, die sich 1982 mit der wachsenden militärischen Stärke den Namenszusatz
"Volksheer" (Ejército del Pueblo) gaben. Heute sind die FARC-EP die bedeutendste Guerilla
Lateinamerikas.
Legale Opposition und bewaffneter Kampf
Der Rückenwind der Kubanischen Revolution brachte der unbewaffneten Linken wie den
Gewerkschaften in den Sechziger- und Siebzigerjahren größeren Einfluss in der Arbeiterschaft in
den Städten und bei Intellektuellen. Der 1966 stattgefundene 10. Parteitag der PCC
berücksichtigte die neue Situation in Kolumbien, die nicht mehr nur von der Selbstverteidigung
und der Rückkehr der Vertriebenen auf ihr Land geprägt war, sondern von der Erkenntnis vieler,
dass der Kampf gegen Großgrundbesitzer und Regierung aufgrund deren Intoleranz prinzipiell
antiimperialistischer und antilatifundistischer Natur sein musste. Gegen die Ungerechtigkeit und
für die Demokratie zu kämpfen, bedeutete die Orientierung auf eine Kombination aller Formen
des Massenkampfes, unter ausdrücklichem Einschluss der bewaffneten Form. Gleichzeitig vollzog
sich unter dem internationalen Einfluss auch in Kolumbien die Abspaltung von Teilen der PCC, die
zur Gründung der maoistischen PCC-ML und deren bewaffnetem Arm "Volksbefreiungsheer"
(Ejército Popular de Liberación) führte. Teile des EPL gaben später den bewaffneten Kampf auf,
andere gruppierten sich in paramilitärische Verbände ein; Restverbände des EPL bilden heute
nach dem ELN die drittgrößte Guerilla Kolumbiens.
Unter der Regierung von Präsident Belisario Betancur beschließen die FARC-EP und andere
Guerillagruppen im "Abkommen von Uribe" 1984 einen Waffenstillstand und gründen mit der
"Unión Patriótica" eine politische Partei, die sogleich Hunderte Abgeordnete stellten konnte. Die
Reaktion der herrschenden Klasse Kolumbiens war die Ermordung von 3 500 Mitgliedern der UP,
was von Seiten der Guerilla den Zusammenschluss von FARC-EP, ELN, EPL, PRT, M-19 (einer
Stadtguerilla, die sich in den Siebzigerjahren aus den Resten der Alianza Nacional Popular des
Ex-Diktators Rojas gebildet hatte und später für ihre Integration in den Staatsapparat mit
Ministerposten belohnt wurde) und weiteren kleinen Guerillas zur zeitweiligen Guerillakoordination
Simón Bolívar (CGSB) zur Folge hatte. Trotz des schmutzigen Kriegs gegen die Linke kam es
immer wieder zu gewerkschaftlichen Aktionen und politischen Streiks. 1990 wurden auf Geheiß
der Rechten gleich drei Präsidentschaftskandidaten - der Liberalen, der UP und von M-19 -
ermordet. Der auf diese Weise ohne Gegenkandidat gewählte Präsident César Gaviria ließ am
9. Dezember 1990 den Hauptsitz der FARC-EP inmitten von Friedensverhandlungen angreifen;
Gegenaktionen von FARC-EP, ELN und Resten von EPL zwangen den Staat zu erneuten
Verhandlungen, die ergebnislos blieben, da die staatliche Strategie der Unterstützung und
Ausrüstung der paramilitärischen Todesschwadrone, die sich zynisch "Vereinigte
Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens" (Autodefensas Unidas de Colombia) nennen,
ungebrochen fortgeführt wurde. Ihre Aufgabe blieb die Vertreibung von Bauern zugunsten der
Großgrundbesitzer, jetzt aber mit einem zweiten Ziel: der Unterbindung von Unterstützung für
die Aufständischen, weswegen das Militär immer offener mit den AUC zu paktieren begann. Die
Zahl der von ihrem Boden vertriebenen Kolumbianer lag zwischen 1985 und 1994 bei 700 000, im
UN-Menschenrechtsbericht wurde für das Jahr 2000 von über zwei Millionen gesprochen. Die
Betroffenen sind hauptsächlich Schwarze und indianische Ureinwohner.
"Kolumbienplan" für die Hegemonie
Entgegen der - durch nichts als ihre eigene Ideologie gespeiste - Erwartung der US-Regierung,
dass die kolumbianische Guerilla mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers
verschwinden werde, erreichten die FARC aufgrund ihrer wachsenden Stärke international den
Status einer kriegführenden Partei. Stadtmilizen wurden aufgebaut, und das Pentagon sprach
von der ernsten Gefahr eines zweiten Kuba. In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre verlagerte
sich die ideologische Kriegführung der kolumbianischen Regierung nach Maßgabe des Pentagon
auf den "Kampf gegen die Drogen". Nach der Zerstörung der wichtigsten Kokainkartelle in
Medellín und Cali, die zunehmend eigene Wege jenseits der CIA-Connection bevorzugt hatten,
wurden kurzerhand FARC und ELN als Drogenguerillas bezeichnet. Gegen die
Kokavernichtungspolitik der Regierung richteten sich seit 1996 viele Streiks der
Bauernorganisationen, die seit einigen Jahren von einer wachsenden Studierenden- und
Friedensbewegung unterstützt werden. Das anwachsende Verlangen des kolumbianischen Volkes
nach Frieden führte zu neuerlichen Verhandlungen mit den FARC-EP und im Januar 1999 zur
Schaffung einer entmilitarisierten Zone. Dort wurden drei Jahre lang Verhandlungen über einen
Frieden geführt, der nach Ansicht der Aufständischen allerdings nur mit sozialer Gerechtigkeit
und einer Bekämpfung der Paramilitärs erreichbar ist. Die Clinton-Regierung bewilligte daraufhin
über zwei Milliarden Dollar für den "Kolumbienplan", der faktisch der Vernichtung der
Aufstandsbewegungen dient, um somit Störfaktoren bei der Hegemonie über ganz Amerika
auszuschalten. Der Kolumbienplan ist somit die militärische Absicherung des ökonomischen
Projekts ALCA, einer Freihandelszone für Amerika, die schon George Bush sen. durchsetzen
wollte. Die Europäische Union, die als zweiter Geldgeber für den Kolumbienplan gedacht war, gab
ihre Vorbehalte gegen das Kriegsprojekt erst nach der Auflösung der entmilitarisierten Zone im
Januar 2002 auf, als die Sprachregelung des Weißen Haus, die Aufständischen kurzerhand zu
Terroristen zu machen, sich auch in anderen Teilen der Welt durchgesetzt hatte. Ein weiteres
Mal wurden Versprechungen nicht umgesetzt, und das kolumbianische Militär bombardierte und
besetzte die Zone.
Präsident Andrés Pastrana, der 1998 mit der Ankündigung von Friedensgesprächen die Wahlen
für die Konservative Partei gewonnen hatte, ist der vierzehnte Präsident, der den FARC den
Krieg erklärte und sein Nachfolger, der am Sonntag gewählt wird - ob der parteilose Álvaro
Uribe, der einen kompromisslosen Krieg gegen die Aufständischen befürwortet, oder der Liberale
Horacio Serpa, der Pastrana vor vier Jahren unterlegen war -, wird das Gleiche mit nicht mehr
Erfolg tun.
Die Linke hat inmitten einer weiteren Mordwelle gegen Gewerkschafts- und PCC-Mitglieder unter
Federführung der PCC das Bündnis Sozialpolitische Front (FSP) gebildet, das bei den
Parlamentswahlen im März erste Erfolge errang. Am 26. Mai wird Luis Eduardo Garzón für die
Präsidentschaft kandidieren, die Gewerkschaften haben ihre Unterstützung signalisiert.
Günter Pohl
Den Artikel haben wir der Wochenzeitung "unsere zeit", 24. Mai 2002, entnommen.
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