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"Kolumbien hat keine Demokratie"

Regime verleumdet jede Opposition als terroristisch. Gespräch mit Francisco Tolosa *


Francisco Tolosa wurde bei dem Kongreß in Bogotá in den Patriotischen Nationalrat gewählt.


Ein Bündnis dieser Breite hat es in Kolumbien lange nicht gegeben. Worin bestehen die Kernideen des Marcha Patriótica?

Der Marcha Patriótica ist 2010 aus einer alternativen Veranstaltung zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit Kolumbiens entstanden. Es gab damals viele Gespräche und offene Zusammenkünfte verschiedenster Personengruppen auf dem Land und in den Städten. Als der Jahrestag vorüber war, gingen die Diskussionen weiter, und wir beschlossen, uns als gesellschaftliche und politische Organisation zu konstituieren. Im Mittelpunkt steht, daß Kolumbien eine echte Unabhängigkeit braucht, eine zweite Unabhängigkeit, wie wir sagen. Nach dem Tod Simón Bolívars 1830 haben in Kolumbien oligarchische Gruppen die Macht ergriffen. Seither ist der Reichtum des Landes in wenigen Händen konzentriert, es gibt keine Demokratie. Die Oligarchie ist offen mit dem transnationalen Kapital verbunden. Politik und Kultur dienen ausschließlich ihm und sind auf Nordamerika und Konsum ausgerichtet. Die Politik folgt dem State Department und dem Diktat aus Washington. Das ist neokolonial. Wir lehnen das ab. Wir streben ein wahrhaft souveränes und unabhängiges Land an.

Von welchen Kräften wird dieser Prozeß hauptsächlich getragen?

Ich glaube, die wichtigsten Kräfte sind die gesellschaftlichen Organisationen. Das unterscheidet uns von vielen anderen linken und demokratischen Formationen. Zwei Gruppen bildeten beim Aufbau unser Rückgrat. Das ist zum einen die Bewegung auf dem Land, die schon während des Krieges heroisch Widerstand geleistet hat, und zum anderen die Jugend und Studenten, welche die Hoffnung für eine bessere Zukunft des Landes sind. Nachdem der Marcha sich gebildet hat, werden Stadtteilkomitees, schwarze und indigene Gemeinschaften, die Umweltbewegung, Frauen, Künstler, queere Gruppen und viele andere zu dem Veränderungsprozeß beitragen. Die bäuerlichen Gruppen bilden eine sehr starke Kraft. An zweiter Stelle kommt sicherlich die Organisierung an den Universitäten. Eine wichtige politische Kraft ist die Liberale Linke von Piedad Córdoba. Aktiv sind auch die Gruppen des Demokratischen Pols wie die Kommunistische Partei. Aber noch einmal: Die wichtigsten Protagonisten sind die gesellschaftlichen Gruppen. Auch die Liberalen, die Kommunisten, die Sozialisten, Unabhängige etc. beteiligen sich im wesentlichen über diese Basisorganisationen. Von kleinen lokalen Gruppen bis zu riesigen landesweiten Gewerkschaften sind bisher rund 1400 Organisationen registriert.

Welche Hindernisse gilt es zu überwinden?

Eine Schwierigkeit ist, daß es in Kolumbien keine echte Demokratie gibt. Das beginnt bei den Medien. Wir werden ständig stigmatisiert. Insbesondere in ländlichen Gegenden übt das Militär Repressalien aus. In den Städten werden wir bedroht und zuweilen physisch verfolgt. Wir bitten deshalb alle Freunde des Friedens und der Demokratie in Lateinamerika, daß sie sich öffentlich für grundlegende Garantien für den Marcha Patriótica aussprechen. Wir verlangen, daß wir unser demokratisches Recht wahrnehmen und öffentlich unsere Vorstellungen vermitteln können.

Die Rechte bezeichnet den Marcha als Instrument des Terrorismus.

Die kolumbianische Oligarchie erklärt jeden zum Kommunisten und Terroristen, der nicht mit eingezogenem Kopf umherschleicht. Alle, die sich für eine Agrarreform, für ein echtes Wahlrecht, für wirtschaftliche Souveränität und Nahrungsmittelautonomie einsetzen, sind für die Rechte Terroristen. Der frühere Präsident Álvaro Uribe hat sogar die Telefone von Richtern am höchsten Gericht abhören lassen, weil sie Terroristen gewesen sein sollen. Die Oligarchen sind zu einer wissenschaftlichen und politischen Debatte nicht in der Lage. Wir hoffen, daß der Marcha auch dazu beiträgt, z. B. eine öffentliche Diskussion über Landfragen im Fernsehen zu zeigen.

Stellen Sie sich einmal den Marcha Patriótica in fünf Jahren vor. Was sehen Sie da?

Ich hoffe, daß wir in fünf Jahren dabei sind, ein neues Projekt aufzubauen. Ich stelle mir vor, daß wir die Verbindungen mit den gesellschaftlichen und Massenbewegungen vertieft haben, um gemeinsam den kolumbianischen Staat zu verändern. Ob wir in fünf Jahren die Macht ausüben, ist eine andere Sache. Unser Ziel ist die Veränderung des Staates. Wir gehen davon aus, daß die Entwicklung der offenen Räte fortgeschritten sein wird, und wir wollen mindestens eine Million Mitglieder in unseren Reihen zählen.

Wird sich der Marcha auch an Wahlen beteiligen?

Der Marcha ist nicht als Wahlbündnis gegründet worden. Er ist ein gesellschaftlicher Zusammenschluß, obwohl wir Mitglieder mit parlamentarischer Erfahrung haben. Er ist ein Aktionsbündnis, das Menschen mobilisieren soll. Wenn die Zeit kommt, werden wir auch über die Teilnahme an Wahlen diskutieren. In fünf Jahren aber soll vor allem das neue Projekt, der Weg zur zweiten, echten Unabhängigkeit, weiter fortgeschritten sein.

Interview: Sven Köhler

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 25. April 2012


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