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Die Armee der Wehrlosen

2,9 Millionen Menschen sind in Kolumbien vor den bewaffneten Auseinandersetzungen auf der Flucht. Nach über vier Jahrzehnten Bürgerkrieg ist die Gewalt ein fester Bestandteil der Gesellschaft

Von Nancy Garín, Bogotá*

Fanny und Israel leben nun schon seit acht Jahren in der Umgebung von Sogamoso, rund 150 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bogotá im Verwaltungsbezirk Boyacá. Im Tourismusgeschäft wirbt die örtliche Verwaltung mit dem Slogan »Sogamoso – Stadt der Sonne«. Doch es gibt auch Schattenseiten: Die Stadt ist ein Anlaufpunkt für Menschen, die vor den Auswirkungen des bewaffneten Konfliktes in den umliegenden Regionen geflohen sind. Zu ihnen gehört das junge Paar. Nach acht Jahren in der Stadt haben sich Fanny und Israel noch immer nicht an die klamme und kalte Morgenluft auf 3000 Meter gewöhnt. Das Klima in der Hochebene unterscheidet sich erheblich von der ständigen Schwüle in den Llanos, den weitläufigen Grasebenen im Tiefland, rund 800 Kilometer östlich an der Grenze zu Venezuela. »Dort gab es aber keine Arbeit«, sagt Fanny. »Schon vor uns hatten deswegen viele Menschen das Dorf verlassen, und ständig kamen neue Flüchtlinge, die ihre Heimatorte aus Angst vor tagtäglichen Kämpfen verlassen hatten«.

Arbeitslosigkeit und Armut sind die hauptsächlichen Konsequenzen der massiven Flüchtlingsbewegungen in Kolumbien. Diese wiederum sind eine direkte Folge des Bürgerkrieges, der vor 56 Jahren mit dem Mord an dem charismatischen Sozialreformer Jorge Eliécer Gaitán begann. Nach dem Anschlag wurde Bogotá 1948 von einem tagelangen Volksaufstand erschüttert. Aus dem »Bogotazo« gingen die ersten, noch an der linksliberalen Bewegung orientierten Guerillaorganisationen hervor. Diese Gruppen waren in gewisser Weise die Vorläufer der »Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens« (FARC), der heute einflußreichsten Guerillaorganisation im Land. Erstmals organisierten sich in der 1964 offiziell gegründeten Organisation auch Kleinbauern, um sich gemeinsam gegen die permanenten Angriffe der Großgrundbesitzer wehren zu können. Zwar halten deren Aggressionen bis heute in unverminderter Härte an, doch sind die Bauern, die nicht in der Guerilla organisiert sind, müde geworden, sich ständig zur Wehr zu setzen. Die Menschen in Kolumbien schauen auf Jahrzehnte brutaler Auseinandersetzungen zurück. Schon in den siebziger Jahren waren die Konfrontationen eskaliert. Damals erhielt die Guerilla massiven Zulauf, und vor allem die Regierung unter Turbay Ayala reagierte mit einem hemmungslosen Staatsterror. In den achtziger Jahren dann entstanden mafiose Strukturen, die Staat und Drogenkartelle verbanden. Seit Beginn der neunziger Jahren läßt der kolumbianische Staat paramilitärische Gruppen frei gewähren. Diese Entwicklung erreichte mit der Präsidentschaft von Alvaro Uribe Vélez ihren vorläufigen Höhepunkt. Während seiner Regierung wuchst die Zahl der paramilitärischen Verbände der Reaktion auf mehr als zehn an.

Ausweg in den Krieg

Fanny und Israel sind zwei der geschätzten 2,9 Millionen Binnenflüchtlinge in Kolumbien. Diese Zahl stammt von der Regierung, Menschenrechtsorganisationen gehen von weit mehr Betroffenen aus. Fluchtgründe sind entweder direkte Kampfhandlungen oder die aus dem Krieg entstehende wirtschaftliche Not. Allein in den Familien des jungen Paares sind zwei Todesopfer zu beklagen. Fanny berichtet von ihren Erfahrungen aus der Zeit, als sich eine FARC-Einheit aus ihrem Dorf zurückzog. Einige Tage danach sei die Armee auf den Ort vorgerückt. »Die Soldaten gingen zum Haus meiner Schwester. Ohne ein Wort zu fragen, traten sie die Tür ein und erschossen sie und meine Nichte«, sagt die junge Frau. Die Soldaten vermuteten, daß ihre Schwester die Guerilla unterstützt hatte. Solche »Morde auf Verdacht« gibt es in Kolumbien oft. Generell betrachtet, versucht jede der militärischen Gruppen – die Guerillaorganisationen FARC und ELN (Nationale Befreiungsarmee) die Paramilitärs der »Vereinigten Selbstverteidigung« und die offizielle Armee – die Zivilbevölkerung auf ihre Seite zu bringen. Oft geschieht das mit Zwang. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge verlassen jeden Tag über 150 Familien ihr Land, um der Gewalt zu entkommen. Junge Männer kommen aber nie umhin, bei einer der militärischen Gruppen den Dienst an der Waffe leisten. Entweder werden sie dazu gezwungen, oder sie lassen sich freiwillig darauf ein, weil es die einzige Chance auf ein geregeltes Einkommen und Nahrung ist. Alle drei »Armeen« zahlen einen Sold, stellen Verpflegung, Kleidung und Waffen. Gerade für die einfachen Bauern, unterernährt und von ihrem angestammten Land vertrieben, bleibt oft keine andere Möglichkeit, als sich einer der Gruppen anzuschließen.

Flucht zum Schutz der Familie

Juan, ein Bauern aus dem Gebiet Magdalena Medio im Nordosten Kolumbiens, lebt mit seiner Familie in einem Flüchtlingslager. Aus seinem Dorf Pueblo Nuevo ist er geflohen, um seine Kinder zu schützen. Das Lager will er lieber nicht verlassen, »denn viele, die herausgegangen sind, haben wir nie wiedergesehen«. Zahlreiche Flüchtlinge außerhalb des Lagers seien ermordet worden. »Es heißt, daß die Paramilitärs so Rache an uns nehmen, weil wir sie nicht unterstützen wollen«, sagt der Familienvater. Wenige Tage vor dem Gespräch wurde nahe Pueblo Nuevo ein achtzig Jahre alter Mann tot aufgefunden – erschossen. »Kurz davor hatten sie bereits einen anderen Mann getötet, etwa in meinem Alter«, sagt Juan. Auf ihre Felder wollen er und die anderen Familien in dem Lager daher nicht zurückkehren. Zu groß ist die Angst vor einem Überfall der paramilitärtischen Gruppen. Diese organisieren oft Stoßtrupps, um neue Kämpfer zu zwangsrekrutieren. »Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen«, sagt der Mann, »schließlich trage ich die Verantwortung für meine Kinder«.

Marta, eine 50jährige Frau aus dem Gebiet Chocó, pflichtet ihm bei. »Wir verstehen die Gründe (für den bewaffneten Konflikt) einfach nicht«, sagt sie. Alle Gruppen behaupteten, den Menschen helfen zu wollen. »Am Ende aber sind wir immer die Opfer«, beklagt die Frau. Der Chocó ist eine der von Vertreibungen am stärksten betroffenen Regionen in Kolumbien. Allein aus Martas Dorf flohen während schwerer Gefechte fast drei Viertel der Einwohner. Dann kamen die Paramilitärs. »Sie fragten uns, was wir über die Guerilla in dieser Region wüßten«, erinnert sich die Frau. »Weil ich an einem Stuhl gefesselt war, mußte ich zusehen, wie sie meinen Mann folterten«. Sie habe die Soldaten gebeten, doch sie zu verhören und von ihrem Mann abzulassen. »Plötzlich war es still in dem Raum. Mein Mann war tot«.

Ende der neunziger Jahre kontrollierte die FARC-Guerilla gut 30 Prozent des Territoriums Kolumbiens. Seither haben auch rechte Paramilitärs massiv aufgerüstet. Heute kontrollieren Guerilla und Paramilitärs fast die Hälfte des kolumbianischen Staatsgebietes. Gerade einmal die großen Städte sind von den Konflikten bislang verschont geblieben. Daß der bewaffnete Konflikt besonders auf dem Land stattfindet, hat soziale Ursachen. In Kolumbien hat nie eine Modernisierung stattgefunden, geschweige denn eine Landreform. Auch im Jahr 2004 existierten in dem südamerikanischen Land noch quasi feudale Besitzverhältnisse. Nach Auffassung von Flor Edilma Osorio und Fabio Lozano von der Organisation desplazados.com handelt es sich bei den militärischen Auseinandersetzungen in Kolumbien maßgeblich um einen Konkurrenzkampf zwischen ökonomisch starken und schwachen Akteuren. Sie versuchten, sich mittels Waffengewalt und Paramilitärs »Bodenrechte« zu sichern. Es ginge dabei nicht nur um agrarwirtschaftliche Interessen. Kolumbien ist reich an Bodenschätzen – auch an Erdöl.

Folgen des »Plan Colombia«

Ein weiterer Grund für die massenhaften Fluchtbewegungen in Kolumbien sind die staatlichen Aktionen gegen den Anbau von Koka- und Mohnpflanzungen. Mit Flugzeugen werden ganze Landstriche aus der Luft mit Herbiziden besprüht. Die Verantwortlichen gehen dabei brutal vor. Allein im Jahr 2002 sollen nach Angaben der »Beratungsstelle Menschenrechte und gewaltsame Vertreibung« (CODHES) durch diesen Gifteinsatz knapp 40000 Menschen vertrieben worden sein – 15 Prozent der gesamten Flüchtlingsbewegung in jenem Jahr. Am meisten betroffen waren die Regionen Norte de Santander (13571 Personen), Caquetá (10956), Putumayo (10813), Guaviare (1528), Narińo (1476) und Meta (1053). Nach offiziellen Angaben wurden im Jahr 2002 129 125 Hektar Land mit Koka-Pflanzungen aus der Luft mit Herbizid besprüht, hinzu kamen 3 342 Hektar mit Mohnpflanzen.

Nach Angaben des US-Außenministeriums, das die Besprühungen gegen alle Kritik von Menschenrechtsorganisationen durchsetzt, leben 150000 Menschen in Kolumbien vom Anbau sogenannter illegaler Pflanzen. Seit Beginn der Besprühungen Anfang der neunziger Jahre wurden bereits 80000 Menschen durch den Gifteinsatz vertrieben. Einer von ihnen ist Leonel. Auch er stammt aus dem Chocó-Gebiet an der Pazifikküste. Um sich und seine Familie ernähren zu können, mußte er den Gemüseanbau einstellen und Koka anbauen. »Ich habe immer nur ein bißchen angepflanzt«, sagt er, »nur soviel, daß wir überleben konnten«. Vom Gemüseanbau war das nicht möglich, »denn die Bauern bekommen kaum etwas, das meiste kassieren doch die Zwischenhändler«. Als seine Kokapflanzen entdeckt wurden, besprühten Armeeflugzeuge das Gebiet mehrmals mit Gift. Als dann noch die Armee anrückte, mußte Leonel mit seiner Familie Hals über Kopf fliehen. Dabei verlor er einige seiner Angehörigen aus den Augen. »Beim Aufbruch waren fast alle von uns schwer krank«, erzählt er – Nachwirkungen des Giftes. Mit seiner Frau und einer Tochter gelang ihm die Flucht. Wo der Rest der Familie ist, weiß Leonel nicht.

In den offiziellen Flüchtlingsstatistiken werden Leonel und seine Familie nicht erwähnt: Menschen, die vor den Giftbesprühungen fliehen, um nicht ihre Leben und das ihrer Familien zu gefährden, werden im offiziellen Sprachgebrauch als »freiwillige Migranten« bezeichnet. Nach Ansicht des CODHES spricht diese Bezeichnung und der Umgang mit diesen Vertriebenen der Realität des Krieges in Kolumbien Hohn. »Die Besprühungen werden doch damit begründet, daß den bewaffneten Gruppen die Einkommensquelle genommen werden soll«, heißt es in einer Erklärung des Menschenrechtszentrums. Sie stünden damit klar im Kontext des andauerndes Krieges. Indem die so Vertriebenen aber nicht als Flüchtlinge anerkannt werden, bliebe ihnen auch jegliche Unterstützung des Staates vorenthalten.

Die schlimmsten Konsequenzen hat nach wie vor der Krieg selbst. In der Sierra Nevada de Santa Marta etwa sind ganze Täler von Paramilitärs abgeriegelt worden. Menschen und Waren werden weder herein noch heraus gelassen, weil die rechten Gruppen in den Tälern Einheiten der Guerilla vermuten. In dem Dorf Arguaca leiden Hunderte Menschen seit Beginn der Blockade vor einem Jahr an Krankheiten und Hunger. Die Regierung bleibt untätig, als sei sie direkt mit den rechten Banden verknüpft. Doch selbst wenn den Bewohnern von Arguaca die Flucht gelänge; sie gingen in eine ungewisse Zukunft. »Zu dem Verlust des Bodens und damit der wirtschaftlichen Grundlage kommt der Rassismus und die Diskriminierung, unter der die Flüchtlinge in den Städten leiden müssen«, sagt Pedro Santa von der Nichtregierungsorganisation Viva la Ciudadania. Die kolumbianische Gesellschaft habe sich gegen das Elend abgeschottet, »sie ist einfach nicht in der Lage, diese immense Armee der Wehrlosen« zu integrieren. Die einzige Hoffnung für die Millionen Flüchtlinge in Kolumbien ist ein Ende des Krieges. Nur so könnten sie in ihre Häuser und auf ihre Felder zurückkehren.

Zur brutalen Realität der kolumbianischen Politik gehört es aus, daß gerade die Eskalation der Gewalt Präsident Uribe als Begründung für seine »Politik der harten Hand« dient. Während die Städte zu regelrechten Festungen ausgebaut werden, leidet die Bevölkerung auf dem Land immer stärker unter dem ausufernden Konflikt. Daß der ohne die von der Guerilla geforderten Sozial- und Bodenreformen nicht beendet werden kann, will das Regime in Bogotá nicht hören. Seit seiner Wahl vor vier Jahren setzt Uribe, dessen Großgrundbesitzerfamilie enge Kontakte zu paramilitärischen Strukturen nachgesagt werden, auf eine militärische Lösung. Diese droht nun Auswirkungen auch über die Landesgrenzen hinaus zu haben. So wurden hochrangige FARC-Mitglieder sowohl im benachbarten Ecuador als jüngst auch in der venezolanischen Hauptstadt Caracas von Spezialkommandos entführt. Die Konsequenzen einer solchen Kriegspolitik, die nur durch die Rückendeckung Washingtons möglich wird, sind nicht abzuschätzen. Das ist vor allem tragisch, da politische Lösungen verhindert werden. So war das FARC-Führungsmitglied Simón Trinidad zum Zeitpunkt seiner Festmnahme Ende 2003 in Ecuador damit beauftragt, ein Treffen mit Vertretern des UN-Generalsekretärs Kofi Annan vorzubereiten. Vor wenigen Wochen wurde er nach seiner Verschleppung in die USA ausgeliefert.

* Aus: junge Welt (Wochenendbeilage), 15. Januar 2005


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